MIGRATION: Geteilte Vergangenheit

Woran erinnern sich Migrantenfamilien? Und wie geht die Mehrheitsgesellschaft mit deren Erinnerungspraktiken um? Ein neues Buch thematisiert die Brüche zwischen den Erinnerungsräumen Einheimischer und Zugewanderter.

Familie Peruzzi, Esch-Hiehl 1954.

„Nos ancêtres les Gaulois“ – mit seinem ironischen Gebrauch des Spruchs, den im „Hexagone“ jedes Kind in der Schule lernt, löst der schwarze französische Bestsellerautor Gaston Kelman beim Publikum regelmäßig Lachsalven aus, wie kürzlich wieder in Luxemburg zu erleben. Er berührt damit jedoch einen wesentlichen Punkt von kollektiver Erinnnerung. Denn, wie Piero-D. Galloro im soeben erschienenen Band „Migration und Erinnerung“ feststellt: MigrantInnen setzen die Blicke mehrerer Gesellschaften nebeneinander. Doch die Aneignung der Geschichte der Ankunftsgesellschaft bleibt ihnen meist versagt, sogar in der zweiten Generation, während die ihres Ursprungslandes devalorisiert wird.

„Luxemburg stellt ? einen interessanten Kasus dar für die vergleichende Betrachtung der Frage, welcher Platz dem Fremden in der nationalen Erinnerungskultur eingeräumt wird.“ So schreibt Elisabeth Boesen in der Einleitung zu dem von ihr und Fabienne Lentz herausgegebenen Band, der die Beiträge zu einem internationalen Wissenschaftstreffen wiedergibt. Migration ist mittlerweile, wie überall in Europa, zum „Gegenstand nationaler Erinnerung“ avanciert. Doch obwohl Luxemburgs Geschichte tiefgreifend von Emigrations- und Immigrationsprozessen geprägt ist, sind die Luxemburger Veröffentlichungen zu diesem Thema keineswegs zahlreich.

„Migration und Erinnerung“ hilft, diese Lücke zu füllen. Das Buch handelt von der spannenden Frage, ob, und falls ja, wie Migrationsgeschichte in die nationalen Geschichtsdiskurse aufgenommen wird und welche Erinnerungsräume sich umgekehrt Migrantinnen und Migranten in ihrem Ankunftsland schaffen. Fabienne Lentz verweist dabei auf die Spezifizität der italienischen Erinnerung in Luxemburg, bei der sich wenig Divergenz zwischen privatem und öffentlichem Diskurs offenbart – was sie damit erklärt, dass diese Migrationsgeschichte als „gelungen“ und als wenig konfliktbehaftet erlebt wird. Sophie Schram zeigt am Beispiel des Viertels „Italien“ in Düdelingen, wie Frauen unterschiedlicher Nationalität bzw. Herkunft auf der Grundlage des gemeinsamen „Erlebens“ eines Quartiers einen neuen, wenn auch fragilen Erinnerungsraum schaffen.

Angela Kühner, die untersuchte, wie deutsche Jugendliche mit Migrationserfahrung mit der Geschichte des Holocaust umgehen, unterstreicht: „Erinnern ist eng mit Zugehörigkeit verbunden, und gerade im Kontext kollektiver Erinnerung wird systematisch ein Subjekt der Erinnerung („Wir“) in Abgrenzung von den jeweils Anderen der Erinnerung („Die“) produziert.“ In diesem Sinn ist kollektives Erinnern dann auch Erinnerungspolitik: „Wer fordert in wessen Namen das Erinnern – oder Vergessen – welcher Ereignisse und welche Interessen, Wünsche und Befürchtungen sind daran geknüpft?“ Für Claudia Lentz geht es deshalb darum, „die bestehenden Grenzen von Vorstellungen geteilter Vergangenheit und daraus abgeleiteter Zugehörigkeit aufzuzeigen – und zu erweitern.“

Boesen, Elisabeth / Lentz, Fabienne (Hg.): Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung / Migration et mémoire : concepts et méthodes de recherche. Berlin, Lit, 2010.


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