Unter Verweis auf eine „multipolare Weltordnung“ macht das russische Regime gegen den „vom Westen“ dominierten Weltmarkt mobil und umwirbt den „globalen Süden“. Was steckt hinter dieser Strategie und ist sie tatsächlich auch für emanzipatorische Bewegungen attraktiv?

Militärisch hält Russland seinem Bündnispartner Iran nicht den Rücken frei: Der russische Außenminister Sergei Lawrow (hinten) mit seinem iranischen Amtskollegen Abbas Araghchi bei dessen Besuch im vergangenen April in Moskau. (Foto: EPA/TATYANA MAKEYEVA/POOL)
Was auch immer aus dem sogenannten Friedensplan der US-Regierung für den Krieg in der Ukraine werden mag: Auf dem Schlachtfeld läuft es für Russland derzeit eher gut. Dafür zahlt das Regime unter Präsident Wladimir Putin allerdings einen hohen Preis. Die Fähigkeit des Landes, seine machtpolitischen Interessen auch andernorts zu manifestieren, wurden durch die Intensität des Krieges gegen die Ukraine erheblich eingeschränkt.
Zunächst musste das der vergangenen Dezember aus Syrien verjagte Diktator Baschar al-Assad erfahren, sechs Monate später das Regime im Iran, als die israelische und die US-amerikanische Luftwaffe iranische Militär- und Nuklearanlagen bombardierte. Beide hatten auf militärische Hilfe aus Russland gehofft, und für beide machte Putin nicht einen Finger krumm. Dabei hatten Iran und Russland erst im Januar dieses Jahres einen Vertrag über eine „umfassende strategische Partnerschaft“ abgeschlossen, um die militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder zu vertiefen – nicht unähnlich jenem, das der russische Präsident im Mai mit seinem venezolanischen Amtskollegen Nicolas Maduro unterzeichnet hat.
Auch Maduro sollte angesichts des vor seiner Küste zusammengezogenen US-amerikanischen Truppenaufgebots nicht groß auf Moskau hoffen. Das hat der russische Außenminister Sergei Lawrow klargestellt. Es sei falsch, die Beziehung zu Venezuela etwa mit jener zu vergleichen, die Russland zu Belarus pflegt, sagte er Mitte November. Dies wurde als deutliche Absage an direkte Militärhilfe aus Russland interpretiert. Das Abkommen mit dem lateinamerikanischen Land umfasst zwar sicherheits- und verteidigungspolitische Elemente, die Vertragspartner sind jedoch nicht zur gegenseitigen Vereidigung verpflichtet. Die gegen die USA gerichtete „antihegemoniale Solidarität“, laut der Plattform „China Global South Project“ der Kern der russisch-venezolanischen Partnerschaft, bewegt sich also in engen Grenzen.
Gemeinsam gegen den Westen
„Antihegemoniale Solidarität“ – diese Terminologie fügt sich nahtlos in die Idee einer „multipolaren Weltordnung“ ein, für die der russische Präsident seit vielen Jahren wirbt. Das „neoliberal-amerikanische Modell“ der internationalen Ordnung habe der Welt „nichts zu bieten, außer die Aufrechterhaltung seiner Vorherrschaft“, sagte er beispielsweise auf einer programmatischen Rede vor dem in Moskau ansässigen Diskussionsforum „Waldai-Klub“ im Oktober 2022: „Echte Demokratie in einer multipolaren Welt“ bedeute „die Fähigkeit jeder Nation – ich betone: jeder Gesellschaft und jeder Zivilisation –, ihren eigenen Weg zu gehen und ihr eigenes soziopolitisches System zu organisieren.“ Mit solchen Worten versucht der russische Präsident bei Ländern zu punkten, die aus der Perspektive des Weltmarkts der „Peripherie“ zugeordnet werden. Er nutzt dabei nicht nur die Vereinten Nationen, sondern beispielsweise auch die Treffen der Brics-Staaten, der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ und der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ als Bühne.
Doch nicht Putin hat das Konzept erstmals auf das postsowjetische Russland bezogen. Das war 1996 der damalige Außenminister Jewgeni Primakow. Er plädierte für eine Abwendung Russlands vom Westen und für eine strategische Neuausrichtung in Richtung Indien und China, um gemeinsam die Hegemonie der USA zu brechen. Russland solle sich zudem gegen eine Erweiterung der Nato aussprechen, die eigene Vorherrschaft im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich durchsetzen sowie die eurasische Integration vorantreiben – alles Bestrebungen, die auch die heutige russische Außenpolitik bestimmen.
