AUTISMUS: Eigene Welt?

Autisten leben in ihrer eigenen Welt, so die landläufige Vorstellung. Dabei wäre es an uns, ihnen Orientierungspunkte zu geben.

Klischee-Autist: Dustin Hoffman in Rainman (1988).

Er zählte Spiel-Karten und Streichhölzer in rasender Geschwindigkeit, las zwei Seiten eines Buches gleichzeitig und blieb auf der Straße, mitten im Verkehr, abrupt stehen, weil die Ampel auf Rot umschaltete. Dustin Hoffman spielte in „Rainman“ (1988) den erwachsenen Autisten und „Savant“ Raymond. Einen sonderbaren, tollpatschigen Menschen, der zwar hochbegabt ist, aber in vielen Alltagssituationen völlig aufgeschmissen. Der Prototyp eines Autisten war filmisch geschaffen. Doch obwohl „Rainman“ zur Enttabuisierung des Phänomens beigetragen hat, hat der Film auch ein Stück weit zur Zementierung des Klischees über Autisten beigetragen. Doch nicht alle Autisten haben eine sogenannte Inselbegabung oder das Asperger-Syndrom (ASS). Was laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ ist, möchten Inklusionsverfechter und viele Autisten selbst nicht einmal als „Behinderung“ begriffen wissen. Sie sprechen von einer Persönlichkeitsveränderung oder einer Wesensart. „Fest steht, dass Autisten im Alltag Strukturen und feste Anhaltspunkte brauchen“, meint der Direktor der Autismus a.s.b.l. Luxemburg, Marc de Geest, dessen Organisation rund 80 Menschen mit einer Behinderung betreut, darunter 40 Autisten. Und: Autismus ist ein vielschichtiges Phänomen, die Grenzen sind fließend. Zwei Personen mit Autismus und derselben Diagnose können ganz unterschiedlich handeln und völlig verschiedene Fähigkeiten haben. Autisten sind damit nicht zwangsläufig „Hochbegabte“. „Den Autismus“ oder „das Asperger-Syndrom“ im strengen Sinne gibt es nicht.

„Unsere Klientel ist breit gefächert“, konstatiert de Gees. Es gibt Menschen mit einer Lern-Behinderung, die zusätzlich autistische Züge aufweisen, wie es auch hochbegabte autistische Personen gibt. Bis vor Kurzem nahm man an, dass die „Störung“ eine von 150 Personen betrifft. Auf EU-Ebene wird davon ausgegangen, dass etwa eins von 100 Kindern eine Autismus-Diagnose haben und damit 1 Prozent der Bevölkerung „autistisch“ ist. Der Bundesverband Autismus Deutschland gibt die Prävalenz mit 6-7/pro 1000 Einwohner an. In Deutschland leben damit etwa eine halbe Million Autisten.

Nicht immer Inselbegabung oder Asperger-Syndrom

Für Luxemburg gibt es – wie so oft – keine landeseigenen Statistiken, berichtet de Gees. Lege man aber die internationalen Prävalenzzahlen zugrunde, dann sei in Luxemburg von 2.000-2.500 Autisten auszugehen. Die Fondation Autisme veranschlagt die Zahl der hier lebenden autistischen Menschen mit 3000. Bei Jungen tritt Autismus viermal häufiger auf als bei Mädchen. Die Zahlen variieren sehr stark und steigen kontinuierlich an. Während man vor zehn Jahren in der Wissenschaft noch von 1 auf 1000 autistischen Menschen sprach, geht man heute oft schon von 1 von 165 aus, berichtet de Gees. Erfährt Autismus also gerade eine Konjunktur und ist er ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie es Susan Sontag in ihrem Ende der 1970er Jahre erschienen Essay „Krankheit als Metapher“ behauptet hat? Werden wir in unseren westlichen Leistungsgesellschaften mehr und mehr zu Autisten, oder sind wir alle letztlich ein bisschen „autistisch“?

