Wie weit wird das Gedachte gelebt und bis zu welchem Ausmaß? Wo endet das Begehren, wo die Verführung und was bleibt, wenn die Masken fallen und der Geschlechterkampf enthemmt ausgefochten wird?
In seinem Dialogstück „Quartett“, das landläufig als eines von Heiner Müllers weniger politischen Stücken gilt, ging es dem DDR-Autor nach eigener Aussage darum, „die Struktur der Geschlechterbeziehungen freizulegen“, denn zwischen den beiden Figuren der Marquise de Merteuil und Vicomte Valmont, ihrem früheren Liebhaber, ist ein erotischer Machtkampf entbrannt.
Ihr einstiges Verhältnis auf Geschlechtstrieb und animalische Lust reduzierend, beginnen die beiden sich gegenseitig anzuspornen. Ihre Opfer: die treue Präsidentengattin Tourvel und die jungfräuliche Nichte der Marquise Volange. So beginnt ein routiniertes Verführungsspiel, das in gegenseitiger Verachtung und schließlich Selbstzerstörung mündet. Diese Szenerie mag antiquiert anmuten, doch Heiner Müllers Dramen sind zeitlos. Sie wirken heute wie vor 200 Jahren, inszeniert als Geschlechterkampf im bigotten aristokratischen Rahmen des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts kurz vor dem Untergang des Ancien Régime oder im Angesicht nuklearer Bedrohungen am Vorabend eines vermeintlichen Dritten Weltkrieges. Denn Müller ging es darum vor dem Hintergrund des Faschismus, die Verwesung der bürgerlichen Gesellschaft in allen seinen Facetten offenzulegen. Dabei waren die Stücke des kritischen Kommunisten, der der DDR bis zuletzt trotzig die Treue hielt, im eigenen Land verpönt, seine utopischen Realitätsentwürfe verpufften oder galten wie sein „Quartett“ gar als pornographisch und anstößig – ein Angriff auf die sozialistische Moral.
Kein Wunder, ist „Quartett“ doch, erst 1981 entstanden auf der Grundlage des Briefromans „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos, der die moralische Verkommenheit des Ancien régime darin anprangerte. Es ist ein erbittertes Wortgefecht, in dem Liebe als brutales Machtspiel einer auf Materialismus gegründeten Gesellschaft entlarvt wird. Gefühle sind reine Illusion. Schönheit und Jugend nur Schein, weil im Keim bereits faul und ohnehin vergänglich: „Ich höre den Schlachtlärm mit dem die Uhren der Welt auf ihre wehrlose Schönheit einschlugen.“ Der Geliebte ist Mittel zum Zweck, dient der Triebbefriedigung und der Bestätigung des eigenen Ichs. Im Gegensatz zu Laclos‘ „Liaisons“, ist Heiner Müllers Bühnenfassung jedoch heiter, sein Stück ist als Klamotte angelegt.
In Stefan Maurers Bühnenadaptation sind es denn auch zwei Männer, die in die Rollen schlüpfen und sie fortlaufend wechseln. Christian Wirmer, der bisher vor allem an deutschen Bühnen tätig war, und der künstlerische Leiter des Kasemattentheaters Germain Wagner liefern sich ein ironisch-rhetorisches Gefecht, das in einer Zwei-Mann-Besetzung wohl nur mit zwei so starken Schauspielern Wirkung entfalten kann.
Übersetzt in die Gegenwart dürfte die Maurersche Inszenierung damit nicht nur stereotype Geschlechter-Machtverhältnisse – auf höchstem schauspielerischen Niveau – entlarven, sondern auch die Arroganz der Luxemburger Intellektuellen, die meinen, mehr darin zu sehen, als das, was es ist: Die Zerstörung romantischer Illusionen, Selbstentfremdung und die Dekonstruktion der (Klassen-)Verhältnisse.
„Quartett“ von Heiner Müller im Kasemattentheater: Letzte Vorstellung an diesem Freitag, dem 3. Februar um 20h.