Wenig streitsüchtig, aber vielschichtig in der Analyse: Die Gewerkschaftsvertreter und der Arbeitsminister, die am Dienstag an der woxx-Debatte teilnahmen, sehen die Daseinsberechtigung der organisierten Arbeitnehmerschaft alles andere als in Frage gestellt.
Auf dem Papier ist der Grad der Syndikalisierung in Luxemburg recht beachtlich, doch wie sieht es mit der aktiven Beteiligung am Gewerkschaftsleben aus? Jean-Claude Reding, Präsident des OGBL, ist eher zuversichtlich: Die Alterspyramide der Mitgliedschaft seiner Gewerkschaft ist am breitesten in der Kategorie der 30- bis 50-Jährigen, während die 20- bis 30-Jährigen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert sind. Diese Verteilung entspreche somit eigentlich der aktuellen Arbeitswelt und habe sich in den letzten 15 bis 20 Jahren auch nicht wesentlich verändert.
Doch der Arbeitsmarkt in Luxemburg hat sich stark gewandelt, und das hat auch auf die Gewerkschaften abgefärbt: Fast zwei Drittel der OGBL-Mitglieder haben keinen luxemburgischen Pass, viele von ihnen sind obendrein Frontaliers. Das Problem das sich heute stellt, sind die Kommunikationsformen, mit denen diese disparate Mitgliedschaft eingebunden werden kann.
Patrick Dury, Präsident des LCGB, sieht die finanzielle und personelle Krise seiner Organisation als überwunden an. Die Neudefinition der gewerkschaftlichen Arbeit des LCBG zeige als Schwerpunkte u.a. eine moderne Kollektivvertragspolitik, die sich auf eine stärkere Beteiligung der Beschäftigungen an den Gewinnen orientiert, und eine Absicherung des Index-Systems. Ein neues Aufgabenfeld habe sich aus den geänderten wirtschaftlichen Grunddaten ergeben: „Die Verhältnisse sind prekärer geworden, weshalb sich Gewerkschaften stärker um die Absicherung individueller Risiken kümmern müssen.“
Für den FNCTTFEL/Landesverband stellen sich nach Worten seines Generalsekretärs Claude Thümmel andere Probleme als jene der klassischen Industriegewerkschaften: „Der Landesverband musste in den letzten Jahren vor allem gegen den in Europa zu verzeichnenden Generalangriff auf die öffentlichen Dienste Widerstand leisten.“ Andererseits habe die Modernisierung und Revalorisierung im Bereich der Eisenbahn zu Neueinstellungen geführt. Dieser Trend schlägt sich auch in der Mitgliedstruktur nieder.
J.-Cl. Reding: „Es geht weniger um die Krise der Gewerkschaften als um die Politik und ihren Umgang mit der Krise.“
Arbeitsminister Nicolas Schmit sieht die Gewerkschaften als unverzichtbaren Partner bei der Ausgestaltung der Arbeitswelt. In Ländern mit hohem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad stelle sich die soziale Situation weit besser dar als dort, wo die Gewerkschaftsbewegung schwächelt oder zerstritten ist. Der marktliberale „Economist“ schwärme in Bezug auf die nordischen Länder sogar von einem „Supermodel“. Auf nationaler, aber besonders auch auf europäischer Ebene, spielen in den Augen Schmits die Gewerkschaften die Rolle eines „contre-pouvoirs“ der für das Funktionieren der Demokratie unverzichtbar ist.
Das Nebeneinander zweier von OGBL und LCGB zeitgleich zum Thema (Jugend-) Arbeitslosigkeit angesetzten Pressekonferenzen gab den Aufhänger für eine Diskussion um den Streit innerhalb der Gewerkschaftsszene. Während Claude Thümmel aber klarmachte, dass er den Gewerkschaftspluralimus an sich nicht missen will, war es in den Augen des LCGB-Vorsitzenden lediglich die Strategie des Zufalls, die zur doppelten Pressekonferenz geführt hatte.
Jean-Claude Reding sieht einen breiten Fundus, der allen Gewerkschaften gemeinsam ist: „Das eigentliche Problem ist das der Analyse, also der Frage, wie es zur aktuellen Krise kommen konnte. In den 1990er-Jahren wurde auf europäischer Ebene das Arbeitsrecht ausgehöhlt. Es kam zu einer massiven Umverteilung des geschaffenen Reichtums. Genau wie der LCGB weigert sich deshalb auch der OGBL, sich lediglich auf den Erhalt von Arbeitsplätzen zu fixieren.“
Der Streit, den die Gewerkschaften mit der Regierung hatten, als es zum Bruch innerhalb der Tripartite kam, beruhte laut Reding auf eben dieser Ursachen-Analyse und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Index-Frage, aber auch die Steuerpolitik. Reding: „Es geht weniger um die Krise der Gewerkschaften als um die Politik und ihren Umgang mit der Krise.“
Doch habe die Politik darin versagt, die europäischen Entscheidungsprozesse transparent und offen zu diskutieren. Die Gewerkschaften haben, zum Beispiel, von Anfang an und im absoluten Gleichklang miteinander den jetzt im Parlament durchgewunkenen Fiskalpakt abgelehnt.