In den USA wurde wenig überraschend vor solchen Ideen gewarnt. So argumentierte ein Papier der konservativen „Heritage-Foundation“ schon 1997 gegen Primakows „Brave New Multipolar World“: „Russland ist zu schwach, um eine glaubwürdige Koalition aufrechtzuerhalten, mit der die Vereinigten Staaten herausgefordert werden könnten“, heißt es dort, aber der Versuch werde „zweifellos zu verstärkten Spannungen im Nahen Osten und anderswo führen“. Der von Primakow vorgeschlagene Weg für Russland sei „geprägt von der Pflege geopolitischer Spannungen, imperialer Ressentiments und noch unerfüllter Großmachtambitionen“. Durch den Aufbau einer antiamerikanischen Koalition, die Hinwendung nach China und die Förderung von Diktatoren im Nahen Osten gefährde man nicht nur die Beziehungen zu den USA, sondern beginne ein „Nullsummenspiel“, mit dem man nicht nur den „Diktatoren in Bagdad und Mullahs in Teheran“ in die Hände spiele, sondern schließlich generell den „Paria-Staaten der Welt“ zur Seite stehe. Das erweise sich am Ende selbst für Russland als kontraproduktiv und trage „wenig zur Integration Russlands in die Weltwirtschaft bei“. Man mag das Interesse der „Heritage-Foundation“ am Wohlergehen Russlands fragwürdig finden, dennoch kann man konstatieren, dass vieles von dem, wovor gewarnt wurde, längst Realität geworden ist. Dabei scheint die russische Außenpolitik in mancherlei Hinsicht weniger am Weltmarkt orientiert als vielmehr gegen diesen gerichtet zu sein.
Ein eigenes Finanzsystem?

Für die Ukraine, gegen fossile Energien: Südafrikanische Aktivist*innen von „Extinction Rebellion“ protestieren während des Brics-Gipfels im August 2023 in Johannesburg. (Foto: EPA/YESHIEL PANCHIA)
Die Bilanz der „multipolaren Ordnung“ russischer Provenienz fällt unterm Strich allerdings wenig berauschend aus. Als deren Vehikel will Russland beispielsweise das Staatenbündnis Brics verstanden wissen. Es wurde 2009 zur Brechung der US-Dominanz auf dem Weltmarkt und zur „Ent-Dollarisierung“ des Welthandels gegründet. Der Name der informellen, weil nicht auf Verträgen basierenden, zwischenstaatlichen Organisation leitet sich aus den Anfangsbuchstaben der ursprünglich beteiligten Nationen ab: Brasilien, Russland, Indien und China; 2010 schloss sich Südafrika an. Seit 2024 haben sich noch Ägypten, Äthiopien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indonesien hinzugesellt, weshalb inzwischen auch von „Brics+“ oder salopp vom „Club der Autokraten“ (Frankfurter Rundschau) gesprochen wird. Eine Ausweitung zu einem hohen Preis: „Brics ist oft als Alternative der Entwicklungsländer zu den G7 bezeichnet worden und hat in letzter Zeit eine rasante Expansion erlebt, dabei jedoch die Kohärenz einer Organisation verloren, die eine ideologische Alternative zum westlichen Kapitalismus der G7 darstellt“, schrieb die britische Tageszeitung „The Guardian“ anlässlich des 17. Gipfeltreffens des Bündnisses in Rio de Janeiro Anfang Juli dieses Jahres.
In den vergangenen Jahren warb Russland bei den Brics eifrig für den Aufbau eines eigenen Finanzsystems. Damit hofft das Land die massiven Sanktionen zu umgehen, von denen es seit Beginn der Invasion der Ukraine betroffen ist. Im vergangenen Jahr wurde die Schaffung einer goldpreisgebundenen Brics-Währung angekündigt. Umgesetzt wurde diese bislang nicht. Auch das von Russland im Oktober 2024 als Alternative zu Swift vorgestellte Zahlungssystem „Brics Bridge“ scheint bislang wenig Anklang zu finden. Evgeny Kogan von der russischen Wirtschaftshochschule klagte laut „Deutsche Welle“ im vergangenen Jahr, die Brics-Staaten hätten kaum Bereitschaft gezeigt, Russland vor internationalen Sanktionen zu bewahren oder deren Wirkung wenigstens abzufedern.
Kein Schutz vor Sanktionen
Noch im vergangenen Jahr hatte Putin mit viel Tamtam zum Gipfel nach Kazan geladen und diesen als Beweis für das Scheitern aller Bemühungen, sein Land zu isolieren, inszeniert. Das Treffen „war geprägt von antiwestlicher und antikolonialer Rhetorik, Forderungen nach einer Abkehr vom Dollar und Plänen, seine Mitglieder gegen Sanktionen zu immunisieren“, so Natalie Sabanadze vom britischen Think Tank „Chatham House“. Russland betrachte Brics letztlich als bloßes Instrument „um den Globalen Süden gegen die westliche Vorherrschaft zu mobilisieren“. Dieses Jahr, so Sabanadze, sei der Ton ein anderer gewesen. „Der Gipfel in Rio hat gezeigt, dass die Brics-Staaten weniger antiwestlich sind, als Russland es gerne hätte“, lautet ihr Resümee.
