Barrierefreiheit: Sorry, no access!

Seit 20 Jahren gehen in den Staaten der Europäischen Union am 5. Mai Menschen auf die Straßen, um mehr gesellschaftliche Teilhabe zu fordern. Obwohl Deutschland und Luxemburg die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben, stoßen Menschen mit Behinderung hier im Alltag immer wieder auf Hürden.

„Barrierefreiheit“ lautet in diesem Jahr der Slogan des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. – Ein sperriger Begriff, der ebenso wie das Modewort „Inklusion“ einen Soll-Zustand beschreibt: eine Gesellschaft, in der allen Menschen mit einer physischen oder psychischen Einschränkung die Teilhabe an sämtlichen Lebensbereichen offensteht. Wie das gehen soll? Indem von Anfang an auch an Leichte Sprache, Gebärdensprache, Vorleseprogramme oder Braille-Schrift gedacht wird, an Kommunikationsformen, die auch jenen Menschen zugänglich sind, die nicht lesen können, Lernschwierigkeiten oder eine Seheinschränkung haben oder blind sind. Was noch immer wie ein Märchen klingt, ist eine Forderung, zu der sich zahlreiche Vertragsstaaten der EU im Grunde längst verpflichtet haben, indem sie ein grundlegendes Dokument, die UN-Behindertenrechtskonvention, unterzeichneten. In Deutschland ist dieses universelle Abkommen, dem mittlerweile über 100 Staaten weltweit beigetreten sind, vor gut drei Jahren (März 2009) in Kraft getreten, in Luxemburg, wo es bereits 2007 unterzeichnet worden war, wurde es erst im vergangenen Jahr ratifiziert. Die Umsetzung der in ihm enthaltenen Forderungen verläuft allerdings schleppend … So feierte der Verein der Gehörlosen Daaflux die erstmalige Übersetzung der Luxemburger Parlamentsdebatte in Gebärdensprache im vergangenen Jahr als eine historische Zäsur.

„Accessibility“, zu Deutsch „Barrierefreiheit“ oder „Zugänglichkeit“, ist eine der Kernforderungen der UN-Konvention. In Artikel 9 fordert sie die Vertragsstaaten dazu auf, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Mindeststandards und Leitlinien für die Zugänglichkeit von Einrichtungen und öffentlichen Diensten zu etablieren. Rollstuhlfahrer sollen Kulturangebote wie Theater und Museen genauso nutzen können wie alle anderen. Blinden sollte das Internet zugänglich gemacht werden. Arbeitsplatz und Bildungssystem müssten so eingerichtet werden, dass Menschen mit welcher funktionalen Einschränkung auch immer ganz selbstverständlich lernen und ihren Arbeitsplatz nutzen können. „Müssten“, „sollten“, „könnten“ ? alle diese Forderungen verharren leider im Konjunktiv. Barrierefreiheit ist sowohl in Deutschland, wo der 5. Mai seit 20 Jahren mit Pomp als Protesttag gefeiert wird, als auch in Luxemburg noch lange keine Realität, sondern eine Forderung, für die weiterhin demonstriert werden muss, ein noch lange nicht als solches wahrgenommenes Grundrecht, das sich ArbeitnehmerInnen oft verbittert einklagen müssen. „Man ist nicht behindert, man wird behindert“, lautet ein Leitspruch der Behindertenbewegung. Eine moderne Gesellschaft, die nicht die Voraussetzungen dafür schafft, dass Menschen mit Einschränkungen am öffentlichen Leben teilnehmen können, schließt einen Teil von sich aufgrund seiner Behinderung aus und bestraft ihn. In Deutschland leben, Angaben des statistischen Bundesamtes (2011) zufolge, rund 9,6 Millionen Menschen mit Einschränkungen, was über 11% der Bevölkerung entspricht. Zu den entsprechenden Zahlen in Luxemburg gibt es keine präzisen Angaben. „Eine genaue Datenerhebung ist vor allem aus deontologischen Gründen in einem so kleinen Land wie Luxemburg unmöglich“ konstatiert Pierre Biver vom Familienministerium.