„Das heißt nicht, dass immer mehr Menschen mit Autismus geboren werden, sondern dass sich die Diagnostik weiterentwickelt hat und man heute eben nicht mehr vom klassischen Autismus ausgeht, sondern von einer Gruppierung, unter die verschiedene Syndrome fallen“, erklärt sich de Gees den Anstieg der diagnostizierten Fälle. Das Phänomen ist multifaktoriell, den Autismus einer Person einfach mittels einer Blut- oder Urinprobe festzustellen, ist unmöglich. Die Diagnose basiert vielmehr auf beobachtbaren Verhaltensweisen, ist ein Zusammenspiel verschiedener Symptome. Charakteristika von Autismus werden vor allem im sozialen Umgang deutlich, aber auch in der Kommunikation oder in sich stets wiederholenden Handlungen. Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus in erster Linie dadurch, dass oft keine Verzögerung beziehungsweise kein Entwicklungsrückstand in der Sprache oder den kognitiven Fähigkeiten vorhanden ist. Die Auffälligkeiten liegen in der psychomotorischen Entwicklung und der sozialen Interaktion. Häufig haben Menschen mit Asperger-Syndrom darüber hinaus eine sogenannte „Inselbegabung“, verfügen also beispielsweise über ein herausragendes fotografisches, musikalisches oder mathematisches Gedächtnis.

Etwa 3.000 autistische Menschen in Luxemburg

Trotz umfangreicher Forschungsergebnisse gibt es bis heute noch kein Erklärungsmodell, das vollständig über die Entstehungsursachen des frühkindlichen Autismus Aufschluss geben könnte. Meist tritt dieser in den ersten drei Lebensjahren in Erscheinung und äußert sich in Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Oft können autistische Kinder weder Gesten noch ein Lächeln verstehen beziehungsweise interpretieren. Sie ziehen sich zurück und kapseln sich „autistisch“ ab. Allgemein könne man sagen, erläutert de Gees, dass Autisten Menschen sind, denen die Sicherheits- und Anhaltspunkte fehlen, die normale Menschen haben. Mit den normalerweise unbewusst erlernten Automatismen und Codes können autistische Personen oft nichts anfangen. Das betrifft vor allem die non-verbale Kommunikation. Studien zufolge macht diese jedoch fast 80 Prozent der alltäglichen Kommunikation aus. So etwa die Codierung der Mimik, der Gestik – das heißt, in dem Moment, wo eine Person das Gesicht des anderen lesen muss, was für uns sehr wichtig ist, um das Gegenüber besser einzuschätzen. Eine autistische Person hat Probleme damit, eine solche Haltung zu interpretieren. Fragt man etwa eine autistische Person: „Hast du ein Bonbon?“ antwortet sie vermutlich mit „Ja“. Aber sie wird nicht von selbst auf die Idee kommen, einem ein Bonbon anzubieten. Nonverbale Kommunikation bedarf auch der Kontextualisierung. Eine betimmte Bewegung in einem Kontext A hat eine andere Bedeutung als dieselbe Bewegung in einem Kontext B. Dass eine autistische Person mitten auf der befahrenen Straße stehen bleibt, weil die Ampel rot wird, oder dass sie nicht die Tür öffnet, wenn man dagegen hämmert und fordert: „Ich muss mit dir reden“, sind also Situationen, wie sie sich im Alltag zutragen. Tatsächlich kennt eine autistische Person sehr viele Anhaltspunkte nicht, dabei geben gerade diese eine Struktur vor, an der sie sich orientieren kann. Ein Joghurt, der plötzlich an einer anderen Stelle als der gewohnten im Kühlschrank steht, kann so für erhebliche Verwirrung sorgen und Wutanfälle auslösen. Deswegen gilt bei Autisten die Regel: „Struktur, Struktur, Struktur“, betont de Gees. Aber es geht auch darum, eine autistische Person nicht einzusperren. „Eine Maxime, die wir uns als Autismus a.s.b.l. gegeben haben ist, dass wir eine Person darin trainieren, mit Veränderungen zurechtzukommen.“

