Cécile Lecomte leistet mit spektakulären Kletteraktionen gewaltlosen Widerstand gegen Atommüll-Transporte. Sie legt sich mit Justiz und Polizei an und bleibt ihren Überzeugungen treu.
In der Anti-AKW-Szene ist sie als Eichhörnchen bekannt. Bei zahlreichen Demonstrationen gegen Castortransporte im Wendland sorgte sie durch spektakuläre Kletteraktionen für Aufsehen. Die deutsche Anti-AKW-Bewegung schätzt sie und setzt auf die politische Wirksamkeit ihrer Luftkunst-Aktionen. Von Polizei und Justiz hingegen wird sie gefürchtet. Denn wann immer ein Castortransport ansteht, ist der Eichhörnchenfaktor da, unberechenbar. Welche Art Straftat Céciles Aktionen darstellen, kann bis heute niemand so genau sagen, denn ihren Widerstand leistet sie meist aus der Luft.
Das Eichhörnchen scheint unbezwingbar. Es schlüpft durch Zäune, hängt sich schon mal in einem großen X sechs Meter über den Gleisen auf und baumelt stundenlang in der Luft, um einen Transport mit radioaktivem Müll aufzuhalten. Damit schafft es die 29-jährige Kletteraktivistin nicht nur, im rechtsfreien Raum Widerstand zu leisten. Manchmal bedarf es ganzer Polizei-Spezialeinheiten, um das Eichhörnchen abzuseilen und von den Bäumen oder aus der Luft zu holen.
Beispielsweise beim Protest gegen den Uran-Transport nach Gronau. Céciles Augen strahlen, wenn sie sich daran erinnert. Unter der rot-grünen Bundesregierung war die Anlage seinerzeit genehmigt worden. Der Castor-Transport war für die Anti-AKW-Bewegung Anlass, den Atomkurs der Bundesregierung öffentlich als politische Farce anzuprangern: „Das ist kein Atomausstieg, das ist zu kurzfristig, und die nächste Regierung könnte das wieder in Frage stellen. Was ist denn das für eine Logik, wenn man hierzulande fordert, die AKW abzuschalten, aber Kraftwerke trotzdem weltweit mit Brennstäben beliefert.“ Die Urananreicherungsfabrik in Gronau liefere nach ganz Europa, sogar in die ganze Welt. Schaue man sich die Tabellen des Bundesamtes für Strahlenschutz an, könne man zum Beispiel sehen, dass jedes französische AKW mindestens einmal jährlich mit neuen Brennstäben aus Gronau beliefert wird, erklärt die Aktivistin. Sechs Stunden brauchte die Polizei beim Transport nach Gronau, um Cécile abzuseilen, die in einem selbst gebastelten Gurt aus Gummireifen in einem X zwischen zwei Bäumen über den Gleisen hing. Ein Kletterspezialist musste von weither eingeflogen werden, um das Eichhörnchen aus der Luft zu holen.
Beginnt sie von ihrer politischen Arbeit zu erzählen, die seit 2008 durch Spenden der grünen Bewegungsstiftung finanziert wird, gerät Céciles in Rage. Die Worte sprudeln dann aus ihr heraus, wie bei einem Wasserfall. Der Anfang in Europa sei die Urananreicherung ? da kämen diese Yellow-Cakes ? die würden chemisch angereichert und verarbeitet, und dann entstehe 90% Müll, der aber nie als solcher deklariert werde, sondern als wiederverwertbar gelte, weil es verboten sei, Müll zu exportieren. Sicher könne man da noch etwas rausholen, „man kann zum Beispiel Uran-Bomben basteln“. Auf Google-Aufnahmen könne man sehen, wie diese Fässer in Sibirien vor sich hinrosten. „Das sind hunderttausende von Fässern – eine tickende Zeitbombe“, echauffiert sich die Aktivistin.
