GEMEINDEPOLITIK: Mangelware Zeit

Warum ist Gemeindepolitik so unattraktiv? Und weshalb engagieren sich nicht mehr Bürger auf Gemeindeniveau? Die woxx fragte in Roeser nach, einer Luxemburger Randgemeinde.

Ein neues Gemeindehaus für die rund 5.500 Roeserbänner.

Auf der Landkarte wirkt das Gemeindeareal, bestehend aus den sieben Dörfern Berchem, Bivingen, Crauthem, Kockelscheuer, Livingen, Peppingen und Roeser, wie ein großer überdimensionierter Baum. Stilisierte Bäume und ein Flusslauf bilden denn auch das Logo der Roeserbänner. Mit ihrer Lage zwischen Bettemburg und Hesperingen ist die Gemeinde Roeser nach wie vor eine Ortschaft im Grünen. Jedoch hat ihre Position als Rand- und Einzugsgebiet der Stadt Luxemburg ihr Gesicht stark verändert: In den letzten 25 Jahren hat Roeser eine starke demografische Entwicklung durchgemacht. Von 3.000 Bewohnern in den 80er Jahren ist die Gemeinde auf 5.500 Einwohner angewachsen. Zwar verfügt sie nach wie vor über rund 2.100 ha Grünflächen und Waldgebiet, doch haben die Entwicklungen, wie in vielen Gemeinden, die im Einzugsgebiet der Stadt Luxemburg liegen, ihre Spuren hinterlassen: Mehrfamilienhäuser, von profitorientierten Baulöwen errichtet, architektonisch in kompletter Diskrepanz mit der umliegenden alten Bausubstanz, bilden abgetrennte Wohnquartiere. Es fehlt an Dorfplätzen und an der vielbeschworenen urbanen Einheit mit Geschäften und Cafés.

Trotz der baulichen Erweiterung reicht der vorhandene Wohnraum auch in der Gemeinde Roeser nicht aus. « Die Kinder eingesessener Familien müssen in die Nachbargemeinden ziehen, da Roeser nicht über genug Bauland verfügt », stellt Renée Quintus-Schanen, Schöffin der Gemeinde Roeser fest. Dabei hat das Wachstum der Bevölkerung nicht nur einen Einfluss auf die infrastrukturelle Entwicklung der Gemeinde, die benötigten Schul- und Kinderbetreuungsplätze usw., sondern auch längerfristig auf die Gemeindepolitik: Einerseits schrumpfen die alteingessenen Familien, die sich noch stärker mit der Gemeinde verbunden fühlen, andererseits nimmt die Anzahl der zugezogenen Bewohner zu, die in Luxemburg Stadt arbeiten. Rund 90 Prozent der Roeser arbeiten auswärts. Roeser verfügt zurzeit über rund 1.500 Arbeitsplätze auf dem eigenen Territorium, von denen einige mit Grenzpendlern besetzt sind, die etwa in der Aire de Berchem arbeiten. Roeser entspricht somit nicht den Vorstellungen der Landesplanung, die anstrebt, dass Bürger dort leben, wo sie auch ihr Einkommen erarbeiten. „Dieser demografischen Entwicklung müsste finanziell stärker Rechnung getragen werden“, fordert Tom Jungen, Bürgermeister der 2.380 ha großen Gemeinde. „Wenn die eine Gemeinde 75 Millionen Euro auf der Seite hat und die andere 30 Milionen Euro Schulden, dann kann das natürlich damit zu tun haben, dass die einen besser gewirtschaftet haben als andere. Es hat aber auch mit einem ungerechten Ausgleich der Finanzen in Luxemburg zu tun.“

Daneben wird es aufgrund der beschriebenen demografischen Entwicklung für die Gemeinden immer schwieriger, Bürger zu finden, die bereit sind, sich zu engagieren. Gemeindepolitik gilt heute oft als wenig attraktiv, und die Zusammensetzung der Gemeinderäte kann kaum als repräsentativ gelten. So liegt der Altersdurchschnitt im Gemeinderat von Roeser bei rund fünfzig Jahren. Der Einzige, der diesen Altersdurchschnitt nach unten drückt, ist Jungen: Mit 32 Jahren hat er im Februar 2008 den Eid des Bürgermeisters geleistet.

