WÄHRUNG, SOLIDARITÄT, WERTE: Euroschmerz

Wenn sogar ein Europa-Enthusiast wie Charles Goerens frustriert Institutionen und Regierungen aufs Korn nimmt, dann muss in der EU einiges im Argen liegen.

Indem sie selber Grundwerte wie Solidarität gering achten, haben Europas Spitzenpolitiker den Feinden der EU das Messer in die Hand gedrückt.

„Ist der europäische Integrationsprozess irreversibel? Ich glaube das noch immer, aber es fällt mir immer schwerer.“ Sollte Charles Goerens zum Euroskeptiker geworden sein? Nicht wirklich, der liberale Europaparlamentarier ärgert sich nur darüber, wie hilflos und ungeschickt die EU mit ihren eigenen Krisen umgeht. Rechtspopulistischer Wahlsieg in Finnland, nordafrikanische Immigration, Bedrohung der Grundrechte in Ungarn ? zu diesen „Phänomenen, welche die Grundfesten einer schlecht vorbereiteten Union erschüttern“ hatte Goerens am vergangenen Montag eine Pressekonferenz einberufen.

Erschüttern könnte im Moment vor allem ein finnisches Veto gegen das Hilfspaket für Portugal. Der Zweifel am Willen und der Fähigkeit der Länder der Eurozone, überschuldete Mitglieder finanziell zu unterstützen, würde noch stärker werden, die Euro-Krise noch tiefer. Die Partei der „Wahren Finnen“ war bei den Wahlen Mitte April sehr erfolgreich mit der Forderung, finanzpolitisch stabile Länder wie Finnland nicht mehr für die schwachen zahlen zu lassen.

Die Absicht, die Solidarität zwischen Euro-Ländern aufzukündigen, wurde allerdings nicht erst in Helsinki laut. „Die Wahren Finnen haben nichts gesagt, das nicht schon vorher in Berlin artikuliert wurde“, erregt sich Charles Goerens. Vier Monate lang habe man seinerzeit grundsätzlich über die Rettung Griechenlands diskutiert, auf eine Art und Weise, „die eher an einen Schwarm Fliegen in einem Glaspokal erinnert als an verantwortliches Leadership“. Bei der Diskussion in Deutschland wird laut Goerens unterschlagen, welche Folgen es hätte, diese Länder in Konkurs gehen zu lassen. Auch in Luxemburg gibt es Erklärungsbedarf: „Viele Leute glauben, wir würden für die Griechen zahlen. Doch wir bekommen zwei Millionen Euro Zinsen für die Darlehen an Griechenland“, so Goerens.

„Die Wahren Finnen haben nichts gesagt, das nicht schon vorher in Berlin artikuliert wurde.“

Ob aber das geliehene Geld am Ende nicht doch futsch ist, weiß allerdings niemand. Und ob die Maßnahmen der Länder der Eurozone wirklich so solidarisch sind, wie das Goerens darstellt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die finnischen Sozialdemokraten, die auch gegen die jetzt vorgesehene Rettungsaktion für Portugal sind, fordern zum Beispiel, die privaten Gläubiger an den Kosten zu beteiligen. Eine solche Regelung soll zwar ab 2013 gelten, doch derzeit wird auf sie verzichtet. Das geschehe, um die Bankenkrise jetzt nicht noch zu verschärfen, heißt es offiziell, doch linke Kritiker sehen darin ein Kuschen vor den Finanzmärkten.

Um Solidarität geht es auch beim Umgang mit den MigrantInnen aus Nordafrika. Im Zuge der Umwälzungen in Tunesien und Libyen versuchen Zehntausende, in die EU zu gelangen. Erste Anlaufstelle ist die weit südlich gelegene italienische Insel Lampedusa. Die, von der italienischen Regierung gewollten, schlechten Aufnahmebedingungen reichten nicht aus, die Menschen abzuschrecken. Nun sollen temporäre Aufenthaltsgenehmigungen einen Teil der Flüchtlinge dazu ermutigen, in andere Länder weiterzuziehen. Daraufhin beschloss Frankreich, an der italienischen Grenze wieder dauerhafte Kontrollen einzuführen – allem Anschein nach in Verletzung der Regeln des Schengener Abkommens über Bewegungsfreiheit. Auch Verhandlungen auf EU-Ebene über eine „Lastenverteilung“ zwischen Italien und den anderen Ländern blieben ohne Ergebnis. Eine Veröffentlichung des Centre for European Policy Studies (CEPS) bezeichnet das Gebaren insbesondere Frankreichs und Italiens als einen „Wettlauf gegen die Solidarität“.

Das Schengener Abkommen abzu-ändern und die Bewegungsfreiheit einzuschränken wäre ein großer Rückschritt

„Wir haben es weit gebracht. Mittlerweile sind die Reaktionen auf die Einwanderung (…) so überzogen, dass sie das Positive an den Umwälzungen in Nordafrika schon fast aus dem Bewusstsein vedrängt haben“, klagt Charles Goerens. Dabei hätten die Jugendlichen und Frauen in Tunis und Kairo für bessere Lebensbedingungen, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Demokratie demonstriert – allesamt Werte, die sich in der europäischen Grundrechtecharta wiederfinden. Goerens bedauert die zögerliche Unterstützung der Demokratiebewegung seitens der EU-Führung. Bei aller Kritik an Berlusconi gehe es auch nicht an, die von solchen Auswanderungswellen betroffenen Länder mit dem Problem allein zu lassen. Die Reaktionen in der EU führten dazu, dass man nun wieder auflöse, was in langen Verhandlungen zusammengefügt worden war. Auch die CEPS-AutorInnen warnen vor dem Vorschlag Frankreichs und Italiens, das Schengener Abkommen abzuändern. Wenn man diesen „nationalistischen und opportunistischen Zielsetzungen“ folge und die Bewegungsfreiheit einschränke, sei dies in Sachen Europäische Integration „ein gewichtiger Schritt rückwärts“.