Die Nachricht von der drohenden Kernschmelze im Kernkraftwerk in Fukushima versetzte sie in Wut, aber auch in Sorge. „Obwohl es mir immer bewusst war, dass solch ein GAU sich jederzeit ereignen kann, hat es mich ziemlich mitgenommen.“ Vor Anspannung konnte sie nicht schlafen. Dann suchte sie nach genaueren Informationen. Keine Sekunde glaubte sie den offiziellen Verlautbarungen, es sei nicht so schlimm, man werde die Situation in den Griff bekommen. „Die Verantwortlichen wollen die Interessen der Wirtschaft und auch der Atomindustrie wahren, sie wollen Panik vermeiden. Sie haben gar kein Interesse daran, das wahre Ausmaß der Katastrophe bekanntzugeben“, ist sie sich sicher.
Céciles Aktionen zielen darauf ab, öffentlich auf Atommülltransporte und ihre Gefahren aufmerksam zu machen. Im Fall Urenco hat sich der Widerstand gelohnt. Es war ihre Aktion, die das Fass zum Überlaufen brachte. Sechs Monate später gab es noch einen ähnlichen Transport, und die Kletter-Einheit der Polizei fuhr schon im Zug mit, um das Eichhörnchen im Zaum zu halten. Nach diesem zweiten Mal war ziemlich klar, dass die Betreibergesellschaft sich bereit erklären würde, die Transporte einzustellen und die Verträge mit dem russischen Partner nicht mehr zu verlängern. 2009 liefen die Verträge schließlich aus. Politisch unter Druck geraten, sah sich Urenco gezwungen, die Transporte einzustellen. – Ein kleiner Etappensieg auf dem langen und steinigen Weg bis zum Ende der Atommüllverfrachtung.
Céciles Zuhause ist ein hölzerner Bauwagen. Ein gelbes X aus Holzleisten ziert plakativ seine Wand. „Containern“ gehört zu ihrem Lebensstil ? es ist ein Teil ihrer konsumkritischen Haltung. Zwieback, trockene Früchte, Reis, Marmelade ? Produkte, deren Verfallsdaten abgelaufen sind, stapeln sich in dem Regal ihres Bauwagens. „Armut ist keine Frage der Menge, sondern der Verteilung ? die Gesellschaft, in der ich lebe, kann ich nicht wegdenken, aber ich kann zumindest meinen Umgang mit ihr selbst bestimmen, indem ich nicht zur Verschwendung beitrage und keine zusätzliche Nachfrage produziere,“ erklärt Cécile fast ein wenig ideologisch. Das Gelände, auf dem ihr Bauwagen steht, ist von der Stadt Lüneburg gepachtet. Die Erschließungskosten und 50.000 Euro für einen Pachtvertrag von zehn Jahren, haben die Platzbewohner selbst aufbringen müssen. Der Verein Lebenswagen e.V., im April 2010 gegründet, um als juristische Person mit der Stadt zu verhandeln, hat die Struktur einer Kleinwagenkolonie ? ein offenes Feld an der Peripherie von Lüneburg. Cécile ist im Vorstand des Vereins aktiv, um sich auch hier für ihren alternativen Lebensstil einzusetzen.
Céciles Aktionen zielen darauf ab, öffentlich auf Atommülltransporte hinzuweisen.