Kaum Quereinsteiger

Mit seinen gegelten Haaren und dem Pearcing in der rechten Augenbraue, entspricht Jungen nicht unbedingt dem Bild, was man sich von einem Bürgermeister macht. Ausschlaggebend für sein frühes Interesse an der Gemeindepolitik waren umweltpolitische Fragen. „Mit 16 Jahren habe ich mich für die Gemeindepolitik interessiert, als es um die Industriemülldeponien ging, die auf dem Territorium der Gemeinde Roeser angelegt werden sollten. Dagegen machte die Bevölkerung mobil“ erinnert sich Jungen. Aus dem recht effektiven Bürgerengagement habe er persönlich die Überzeugung gewonnen, dass es nicht reicht, sich nur auf andere zu verlassen. Er ist in die LSAP eingetreten, 1999 ist er zum Gemeinderat gewählt worden und 2001 in den Schöffenrat nachgerückt. Anfang 2008 hat er schließlich als Nachfolger von Arthur Sinner das Amt des Bürgermeisters übernommen. „Ich glaube, dass die meisten, die kommunalpolitisch aktiv sind, vorher in einem Verein engagiert waren“, so Jungen. Quereinsteiger in die Kommunalpolitik hätten es schwer. Auch gehe es den meisten darum, Probleme vor Ort zu lösen und weniger um eine politische Karriere. Gerade weil ein Kandidat den Wählern schon bekannt sein muss, eigne sich die Kommunalpolitik nicht unbedingt als Sprungbrett für den Aufstieg in die Nationalpolitik. Jungen selbst ist zweimal bei den Chamberwahlen angetreten.

Ein weiterer Faktor, der ein politisches Engagement erschwert, sind die langen Arbeitszeiten. Während es früher für einen Betrieb noch ein gewisses Prestige bedeutete, wenn ein Mitarbeiter als Gemeindeberater, Schöffe oder Bürgermeister tätig war, zählt politisches Engagement heute nicht mehr viel. Vereinzelt bekommen Arbeitnehmer sogar Probleme, wenn sie wegen ihres kommunalpolitischen Engagements einen Congé politique beantragen. „Das ist ein Grund, warum es für Arbeitnehmer aus dem öffentlichen Sektor einfacher ist als für Arbeitnehmer aus Privatbetrieben – sei aus dem im Finanzsektor oder aus kleinen Handwerks- oder Handelsbetrieben – in den Gemeinden aktiv zu werden. Letztere müssen mehr Angst haben, ihre Arbeitsstellen zu verlieren“, meint der junge Bürgermeister. Dadurch komme es ungewollt zum Ausschluss einer ganzen Kategorie von Leuten. Tom Jungen, der neben seiner Funktion als Bürgermeister auch hauptberuflich als Gewerkschaftssekretär beim OGBL aktiv ist, hatte diese Pobleme bisher nicht. Sein Arbeitgeber schätzt nach wie vor sein Engagement.

Anhebung des Congé politique

Dennoch glaubt Jungen, dass der Congé politique, selbst nachdem er von 14 auf 20 Stunden pro Woche für den Bürgermeisterposten aufgestockt wurde, zu knapp bemessen ist. „Ich arbeite gemeindepolitisch weit mehr als 24 Stunden pro Woche“, so Jungen. Deshalb kann die Anhebung des Congé politique nur ein Schritt sein. Zudem ist es nicht sachgerecht, die Freistellung nur nach der Einwohnerzahl einer Gemeinde zu berechnen. Denn die Einwohnerzahl allein sagt wenig über über den Arbeitsaufwand aus, der in einer Randgemeinde von Luxemburg Stadt naturgemäß erheblich höher ist als in weiter entfernten Gemeinden. Auch die Schöffen und Gemeinderatsmitglieder haben unter der Zeitknappheit zu leiden. So beträgt der Congé politique des Schöffen 10 Stunden pro Woche. „Wenn wir Donnerstags Schöffenrat haben, dann gehen dafür gut und gerne 8 Stunden drauf“, rechnet Jungen vor. Dazu kommt das Engagement in den interkommunalen Syndikaten, das ebenfalls viel Zeit beansprucht.

Der Zeitfaktor ist jedoch nicht alleine ausschlaggebend für die Realisierbarkeit eines Engagements in der Kommunalpolitik, kaum weniger wichtig ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So wurden die Maisons relais im Ort vergrößert, und eine weitere Crèche befindet sich im Bau. Trotz dieser Verbesserungen bei den Auffangstrukturen leben jedoch nach wie vor viele junge Frauen gemäß dem traditonellen Familienmuster. „Wenn die Eltern nach Feierabend nach Hause kommen und ihre Kinder aus den Betreuungsstrukturen abholen, sind es nach wie vor die Frauen, die sich um die Kinder kümmern“, stellt Jungen fest. Hinzu kommt, dass die Betreuungsstrukturen eher darauf ausgerichtet sind, das Berufsleben vom Familienleben zu entlasten, als umgekehrt. Der Bürgermeister von Roeser ist pessimistisch, dass sich in naher Zukunft hieran etwas ändern wird – etwa in Richtung Arbeitszeitverkürzung.