„Accessibility“, zu Deutsch „Barrierefreiheit“ oder „Zugänglichkeit“, ist eine der Kernforderungen der UN-Konvention.

Ein Gesetz für barrierefreies Bauen gibt es in Luxemburg zwar seit 2001. Bisher wird es allerdings nur bei schätzungsweise 80% der Neubauten umgesetzt. Verpflichtend ist es für alle öffentlichen Gebäude, die neu errichtet werden. „Für den Privatsektor, das heißt Geschäfte oder Kinos, gibt es leider noch kein Gesetz“, beklagt Joel Delvaux, OGBL-Sekretär und aktives Mitglied der Vereinigung „Nëmme mat eis“. Noch schlimmer sei die Situation für Menschen mit Behinderung in Luxemburg bei allem, was Kommunikation betrifft. „Menschen, die Gebärdensprache nutzen, sind in Luxemburg noch sehr ausgegrenzt. Schriftsprache ist ja das Französische, während Gehörlose die deutsche Gebärdensprache lernen“, beklagt Delvaux. Auch Leichte Sprache werde erst langsam umgesetzt. Dabei stellen „fehlende oder unzureichende Barrierefreiheit sowie die Versagung angemessener Vorkehrungen einen Tatbestand der Diskriminierung dar“, hieß es in einer Presseerklärung der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“ (ISL) Anfang März. Der unabhängige Verband arbeitet derzeit an einer ersten „allgemeinen Bemerkung“ (General Comment) zu Artikel 9, in der die aus der Behindertenrechtskonvention hervorgehende Verpflichtung unterstrichen wird. Bei Barrierefreiheit handele es sich um mehr als einen bloßen Gestaltungsgrundsatz. Letztlich sei der Zugang für alle auch ein Menschenrecht und eine Voraussetzung der vollen und gleichberechtigten Teilhabe, so der Kommentar des ISL. Solche „allgemeinen Bemerkungen“ bilden Sigrid Arnade, ISL-Geschäftsführerin, zufolge eine wichtige Auslegungshilfe für die Umsetzung von UN-Menschenrechtskonventionen. Die Zivilgesellschaft wird darin aufgerufen, sich zu beteiligen – Zum Glück gibt es das noch – zivilgesellschaftliches Engagement. Wo stünden wir ohne Projekte wie das des Slang-Radio Trier?

Auch „Wheelmap“ ist so ein Projekt, das letztlich allein aus den Ideen und dem Willen einer Handvoll engagierter junger Menschen entstand. Unter dem Namen SOZIALHELDEN kam die Gruppe 2004 in Berlin zusammen, um mit Projekten auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. Eines dieser Vorhaben war die Erstellung einer Übersicht über rollstuhlgerechte Örtlichkeiten, mit der RollstuhlbenutzerInnen oder auch Menschen mit Rollatoren Einkaufsgänge oder Theaterbesuche besser planen könnten. 2010 entstand so eine Internetseite und ein App, bei der mittlerweile über 200.000 Orte weltweit, darunter Cafes, Schwimmbäder und Museen, zusammen mit einer Bewertung ihrer relativen Barrierefreiheit eingetragen sind. RollstuhlfahrerInnen, die über ein modernes Handy verfügen, können nun überall für den Ort, an dem sie sich gerade befinden, eine derartige Bewertung abgeben. Die Karte www.wheelmap.org basiert auf OpenStreetMap, einer frei editierbaren Karte der gesamten Welt. Jeder kann dort nach Orten suchen und – sofern sie markiert wurden – Auskunft darüber erhalten, wie gut zugänglich Plätze u. a. sind. Wer sich als NutzerIn registriert, kann zudem neue Orte anlegen und bewerten. Ein Ampelsystem kennzeichnet die Rollstuhlgerechtigkeit eines Ortes: Grün steht für einen uneingeschränkten Zugang – etwa weil es keine Stufen gibt oder weil eine Rampe, ein Aufzug oder andere Hilfsmittel den Eintritt ermöglichen. An Orten mit Orange-Markierung gibt es keine Toilette. Wo die Markierung rot ist, haben RollstuhlfahrerInnen gar keinen Zugang. Je mehr Menschen bei der Wheelmap mitmachen und Orte eintragen, desto genauer und aussagekräftiger wird die Karte ? ein Puzzle, das sich über den Mitmacheffekt der UserInnen generiert. Raul Krauthausen, Gründer der ersten Stunde und wegen seiner Glasknochen selbst Rollstuhlfahrer, ist überrascht, wie erfolgreich sein Projekt ist. „Mittlerweile sind wir zu einem Produkt geworden, an dem man, wenn es um Barrierefreiheit geht, einfach nicht mehr vorbeikommt“, meint er. Das bedeute natürlich zugleich eine Menge Verantwortung, in die auch die Gründer von wheelmap erst hineinwachsen mussten. „Die Betroffenen sollen selbst gestalten“, meint Krauthausen, „Nur ändern sie ja leider nichts an der mangelhaften Situation.“ In dem kleinen Fenster, in dem man die Aufmerksamkeit von Journalisten erhalte, komme die Kritik an mangelnder Barrierefreiheit zu kurz. Dass reines Kartographieren nicht ausreicht, um die Zustände zu ändern, darüber ist er sich freilich im Klaren. „Im Grunde habe ich ein Problem mit dem neoliberalen Ansatz unseres Projekts“, bekennt er. „Eigentlich ist es die Aufgabe des Staates, da anzusetzen, wo unser Projekt, die wheelmap, ansetzt.“