Die wirtschaftlichen Mechanismen zu verstehen, um das System besser kritisieren zu können, war für Cécile auch der Grund für ihren Entschluss, Wirtschaftswissenschaft zu studieren. Politischer Aktivismus gehörte für Cécile schon früh dazu. Seit 1999 ist sie politisch organisiert, und schon als Gymnasiastin nahm sie an Demonstrationen teil. Im französischen Orléans geboren und aufgewachsen, trat sie schon früh den „jeunes alternatives solidaires“ bei, denen es darum ging, Politik auf der Straße zu machen. Hier begann ihr gewaltloser Widerstand mit kleinen bunten Aktionen und Straßentheater. Die französische Bewegung der „decroissance“, was Cécile mit einem Augenzwinkern als „Schrumpftum“ übersetzt, prägte sie entscheidend. Das sei ja ein eher negatives Wort, das von der Politik geklaut wurde, denn so ein Begriff wie „nachhaltige Entwicklung“ habe in ihren Augen heute keinen Sinn mehr – damit werde ja heute auch für Atomkraft geworben. In Chambéry habe sie damals an sehr vielen Straßen-Aktionen teilgenommen. Zusammen mit anderen habe sie die Leuchtreklamen an den Läden aufgebrochen und falsch zusammengesetzt. Das Licht könne man einfach ausschalten und das Plakat klauen, um auf der Rückseite etwas Schönes zu malen und es dann wieder anbringen. Das waren die ersten Aktionen, die schon ein bisschen mit ihrer späteren Kletterkunst zu tun hatten.
Bereits mit sieben Jahren fing sie an zu klettern, 1997 war sie französische Meisterin im Sportklettern. Ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch verbrachte sie die Ferien immer mit ihrer Mutter in den französischen Alpen. „Wenn man bergsteigen geht, weiß man zumindest im Unterbewusstsein, dass unsere Umwelt wichtig ist und dass man sie bewahren will.“ Klimaschutz sei immer schon selbstverständlich für sie gewesen, deshalb sei sie relativ spät zu Umweltfragen gekommen. Aber erst an der Uni habe sich ihre Konsumkritik und ihr ökologisches Bewusstsein ganz ausgebildet. „Und dann kommt diese Phase, wo du merkst, okay, es ist anscheinend nicht für jeden selbstverständlich, und du solltest versuchen, etwas zu bewegen oder zumindest andere aufzurütteln“.
Die Nachricht von der drohenden Kernschmelze im Kernkraftwerk in Fukushima versetzte sie in Wut.
1999 begann sie ihr Studium in Chambéry. Ihr Erasmus-Jahr 2001/2002 führte sie nach Deutschland. Schließlich schwenkte sie um auf ein Lehramtsstudium. Kinder unterrichten, Jugendliche aufklären, Vorträge zu Konsumkritik und über die Gefahren der Atompolitik halten – das ist bis heute Céciles Ding. Daneben möchte sie durch ihre Aktionen stören, um im Kleinen etwas zu erreichen.
Mit dem Lüneburger Polizeipräsidenten hat sie mittlerweile ihre ganz persönliche Fehde. Auf Youtube kursieren Videos, in denen er sich wutschnaubend über das Eichhörnchen auslässt: „Sie ist krank und verrückt. Sie ist wie eine Maschine. Sobald sie frei ist, klettert sie auf das nächstbeste Ding ? ein Störfaktor, den man unterbinden muss.“ Cécile grinst verschmitzt, wenn sie über ihn spricht. „Ich habe ihn persönlich nie gesehen.“ Doch er ist dafür verantwortlich, dass die Polizei ihr ständig auf den Fersen ist. Der Polizeipräsident ist auch zugleich Castor-Einsatzleiter; wenn ein Zug mit radioaktivem Müll durch die Gegend rollt, obliegt ihm die Aufsicht. Auf ihn führt sie auch zurück, dass man sie 2008 in Präventivhaft nahm. Das sei vorher nie passiert. Dass man sie überwacht, wisse sie oder habe es zumindest vermutet, aber dass sie auf Anordnung von oberster Stelle in Gewahrsam genommen wurde, habe sie dann doch erstaunt. „Da sind teilweise Polizeieinheiten aus Lüneburg, die mich schon länger auf dem Kieker haben, weil ich eben aktiv bin; die suchen immer nach Gelegenheiten, mich anzuzeigen, das ist völlig offensichtlich“, meint Cécile erregt. Aus einer Akte, die sie einsah, geht hervor, dass ihre Festnahme schon sechs Monate im voraus feststand ? sie gelte eben als eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, als ein Störfaktor, den man frühzeitig ausschalten müsse.