Nichtsdestotrotz belegt Roeser in puncto politische Präsenz von Frauen einen Spitzenplatz im landesweiten Gemeinderanking: Sechs der 11 Angehörigen des Gemeinderats in Roeser sind Frauen, zwei von ihnen zudem Schöffinnen. Der Bedeutung einer angemessenen Teilnahme von Frauen ist sich Jungen völlig bewusst. Doch hält er es für falsch, diese durch Quoten erreichen zu wollen. „Es müssen weiterhin Anstrengungen gemacht werden, um Frauen zu einem politischen Engagement zu bewegen; dazu gehören etwa Betreuungsstrukturen, jedoch keine künstlichen Instrumente wie Quoten“, glaubt der junge Bürgermeister, der selbst nicht verheiratet ist und auch keine Kinder hat.

Arbeitszeitverkürzung

Optimistisch ist der Bürgermeister dagegen, was die neuen Partizipationsmöglichkeiten anbelangen, die sich durch das neue Wahlrecht für Ausländer aufgetan haben. Für die Gemeinde Roeser ist dieser Punkt von Bedeutung, besteht ihre Einwohnerschaft doch zu 33 Prozent aus Ausländern.

Das Wahlrecht für Ausländer ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur gesetzlichen Gleichstellung, meint Tom Jungen – auch wenn über die Residenzklausel noch einmal diskutiert werden sollte. Doch müssen die Betroffenen ausreichend informiert werden. Daher wurden in Roeser die Einschreibefristen im Gemeindeblatt angekündigt, und in den nächsten Wochen sollen sämtliche Bürger mit ausländischem Pass, die noch nicht auf den Wahllisten eingeschrieben sind, angeschrieben und zu einem Informations- und Aufklärungsabend eingeladen werden.

Aber auch die Jugendlichen werden verstärkt an den Aspekt Gemeindepolitik herangeführt. Die Gemeinde ist ein Thema in der Bürgerkunde, und Schulklassen besuchen regelmäßig das Gemeindehaus. Doch vor allem sollen Kinder und Jugendliche mittels partizipativen Projekten mit den Gemeindeabläufen bekannt gemacht werden. „Der einzige Vorwurf dem man sich als Gemeindeverantwortlicher ausgesetz sieht, ist der der politischen Einflussnahme. Wir haben deshalb den Weg gewählt, mit neutralen Partnern zusammen zu arbeiten“, erläutert Jungen. Als die Schulhöfe, die asphaltierte Betonflächen waren, kinderfreundlicher gestaltet werden sollten, ließ die Gemeinde das nicht einfach durch ein Planungsbüro erledigen, sondern regte eine von Lehrern und Kindern gemeinsam zu erarbeitende Schulhofkonzeption an. Die Gemeinde trug darauf, diesen Wünschen – soweit sie realistisch waren – Rechnung. Ein ähnliches Projekt wurde auch im Jugendhaus durchgeführt. „Es ging darum, Jugendliche einzubinden und ihnen auch das Gefühl zu geben, dass die Gemeinde ihre Vorschläge ernst nimmt und im Rahmen des Machbaren auch umsetzt“, so Jungen.

Projektbezogene Arbeitsweisen eröffnen neue Möglichkeiten auch auf Gemeindeniveau. So sind in Roeser, einer Proporz-Gemeinde, die Kommissionen aus Vertretern der verschiedenen Parteien zusammengesetzt. Arbeitsgruppen bieten gegenüber Kommissionen eine interessante Möglichkeit, Bürger zur Mitarbeit zu bewegen, die nicht in einer Partei engagiert sind. In Roeser wurde im Vorfeld der Planung zur neuen Krippe eine Arbeitsgruppe mit Erziehern zusammengestellt, die praktische Erfahrungen zu derer Konzeption zusammengetragen hat. Arbeitsgruppen können auch eher einen Pluralismus garantieren und verhindern, dass etwa in einer Sozialkommission nur Frauen und in einer Bautenkommission nur Männer vertreten sind. „Die Bürgerbeteiligung und die partizipative Demokratie ist für mich ein wichtiges Element, auch wenn das Leben aus der Sicht des Schöffenrates oder des Bürgermeisters manchmal einfacher wäre, wenn er alleine entscheiden könnte“, so Jungen. In regelmäßigen Abständen organisiert die Gemeinde Roeser Bürgerversammlungen. Es sei durchaus sinnvoll wenn Bürger mittels partizipativen Projekten in Prozesse einbezogen werden und informiert sind, und es schütze die Gemeinde vor später auftretenden Schwierigkeiten.Dennoch müsse der Bürger zuweilen auch ungeliebte Entscheidungen akzeptieren, etwa wenn vor seiner Tür ein Bushäuschen errichtet wird. Letztlich habe man als gewählter Bürger eine Verantwortung im Sinne des Allgemeinwohls. „Das Schöne an der Kommunalpolitik ist vor allem, dass man erlebt, woran gearbeitet wird, und auch am Ende ein Resultat hat“, bilanziert Tom Jungen seine Praxiserfahrung auf Gemeindeniveau.


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