Eine moderne Gesellschaft, die nicht die Voraussetzungen dafür schafft, dass Menschen mit Einschränkungen am öffentlichen Leben teilnehmen können, schließt einen Teil von sich aufgrund seiner Behinderung aus und bestraft ihn.

In dem zähen Umsetzungsprozess der hehren Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention bilden zivilgesellschaftlich zustande gekommene Erfolgsgeschichten, wie die von „Wheelmap“, das mittlerweile sogar weltweit über die Suchmaschine Google beworben wird, noch immer die große Ausnahme. Kleine Projekte, etwa das noch wenig bekannte Slang-Radio in Trier oder die vierteljährlich erscheinende linke Berliner Zeitung „Mondkalb“, die ganz allein von vier Redakteuren mit Behinderung herausgebracht wird, sind nur bescheidene Etappen auf einem steinigen Pfad, auf dem es schleppend voran geht.

„Solange politisch noch an Förderschulen festgehalten wird, solange Architekten in ihrem Studium nicht lernen, was Barrierefreiheit ist, solange Zugänglichkeit bei Gebäuden nicht selbstverständlich umgesetzt wird, sondern eingeklagt werden muss, ist das ein Armutszeugnis.“

Wie seinerzeit in Deutschland der von der Bundesregierung ausgearbeitete Aktionsplan bei Behindertenverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) auf harsche Kritik stieß ? dann aber letztlich durch sie entscheidend vorangebracht wurde ? so hat nun auch in Luxemburg der Prozess einer kritischen Begleitung des von Marie-Josée Jacobs Ende März diesen Jahres präsentierten Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen. Die Luxemburger Vereinigungen ZAK, EPI, „Daaflux“ und „Nëmme mat eis“ boykottierten die Vorstellung des Aktionsplans demonstrativ, da sich das zuständige Familienministerium nach ihrer Auffassung als zu wenig kooperativ erwies.

