ARBORETUM KIRCHBERG: Orchideen zum Picknick

Das Arboretum, versteckt im toten Winkel der Autostadt Kirchberg, zieht nicht nur Flaneure an. Wer will, kann sich in die Geheimnisse der Botanik einführen lassen.

Orchidee gefunden!
Die einen bestaunen das Pflänzchen, die anderen identifizieren es als Hummel-Ragwurz.

„Charakteristisch für das Ulmenblatt ist die Zähnung und vor allem, dass es unsymmetrisch ist.“ Thierry steht unter dem Baum, hält das soeben abgezupfte Blatt in der linken Hand und fährt mit dem rechten Zeigefinger den Rand ab. Die Teilnehmer an der Arboretum-Führung blicken auf ihre eigenen Blätter: In der Tat, die Form ist leicht zu einer Seite hin geneigt. Dann zeigt Thierry ein Blatt, auf dem eine Art hellgrüne Knospe sitzt. „Eine Galllaus!“, sagt begeistert ein Teilnehmer. Thierry, der die Kirchberger Parkanlagen für das Naturmusée wissenschaftlich betreut, kennt sogar ihren Namen: Colopha compressa. „Es ist der erste Nachweis dieser Gallenart in Luxemburg. Ich habe sie Mitte Mai entdeckt und einem Kollegen, der sich damit auskennt, ein Foto gemailt,“ berichtet der Botaniker stolz. Sein Kollege wiederum habe sich an zwei belgische Experten gewandt, um die Bestimmung bestätigen zu lassen.

In der Besuchergruppe wird darüber diskutiert, ob der Galllaus-Befall für die Ulme gefährlich sei und man etwas dagegen tun müsse. „Sie töten die Bäume nicht, aber sie schwächen sie“, versichert einer der Teilnehmer. Thierry hört gut zu; ausländische Fachleute bei Arboretum-Führungen dabei zu haben, kommt nicht so häufig vor. Die regulären Visiten finden einmal pro Monat am Mittwochabend statt. Dass zwei Dutzend Mitglieder des „Freundeskreises Botanische Gärten der Universität Bonn“ an einem Sonntagnachmittag gekommen sind, stört Thierry nicht ? da ist der Verkehrslärm erfreulich gering. Doch ob sonn- oder werktags, der plötzliche Übergang aus der Betonwüste Kirchberg in die Wald-Oase des „Réimerwee“ überrascht immer wieder. Man überquert eine Straße, stößt 50 Meter in den Park vor, und schon hört man Vogelgezwitscher statt Motorengedröhn, fühlt man sich wie auf einem Waldspaziergang, obwohl man doch zwischen Coque, Auchan, Avenue Konrad Adenauer und Boulevard J. F. Kennedy eingekeilt ist.

Erste Etappe der Besichtigungen ist normalerweise der Parc central, das Areal hinter der Coque. Von dort aus kann man den „kleinen Kirchberg“ besteigen, einen aufgeschütteten Hügel mit Aussichtsplattform. Die deutsche Gruppe ist mit dem Bus angekommen, hat die von Thierry eingelegte Toilettenpause dankbar angenommen. Fortgeschrittenes Durchschnittsalter, gute Kleidung, umgehängte Handtaschen ? man könnte meinen, es handle sich um die Butterfahrt irgendeiner Seniorengruppe … Doch über die Hälfte der Gruppe wählt wie selbstverständlich den besonders steilen Aufstieg von der Südwestseite, der Rest nimmt den Umweg ? unten bleibt niemand. Unterwegs hält der eine oder andere inne, doch nicht etwa um zu verschnaufen, sondern um die am Hügel wachsenden bunten Blumen zu bewundern.