Vermutlich wäre Goerens nicht so bestürzt über das französische und italienische Verhalten, wenn er den Doppelcharakter des Schengener Abkommens verstanden hätte: Der Bewegungsfreiheit innerhalb des Schengen-Raums steht die massive Abwehr von Einwanderung an seinen Außengrenzen gegenüber. Zum Paradigma einer Festung Europa passen keine Quoten, nach denen Flüchtlinge auf die Länder verteilt werden, denn eigentlich ist Einwanderung unerwünscht – und die Grenzstaaten sind für ihre Abwehr zuständig. Die CEPS-Veröffentlichung dagegen lehnt den Begriff „Lastenverteilung“ in Zusammenhang mit ökonomischer Zuwanderung ab ? die Zuwanderung stelle in Wirklichkeit eine Chance für alle Beteiligten dar.

Doch die von Goerens angeführten Grundrechte, die von den nordafrikanischen Aufständischen eingefordert wurden, sind innerhalb der EU-Grenzen keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Im vergangenen Jahr hatte in Ungarn ein restriktives Mediengesetz für Schlagzeilen gesorgt. Am 18. April dieses Jahres wurde vom Parlament in Budapest auch eine neue Verfassung angenommen, die von KritikerInnen als „Trojanisches Pferd des Autoritarismus“ bezeichnet wird.

Bereits 2004 waren der Grundrechtecharta die Flügel gestutzt worden – vor Gericht sind die Rechte schwer einzuklagen

Zurzeit verfügt die EU nicht über die legalen Mittel, gegebenenfalls in einem Mitgliedstaat die Umgestaltung der Demokratie zur Demokratur zu verhindern. Zwar gibt es die Kopenhagener Kriterien, denen die Beitrittskandidaten genügen mussten und müssen, doch wenn ein Land erst einmal Mitglied im Club ist, können diese Kriterien ungestraft ignoriert werden. Charles Goerens wünscht, dass sich das ändert: „Am Fall Ungarn sehen wir, dass diese Kriterien über die Aufnahme hinaus gelten müssen. Dann hätte die Kommission eine rechtliche Basis, um gegebenenfalls gegen Verstöße vorzugehen.“ Der Europaabgeordnete bedauert, dass die Kommission seinerzeit gegen das ungarische Pressegesetz lediglich eingewandt habe, dass es die Marktregeln verletzt. Der Lissaboner Vertrag gebe nicht genug her.

In der Tat, die Grundrechtecharta, in der sich ein Teil der Kopenhagener Kriterien wiederfindet, ist nicht fest genug in den Verträgen verankert. Zwar verweist ein Artikel des Lissabonner Vertrags auf sie, doch das Vereinigte Königreich und Polen konnten sich ein Opt-out sichern. Im ersten Verfassungsentwurf von 2004 bildete die Charta immerhin einen Teil des Vertrags – aber im Kapitel „Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze? waren ihr auch schon damals die Flügel gestutzt worden – vor Gericht sind die aufgeführten Rechte in direkter Form kaum einklagbar.

Es gibt keinen Grund, an Charles Goerens Europa-Enthusiasmus oder an seinem Glauben an liberale und soziale Grundwerte zu zweifeln. Allerdings betont der Abgeordnete sehr stark das individuelle Versagen der EU-Führungsriege und umgeht die Frage nach der allgemeinen Ausrichtung des europäischen Projekts. Es gilt aber hervorzuheben, dass die neoliberale Logik, die die Idee eines sozialen Europa auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit opfern möchte, weiterhin Konjunktur hat. Vor ein paar Jahren zeigte das letztinstanzliche Urteil zur Entsenderichtlinie, dass die Marktfreiheit derzeit vor der Freiheit, soziale Maßnahmen zu treffen, rangiert: Die europäische Rechtsprechung favorisiert – ebenfalls ungetrübt von der Grundrechtecharta – Lohndumping und Konkurrenz zwischen den Staaten. Auch die Lösung für die jetzige Sinnkrise ist für manche schnell gefunden: Die Kommission plant eine Erneuerung des Binnenmarkts, bei der die Ideen der Bolkestein-Direktive wieder zum Leben erweckt werden.

Die von Goerens angeführten Probleme lassen Zweifel aufkommen, ob die EU fähig ist, den Werten gerecht zu werden, auf die sie sich offiziell gründet. Woher kommen diese Schwierigkeiten? Entstehen sie aus Führungsschwäche, aus Mangel an Überzeugung, oder sind sie vielleicht sogar ein Indiz dafür, dass diese Werte nie mehr waren als nur Fassade? In einigen Jahren wird man es deutlicher sehen.


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