Dabei sind ihre politischen Kletteraktionen keinesfalls verbrecherisch. Aber sie sind politisch wirksam und sie verursachen zumindest eine gewisse Verunsicherung. Diesen Effekt will Lecomte auch weiterhin nutzen.
Als sich die Katastrophe im Atomkraftwerk in Fukushima ereignete, war Cécile gerade in Frankreich. Zurück in Deutschland, ging sie auf Demonstrationen, nahm an einer Großdemo in Hamburg teil, wo sie beim Eichhörnchen-Kletterturnier mitmachte. Weitere Demonstrationen und Aktionen sind geplant. Zum AKW Krümmel, das wegen eines Trafobrands seit drei Jahren außer Betrieb ist, ist es nicht weit. Vattenfall will es wieder in Betrieb nehmen, obwohl die Pannenanlage ein Siedewasserreaktor ist, baugleich mit dem des AKWs in Fukushima. Für Lecomte ein Unding und zugleich Ansporn für ihren Aktivismus.
Für sie persönlich ändere die Katastrophe in Japan nicht viel, sie bestätige jedoch die Antiatom-Bewegung in ihrer jahrzehntealten Kritik und zeige, dass sie die vorhandenen Missstände zu Recht anprangert. Für Cécile ist klar, dass sie weiter kämpfen wird. „Für mich ist es ein Unterschied, ob ein Mensch eine gefährliche Handlung vornimmt und dabei sich selbst und vielleicht ein paar andere Menschen gefährdet, wie etwa im Straßenverkehr, oder ob er gleich Millionen Menschen in Gefahr bringt.“
Kurz nach Bekanntwerden des Unfalls in Fukushima hielt sie vor Gericht in Dannenberg ein Plädoyer. Dort wurden ihr Widerstand gegen die Staatsgewalt und Hausfriedensbruch ? begangen bei einem Treffen am Atommüllzwischenlager Gorleben im Sommer 2008 ? vorgeworfen. Es war eine Versammlung von etwa vierzig Anti-AKW-Aktivisten, die das Sommer-Camp dazu genutzt hatten, sich zu treffen, friedlich zu demonstrieren und Ideen zu entwickeln. Das Lager wurde rund um die Uhr von Polizisten bewacht. Bei einem Volleyballspiel hatte das Eichhörnchen eine undichte Stelle im Zaun entdeckt und war hindurchgeschlüpft. Sie wurde zu 20 Tagessätzen verurteilt. Cécile zweifelt die Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes an: „Was ist das schon: im Verlauf einer Straßentheateraktion durch einen Zaun zu schlüpfen, im Vergleich zu den Gefahren der Atomindustrie?“ Cécile zuckt mit den Schultern: „Kriminell bin nicht ich. Kriminell ist in meinen Augen eine menschenverachtende Technologie wie die Atomkraft. Fukushima ist ein Beweis mehr dafür.“
Die Bewegungsstiftung
Gegründet wurde die grüne Bewegungsstiftung 2002 in Berlin von neun StifterInnen, die selbst viele Jahre in sozialen Bewegungen aktiv waren. Auf der Erfahrung aufbauend, dass der Erfolg politischer Aktionen stark von der Höhe der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel abhängt, wollten sie als „Generation der Erben“ Teile ihres Vermögens einsetzen, um soziale Bewegungen zu fördern und gesellschaftlichen Wandel aktiv zu gestalten. Über die Jahre sind mittlerweile über 90 weitere StifterInnen hinzugekommen. Cécile Lecomte ist eine von zehn politischen Aktivisten, die von der Bewegungsstiftung durch Spenden und Paten unterstützt werden.
Link zur Stiftung: www.bewegungsstiftung.de/mitmachen.html