Den Traumzweig erklimmen

Oben auf dem kleinen Kirchberg steht seit kurzem die Holzskulptur „Traumzweig“ mit integrierten Bänken. Doch fast alle Teilnehmer genießen die tolle Aussicht an diesem sonnigen Junitag im Stehen. Während Thierry die Neugestaltung des Kirchbergs erklärt, an der auch der deutsche Landschaftsarchitekt Peter Latz beteiligt war, berichtet mir ein Herr mit Brille und silbrigem Schnurrbart von der Reise des Freundeskreises. Seit vier Tagen sind sie unterwegs, haben in den Vogesen einen Alpengarten und in Nancy den Botanischen Garten, aber auch ein Kupferstich- und ein Jugendstilmuseum besichtigt. Besonders beeindruckt hat ihn der Ausflug in eine Salzpflanzenzone bei Nancy. „Diese Flora ist einzigartig in Europa, dort gibt es zum Beispiel den Queller, die Salicornia maritima, die sonst nur am Meer vorkommt.“ Ein Architekt mit Bart und flacher Mütze schwärmt beim Abstieg von dem, was er soeben gesehen hat: „Das Zusammenspiel von Landschaftsplanung und moderner Architektur ist sehr gelungen.“ Eine Frau erkundigt sich bei mir nach der Sprachensituation in Luxemburg. Keine Frage, die Reiseteilnehmer vom Freundeskreis sind nicht nur körperlich fit, sie sind auch vielseitig interessiert.

Doch nach dem Eintauchen in den schattigen Réimerwee konzentriert sich alles auf Botanik. Das Arboretum, also die Baumsammlung auf Kirchberg, ist den europäischen Beständen gewidmet, erläutert Thierry. Er bleibt vor einer Hainbuche stehen: „Im Unterschied zur Rotbuche, die die gleiche Blattform hat, ist hier der Blattrand doppelt gezähnt.“ Damit die Gruppe das überprüfen kann, zaubert er aus seiner grünen Umhängetasche mit gelbem Stern einen Kasten mit Lupen hervor und verteilt sie. Mit seinem Ohrring und dem über der Jeans getragenen Hemd sieht er anders aus als die Experten vom Freundeskreis, dennoch lassen sich die weniger erfahrenen Teilnehmer gerne von ihm belehren: „Sie müssen die Lupe nahe ans Auge halten, so!“

Von der Galllaus zur Gallmücke

Weiter geht es, über saftiges Gras, von Baum zu Baum. Die Eichenblätter erkennt man auch ohne Lupe, oder? Gewiss, außer denen der südeuropäischen Steineiche, bei denen die charakteristischen Einbuchtungen fehlen ? ihre Form erinnert eher an Lorbeerblätter. „Die Nomenklatur der Pflanzen orientiert sich vor allem an den Blüten und den Früchten, und nicht an der Blattform“, unterstreicht Thierry. Für die Botaniker im Freundeskreis ist das nichts Neues, ihr Interesse gilt exotischeren Phänomenen wie einer Eichengalle ? die sich nicht auf einem Blatt, sondern als Kügelchen an einem Zweig bildet, nachdem eine Wespe ihre Eier unter der Rinde deponiert hat. Für die Laien und den Journalisten sind die „Basics“ schon verwirrend genug: Eichen gehören zur Familie der Buchengewächse, ebenso die Kastanien, bei denen die männlichen Kätzchen aber nach oben zeigen, statt herunterzuhängen … Hören, sehen, staunen. Und: Die Hainbuche ? richtig, die mit den doppelt gezähnten Blättern ? ist gar keine Buche, sondern ein Birkengewächs. „Im Französischen tragen Rotbuche und Hainbuche auch vollkommen verschiedene Namen: hêtre und charme“, erklärt Tierry lächelnd.

Schließlich, nach der Laus und der Wespe, wird auch noch eine Gallmücke entdeckt, genauer gesagt, eine Galle, in der sich die Larve entwickelt, mitten auf einem Buchenblatt. Einer der Experten des Freundeskreises freut sich ganz besonders: Die Augen des ehemaligen Ausbilders für Biologielehrer glänzen, als er darüber philosophiert, aus welchem Grunde man die Gall-Insekten traditionell als Parasiten bezeichnet. Schließlich füge ein Teil der Gallen den Bäumen keinen Schaden zu. Solche Überlegungen, die weit über das Identifizieren von Unterarten und das Rezitieren von lateinischen Namen hinausgehen, erweitern den Horizont der Naturkunde in Richtung Systemtheorie und Philosophie. Die Beschäftigung mit botanischen Details wird zu einer faszinierenden Angelegenheit, wenn sie von weltoffenen Experten wie Thierry oder diesem deutschen Professor im Ruhestand betrieben wird.