Für Patrick Dury gibt es heute kaum noch Betriebe in Luxemburg, die ihre eigenen strategischen Entscheidungen treffen. Als Arcelor 2006 von Mittal geschluckt wurde, waren es die Gewerkschaften, die sich mit allen Mitteln gegen diese Übernahme wehrten. „Heute wissen wir, dass der Deal mit einer enormen Verschuldung zustande gekommen ist. Die Krise in den 1970ern war viel schlimmer; damals konnte aber verhindert werden, dass bestimmte Werke geschlossen wurden. Es wurde eben überall ein bisschen weniger produziert“, erinnert Dury.
Auch der Arbeitsminister sieht eine ideologische Umwälzung im Gang, die in den letzten Jahrzehnten die Liberalisierung als das ökonomische Allheilmittel propagiert. „In der angestrebten Ordnung hatten weder starke Gewerkschaften noch ein starker Staat einen Platz; alles wurde der Selbstregulierung der Märkte untergeordnet, von der man sich das ökonomische Optimum versprach“, so Schmit.
C. Thümmel: „Dass nicht mehr erreicht wurde, lag am allgemeinen politischen Klima, das sich Ende der 1970er Jahre ausbreitete.“
Der Drang nach höchstmöglicher Liberalisierung und Flexibilisierung habe Entwicklungen heraufbeschworen, die sich von Erschütterungen der Finanzmärkte zu einer wahren Gesellschaftskrise gesteigert haben. Wenn die Politik es nicht schaffe, die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen zu ziehen, und versäume, das notwendige Gleichgewicht wieder herzustellen, drohten Verhältnisse wie in Italien auch anderswo.
Als das Luxemburger Tripartite-Modell entwickelt wurde, argumentierten viele, der konsensualistische oder pragmatische Weg sei ein Verrat an den Interessen der betroffenen Arbeiterschaft. Für Claude Thümmel war die Tripartite, zumindest in ihrer ursprünglichen Form, kein Fehler, denn es wurde ja ein nicht unwesentlicher Teil des Stahlstandortes durch sie gerettet. „Dass nicht mehr erreicht wurde, lag am allgemeinen politischen Klima, das sich Ende der 1970er Jahre ausbreitete und durch Figuren wie Maggie Thatcher oder Ronald Reagan charakterisiert war. Die Deregulierung der Finanzmärkte und die massiven Steuersenkungen in den USA und die Beinahe-Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien wirken bis heute nach“, so Thümmel.
P. Dury: „Wenn es zu keinem Egebnis kommt, müssen wir in die vertraute gewerkschaftliche Werkzeugkiste greifen.“
Auch in Luxemburg gab es eine Gewerkschaftergeneration, so Jean-Claude Reding, der die Zerschlagung der Einheitsgewerkschaft 1921, mit Massenentlassungen und -verhaftungen, noch lange in den Knochen steckte. Diese Generation strebte in den, durch gesellschaftliche Umwälzungen geprägten, 1970er Jahren vor allem nach einer Anerkennung des Rechts der Gewerkschaften, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Damals entstand die Kollektivvertrags-Gesetzgebung, es gab auf einmal die „cogestion“, weil innerhalb der großen Parteien ein Konsens bestand, den Gewerkschaften eine wichtige Rolle zuzugestehen. Als dann die Krise kam, herrschte ein politisches Klima, in der alles danach drängte, dieses neue Modell der Zusammenarbeit von Politik, Patronat und Gewerkschaften einmal in der Praxis auszutesten.
Aber Reding wünscht sich die 1970er Jahre nicht zurück: „Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, dem Einsetzen der Globalisierung und dem Beginn der Reformen die mit dem europäischen Binnenmarkt einhergingen, hat sich der Kontext, in denen die Gewerkschaften operieren, noch einmal massiv verändert.“ Das Grundprinzip, sich zusammenzusetzen und zu verhandeln, stehe nicht in Frage. Wegen der europäischen Regeln zur Budgetaufstellung fordere der OGBL aber neue Prozeduren, die eine frühzeitige Diskussion mit den Gewerkschaften, den Patronatsvertretern aber auch der Zivilgesellschaft ermöglichen.