Keine Gesten verstehen, kein Lächeln interpretieren

Neben der Autismus a.s.b.l. gibt es in Luxemburg noch die „Fondation Autisme Luxembourg“ (FAL) in Capellen sowie das „Institut pour enfants autistiques et psychotiques“. Dieses war gegründet worden, um den schulischen Bereich abzudecken und wurde dann dem Unterrichtsministerium unterstellt. Neben fünf inklusiven Grundschulklassen, gibt es zwei Gymnasien: das Lycée Michel Rodange und ein Gymnasium in Leudelingen, die von Autisten besucht werden. De Gees sieht die Co-Existenz der drei Träger als positiv, denn die Organisationen funktionieren zwar autonom und losgelöst voneinander, ergänzen sich aber in ihrem Angebot. So bietet die 1996 von einer Elterngruppe Betroffener gegründete FAL, die im letzten Jahr rund 328 Menschen betreute, in ihren drei Strukturen Munshausen, Niederfeulen und Rambrouch auch Werkstätten und Diagnostik an. Will man der Forderung nach „Selbstbestimmung“ nachkommen, die die Behindertenrechtskonvention vorsieht, muss man den Betroffenen eben auch die Wahl lassen. Rechnet man die Hunderte von Anfragen zusammen, die bei der Autismus a.s.b.l. eingehen, so kommt man gerade einmal auf eine Betreuung von rund 10 Prozent. Wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich erahnen. Gerade weil bei Autismus keine Standardisierung möglich ist und die Menschen so vielfältig sind, gibt es eben auch keine einheitliche Betreuung oder Therapie. „Bei der Betreuung setzen wir sehr stark auf Individualität, und ein Grundprinzip unserer Vereinigung ist immer die Normalität“, erklärt de Gees. „Wir versuchen herauszufinden, was für uns normal ist, und das sollte auch für eine autistische Person normal sein, abgestimmt auf ihre Fähigkeiten.“

Es geht der Autismus a.s.b.l. darum, die Person da abzuholen, wo sie Hilfe braucht. Eine Eingliederung von Autisten auf dem ersten Arbeitsmarkt ist möglich, doch führt sie wegen des Mangels an Sozialkompetenz oft zu Problemen. Gerade Menschen mit Asperger-Syndrom sind zwar in vielen Bereichen hochintelligent und schaffen es daher mitunter, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen, oft gelingt es ihnen aber nicht, die Stelle zu halten. Fördert man autistische Menschen nicht schon ab dem frühen Kindesalter, setzt eine Benachteiligungsspirale ein, die kaum aufzuhalten ist. In Frankreich ist aufgrund des Mangels an ausgebildeten Lehrern und fehlenden Formen der Unterstützung für rund 80 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen kein Schulbesuch möglich. Doch eine Gesellschaft, die keine Förderung autistischer Kinder ermöglicht, schließt diese aus und bestraft sie gewissermaßen.

Der 2. April war ein Anlass, um rund um das Thema Autismus zu sensibilisieren, denn noch immer ist es in der Öffentlichkeit unzureichend präsent. Am diesjährigen „World Autism Awareness Day“, der seit 2008 begangen wird, hat die FAL deswegen eine Aktion gestartet und blaue Luftballons in den Himmel steigen lassen. Bereits an zwei Tagen zuvor wurden unter dem Motto „Light it up Blue“ einige prominente Gebäude der Stadt wie etwa das Mudam, das Rathaus, die Philarmonie und die Banque Internationale à Luxembourg blau beleuchtet. Doch gerade weil dies nur einmal im Jahr stattfindende Einzelaktionen sind, bedarf es dringend weiterer Sensibilisierung, um die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen und aufzuzeigen, dass Autismus eine Variante des Andersseins ist. Leben Autisten in ihrer eigenen Welt? Nein, sie leben unter uns, aber sie haben in unserer Welt Orientierungsprobleme. Versteht man dies und versucht, ihre eigene Art zu respektieren, ihnen Anhaltspunkte zu geben und sie durch inklusive Schulklassen früh zu fördern, so könnte man der viel propagierten Inklusion ein Stück näher kommen.


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