Mittlerweile ist es heiß geworden. Zwei Frauen reden über Schuhe, die nirgendwo drücken. „Schwer zu finden.“ Zeit für eine Pause. Thierry hat ein Picknick eingeplant: Die Getränke- und die Proviantkiste werden von seinem Wagen aus hundert Meter in den Park hineingetragen, dann wird verteilt: eine Flasche Wasser, platt oder sprudelig, und ein Brötchen, Käse, Salami oder Schinken, für ganz Hungrige auch zwei. Bänke sind nicht vorhanden, und so essen die meisten im Stehen und genießen den Schatten und das Grün unter den Bäumen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Picknick ist nicht Teil der Standard-Visiten am Mittwochabend. Für A-la-carte-Besichtigungen vorangemeldeter Gruppen ist es aber eine Option, die Thierry auf Wunsch gerne anbietet. Er freut sich wohl über jede Gelegenheit, den Park zu zeigen, der ein bisschen wie sein Garten ist. Fast meint man, er kenne jeden einzelnen Baum, doch das kann wohl nicht stimmen: Seit 1994 wurden über 35.000 Bäume und Sträucher aus über 100 verschiedenen Gattungen auf dem Gelände des Arboretums gepflanzt.

Bestimmen und bewundern

Während der größte Teil der Gruppe zum Nachtisch Obstsalat löffelt und sich unterhält, rutscht der Professor auf den Knien durchs Gras. Hat er was verloren? Nein, er hat eine Orchidee entdeckt! Thierry hockt sich entzückt neben ihn, untersucht vorsichtig die kleinen Blüten. Ist es ein Hummel- oder ein Bienen-Ragwurz? Schnell wird das Bestimmungsbuch aus der grünen Tasche geholt, und bald sind sich die Experten einig: Die Mittellippe ist kürzer als die Seiten-Flügel der Blüte, also handelt es sich um Hummel-Ragwurz, Ophrys fuciflora. Dass die Blüten der beiden Arten den namensgebenden Insekten ähneln, ist kein Zufall: Wie bei vielen Orchideenarten sollen sie die Männchen anziehen, und so die Pollen verbreiten.

Bevor es weitergeht, überreicht der Präsident des Freundeskreises Thierry noch einen „Bonner Teller“, eine Art „Corbeille“ mit Honig, Eierlikör … und Samen zum Kultivieren alter Pflanzensorten! Während die Gruppe zum zweiten Teil der Visite ins Klosegrënnchen hinuntergeht, unterhalte ich mich mit einer Frau, die den Bestimmungsbemühungen aufmerksam zugesehen hat. Besonders gut gefallen hat ihr der Garten in Nancy, doch sie lobt auch die Verbindung von Natur und Kultur auf Kirchberg. Sie nimmt erst seit ein paar Jahren an den Reisen des Freundeskreises teil und schwärmt von den Ausflügen nach Dessau und in die Goldene Aue im Südharz. Botanik, da gebe es so viel zu wissen … „Ich habs schon in der Schule nicht gelernt“, bedauert sie. Trotzdem hört sie den Ausführungen der Experten gerne zu, und wenn es zu kompliziert wird, „schau ich es mir eben nur so an“.

„Eine Patula“, sagt einer, und deutet auf die helllila Blumen mit fünfblättrigen, glockenartigen Blüten. „Campanula rapunculus“, verbessert Thierry und ergänzt: „Deutsche Botaniker, die nach Luxemburg kommen, halten des öfteren die zum Teil seltene Rapunzel-Glockenblume für eine Wiesen-Glockenblume, doch in Luxemburg kommt die Campanula patula gar nicht vor.“ In diesem Teil des Parks duftet es nach Blumen, man hört die Grillen zirpen … und leider auch den Lärm der Autobahn und von Zeit zu Zeit das Getöse eines Hubschraubers, der auf dem nahegelegenen Spital landet.