Zwar hat die Ministerin „Barrierefreiheit“ im öffentlichen Verkehr und hinsichtlich der Kommunikationsmittel im Arbeitsalltag ganz oben auf ihre Agenda gesetzt und rund 60 Einzel-Maßnahmen angekündigt, um Zugänglichkeit und Chancengleichheit durchzusetzen, doch die Luxemburger Verbände monierten das grundsätzliche Fehlen eines regierungsunabhängigen Behindertenbeauftragten, dessen Aufgabe es wäre, die Umsetzung des Plans kritisch zu verfolgen. Auch beim Thema persönliche Assistenz mauert die Regierung. Um einen hohen Grad an selbstbestimmter Lebensorganisation zu ermöglichen, sollten Menschen mit Behinderung statt über das bestehende Pflegeversicherungssystem grundsätzlich die Möglichkeit haben, über ein an sie direkt ausgezahltes Budget die Form ihrer Unterstützung selbst zu wählen. Nicht zuletzt blieb das bestehende ausgrenzende Luxemburger Bildungssystem unangetastet. In Deutschland kommt – trotz jahrzehntelanger Tradition sogenannter „Sonderschulen“ – in den letzten Jahren in einigen Bundesländern wie Bremen oder Nordrhein-Westfalen mit dem Modell der „inklusiven Schule“ einiges in Bewegung. Zumindest das Bemühen ist bis in die Städte hinein sichtbar, Kinder mit Behinderung zunehmend in die Regelschulen zu integrieren. In Luxemburg verharrt man hingegen mit Ausnahme des Pilotprojekts „Eis Schoul“, beim Modell einer „éducation différenciée“, die, ganz wie die Sonderschule, die frühe Segregation in Leistungsschwache und Leistungsstarke bekräftigt und verstärkt. – Ein Zustand, der angesichts der oftmals physischen Einschränkungen der SchülerInnen geradezu mittelalterlich anmutet. Auch im Bereich Sport scheint sich in Luxemburg diese Tendenz zu halten. Gemeinsamer Sportunterricht steht noch immer nicht zur Debatte. „Wir haben gehofft, dass durch die UN-Konvention der Gedanke der Inklusion auch in den Schulen umgesetzt wird, doch es bleibt bei der Trennung,“ beklagt Delvaux. Unlängst dokumentierte „Nëmme mat eis“ auf ihrer Webseite nicht nur die parlamentarischen Trippelschritte (samt sämtlicher offizieller Dokumente, die sie auf ihrer Webseite bereitstellt). Der Verein hat auch damit begonnen, analog zum nationalen Aktionsplan und dessen Umsetzung einen Schattenbericht zu erstellen. Regelmäßig werde man solche Berichte vorlegen. „Wir wollen den Prozess proaktiv begleiten“, verspricht Delvaux.

Nach Ratifizierung der UN-Konvention bleiben Luxemburg noch gut zwei Jahre, um das Vertragswerk zu implementieren. 2014 soll eine erste Bilanz gezogen werden. „Solange politisch noch an Förderschulen festgehalten wird, solange Architekten in ihrem Studium nicht lernen, was Barrierefreiheit ist, solange Zugänglichkeit bei Gebäuden nicht selbstverständlich umgesetzt wird, sondern eingeklagt werden muss, ist das ein Armutszeugnis“, beklagt der mittlerweile prominente Wheelmap-Gründer Krauthausen und nimmt damit Bezug auf die Situation mangelnder Barrierefreiheit in Deutschland, wo die öffentlichen Nahverkehrstrukturen, zumindest in der Hauptstadt, weitgehend barrierefrei sind.

„Trotz UN-Konvention denken die Leute hier noch immer, dass man für die Menschen mit Behinderung etwas tun muss, und nicht mit ihnen.“

Der schwierigste Teil der Aufgabe bleibt mithin, die mentalen Barrieren zu beseitigen. „Trotz UN-Konvention denken die Leute hier noch immer, dass man für die Menschen mit Behinderung etwas tun muss, und nicht mit ihnen“, beklagt Delvaux. Barrierefreiheit umfasst eben mehr als nur die Zugänglichkeit von Gebäuden durch Aufzüge und Rampen. Natürlich ist es wünschenswert, dass RollstuhlfahrerInnen der Zugang zu öffentlichen Gebäuden ermöglicht wird ? eine Mindestvoraussetzung, die allerdings noch nicht einmal der Luxemburger Hauptbahnhof erfüllt. Es geht darum, ebene Wege zu schaffen, um allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. – Ein langer, kostenintensiver Prozess, der letztlich in den Köpfen beginnen muss.

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Flyer „Nëmme mat Eis“ : 1161-Flyer_NME.pdf

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Siehe auch das Interview mit Sascha Lang


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