Für Patrick Dury liegt der Hauptfehler in der europäischen Konstruktion der schwachen Ausgestaltung der sozialen Komponente. Die Gewerkschaften stehen hinter der europäischen Idee, die den Frieden gebracht hat, jetzt aber daran krankt, dass die wenigen Sozialstandards auch noch bekämpft werden. Für das Tripartitemodell gilt in Durys Augen vor allem eines: „Das Resultat muss stimmen. Wenn sich erweise, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, dann „müssen die Gewerkschaften eben wieder in die vertraute Werkzeugkiste greifen“ und mit den bewährten Methoden, wie Demonstrationen und Streiks, operieren.
Für Nicolas Schmit ist der aktive Sozialdialog wichtig, der sich nicht auf eine Thema wie den Index reduzieren lasse. Auf EU-Ebene ist der soziale Dialog zu einer Art reinem Formalismus verkommen. Das „soziale Modell Europa“ eines Jacques Delors sei in Vergessenheit geraten.
Die von einigen Seiten ins Gespräch gebrachte Verstaatlichung der Arcelor-Mittal-Betriebe in Luxemburg sieht Schmit als falschen Ansatz: „Man muss Mittal in einen Prozess einbinden, bei dem gesellschafstpolitisch verträgliche Lösungen angestrebt und Betriebsschließungen vermieden werden.“
Auch Jean-Claude Reding kann einer Nationalisierung nicht viel abgewinnen. Ihm schwebt eine Lösung auf europäischer Ebene vor. Es bedarf einer Gesetzgebung, die es Betrieben wie Arcelor-Mittal untersagt, nach eigenem Gutdünken zu operieren, ohne Rücksprache mit den Sozialpartnern in den betroffenen Regionen. Um Druck gegen den Monopolisten auszuüben, fehle aber der europaweite Rahmen.
Patrick Dury sieht einen Handlungsbedarf bei den Wirtschaftsministern aus Frankreich, Belgien und Luxemburg, die an sich gesunden Standorte aus dem Arcelor-Mittalkonzern herauszulösen.
N. Schmit: „Man muss Mittal in einen Prozess einbinden, bei dem Betriebsschließungen vermieden werden.“
Die europäische Mobilisierung der Gewerkschaften findet vor allem in Brüssel statt, die Sichtbarkeit für die restliche EU-Bevölkerung ist dabei eher eingeschränkt. Claude Thümmel verteidigt die Strategie, sich in Brüssel bei denen zu zeigen, die maßgeblich für in Europa betriebene Politik verantwortlich sind. Im besonderen Feld der Transportindustrie konnten so einige der eingeleiteten Liberalisierungsschritte eingeschränkt werden.
Am Beispiel der letztendlich nicht realisierten Bolkestein-Direktive bestätigt auch Jean-Claude Reding, dass die Gewerkschaften es geschafft haben einige Fehlentwicklungen zu stoppen. Die Demonstrationen in Brüssel oder in Straßburg zielen auch auf Allianzen mit der Politik ab, um so gewisse Weichenstellungen zu beeinflussen: „Die Arbeit auf rein nationaler Ebene reicht nicht mehr aus.“
Das gewerkschaftliche Zusammenspiel in Europa ist für Patrick Dury noch um einiges komplizierter als auf nationaler Ebene. Doch gibt es auch gemeinsame übergeordnete Interessen, bei denen die Gewerkschaften an einem Strang ziehen. Europa habe sich zum Weltmeister der Liberalisierung entwickelt: „Die Absicherung sozialer Standards wurde vernachlässigt und wird sich nicht ohne einen gewissen Grad an Protektionismus nachholen lassen.“
Auch für Arbeitsminister Schmit ist Protektionismus kein unaussprechbares Schimpfwort mehr; „Weder Chinesen noch Amerikaner halten sich an die Spielregeln, also sollte auch Europa darauf achten, nicht ganze Zweige seiner Industrie den Dumpingmethoden der Konkurrenz zu opfern.“ Jüngstes Beispiel seien die Fayence-Manufakturen in Portugal, die reihenweise wegen Billigstimporten aus China schließen und so die soziale Krise verschärften. Erst jetzt komme es auf Initiative von einigen sozialdemokratischen Arbeitsministern zu zaghaften Ansätzen, die soziale Dimension ebenfalls zu diskutieren.
Jean-Claude Reding reicht die Suche nach einer gemeinsamen Politik nicht aus, solange der eingeschlagene Weg der falsche ist: „Während zaghaft versucht wird, über Mindeststandards o.ä. zu diskutieren, verhandelt die europäische Führung munter weiter über Freihandelsabkommen mit Lateinamerika und den USA.“ Das Rad drehe sich also weiter, die Suche nach politischen Alliierten, mit denen dem Einhalt geboten werden könnte, stelle sich als sehr schwierig heraus: „Es ergibt sich die Gefahr einer Rückkehr in alte nationalistische Reflexe, die das unbrauchbarste Mittel sind, die ungehemmte Liberalisierungswelle zu stoppen.“
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