Pflücken erlaubt?

Der Klosegrënnchen entstand als Nachbildung der ursprünglichen nährstoffarmen Sandböden der Hauptstadtregion ? eine sinnvolle Verwendung des beim Autobahnbau angefallenen Aushubs. Neben den angepflanzten Gehölzen findet sich in diesem Areal vor allem trockenes oder halbtrockenes Grasland ? ideale Bedingungen für selten gewordene Pflanzen, wie den Klappertopf oder den beim Picknick gesichteten Ragwurz. Hier drückt die Sonne stärker, und Thierry nutzt den Schatten einer Zirbelkiefer um zu erläutern, warum und wie diese Flächen gemäht werden müssen. „Leider wird die Beweidung mit Schafen nur in authentischen Naturschutzgebieten durchgeführt.“ Angesichts der beeindruckenden Entwicklung des Klosegrënnchen habe er aber endlich die Entomologen aus dem Museum überreden können, dort Insektenfallen aufzustellen. Und die wurden fündig: Eine Rindenkäferart, die an eine bestimmte Blattflechte gebunden ist, wurde erstmalig nachgewiesen ? beide brauchen genau die mageren, sandigen Böden, wie sie hier geschaffen wurden.

„Oh, Zittergras!“, ruft eine Frau ? gemeint ist die dekorative Grassorte mit hängenden Ährchen, die früher viel häufiger war. „Ich hab` mir welches gepflückt“, sagt die Frau des Professors, „wenn ich mit meinem Mann unterwegs bin, darf ich das nie.“ Ein bisschen verlegen verweist der Professor auf das „naturschützerische Grundprinzip, der Natur nichts unnötigerweise zu entnehmen. „Eine schwierige Frage“, meint Thierry. Bei einer Schulklassen-Führung habe ein Kind ein paar seltene Pyramiden-Orchideen für seine Mutter gepflückt. „Ich war ziemlich wütend, die sind nämlich streng geschützt. Zum Glück gab es noch mehr davon am Standort.“ Naturschützerische Grundprinzipien seien gut, andererseits findet der Botaniker es wichtig, dass die Menschen einen lebendigen Bezug zur Umwelt behalten und zum Beispiel in Form von Wildsalat oder Heilkräutern Nutzen aus ihr ziehen. „Wenn man überhaupt nichts anfassen darf, geht auch die Nähe zur Natur verloren“, argumentiert der Botaniker. Die Gefahr, den Bezug zur Natur zu verlieren, besteht wohl auch für Aktivisten der politischen Ökologie und die Umweltjournalisten, denke ich bei mir; sie sollten sich öfter mal eine „Natur pur“-Erfahrung, wie diese Besichtigung hier, gönnen.

Wenige Meter weiter können wir Thierrys Nutzungsprinzip anwenden: Die Früchte des weißen wie des schwarzen Maulbeerblütenbaums kann man nämlich essen. Sie schmecken wie Gummibärchen, sehen aber aus wie giftige Raupen ? und ohne den Tip vom Botaniker würde wohl kaum jemand zugreifen. Am Parkausgang drängen sich die Teilnehmer noch einmal um Thierry für ein paar letzte Bestimmungen ihrer Mitbringsel. „Der seidige Backenklee ist ein Schmetterlingsblütler“, führt er aus, „solche Stickstoffpflanzen sind an nährstoffarmen Standorten natürlich im Vorteil.“ Dann bedankt sich der Präsident des Freundeskreises herzlich bei Thierry, bedauert, dass man nicht mehr Zeit hatte, und der bunte Haufen verabschiedet sich in Richtung Reisebus.

www.mnhn.lu/arboretum

Die nächste Führung findet am Mittwoch, den 14. Juli im Réimerwee statt. Treffpunkt ist um 18 Uhr an der Bushaltestelle „Campus Uni Luxembourg“ in der rue Coudenhove Calergi.


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