Das Regime im Iran, seit vergangenem Jahr sogenanntes Vollmitglied von Brics, hatte sich wohl ebenfalls mehr von dem Staatenbündnis erhofft. Zwar wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der man die im Juni stattgefundenen Angriffe auf Anlagen des iranischen Atomprogramms, militärische Einrichtungen und hochranginge Kommandeure als „sehr besorgniserregend“ bezeichnet, doch wurden darin weder die USA noch Israel namentlich genannt. „Es gibt keinerlei Einigkeit in Bezug auf den Iran“, wird der in Brasilien lehrende Wissenschaftler Oliver Stuenkel als Experte für die Brics-Staaten in der „New York Times“ zitiert. „Daher war diese sehr zurückhaltende Formulierung die Lösung.“ Sowohl Indien als auch Brasilien stünden den Vereinigten Staaten viel näher als dem Iran.
Nichtsdestotrotz nutzte der russische Präsident den Zwölf-Tage-Krieg zwischen Iran und Israel, um ihn als Versuch der „westlichen Länder“ darzustellen, „die Errichtung einer fairen multipolaren Weltordnung zu verhindern und das Modell der Globalisierung zu bewahren, das nur für sie selbst von Vorteil ist“. Über lauwarme Worte ging das russische Engagement für den Iran indes nicht hinaus. Statt Schützenhilfe zu leisten, bot man sich als Mediator an. Abgesehen vom offensichtlichen Grund, dass Russland einen militärischen Konflikt mit Israel und den USA vermeiden will, hat die Bedeutung des Iran für Moskau in den vergangenen Monaten auch abgenommen. Im Krieg selbst hat sich das islamische Regime militärisch blamiert, und die von ihm kontrollierten Milizen entlang des „schiitischen Halbmonds“, mit dem es als einflussreicher Akteur in der Levante galt, sind nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes, der massiven Schwächung der Hisbollah sowie der ebenfalls dazugerechneten sunnitisch-islamistischen Hamas kollabiert. Strategisch stellt der Iran derzeit also keinen wichtigen Faktor mehr für Russland dar. Das gilt auch hinsichtlich der Lieferung von Drohnen, seit die russische Industrie bessere Modelle in großen Stückzahlen selbst produziert.
Einfluss im Nahen Osten schwindet
Russland achtet zwar darauf, dass unter dem Bündnis mit dem Iran nicht die Beziehungen zu jenen arabischen Staaten leiden, die, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, ihm misstrauen oder, wie Saudi-Arabien, offen mit ihm rivalisieren, jedoch hat Moskau auch hier jüngst einen Dämpfer erlebt. Der von langer Hand geplante russisch-arabische Gipfel, der Mitte Oktober in Moskau stattfinden sollte, wurde mangels Interesse arabischer Staaten kurzfristig abgesagt. Zum Glück für Putin fiel das Treffen mit den Verhandlungen des von der Trump-Regierung lancierten Waffenstillstands im Gaza-Krieg zusammen, sodass Russland dies als Grund angab. Geglaubt hat das wohl niemand.
„Putins peinliche Absage des Arabischen Gipfels signalisiert schwindenden Einfluss im Nahen Osten“, titelte etwa der „Guardian“. Diese Feststellung wurde durch Russlands Abwesenheit während der Waffenstillstandsverhandlungen im ägyptischen Sharm el Sheikh unterstrichen. Seit der militärischen Intervention zugunsten des Diktators Baschar al-Assad 2015 im syrischen Bürgerkrieg hatte Russland versucht, sich wieder als Macht zu inszenieren, die in der Lage ist, weit über ihre Grenzen hinaus Einfluss zu nehmen. Eine Dekade später scheint davon wenig übrig zu sein.
„Putin wollte allen zeigen, dass er der Anführer der ‚globalen Mehrheit‘ ist, aber was für eine Mehrheit ist das ohne die arabische Welt?“, zitierte der Nachrichtenservice „Bloomberg“ den in Moskau ansässigen Politologen Andrej Kolesnikow. „Er möchte dort eine ebenso große Rolle spielen wie einst die Sowjetunion, aber ihm fehlen die Ressourcen.“ Auch andere Beobachter*innen gehen davon aus, dass Russland sich mit dem Ukraine-Krieg übernommen hat, was zu einer strategischen Überdehnung hinsichtlich der Präsenz in anderen Weltregionen führte.
Nicht nur im Nahen Osten orientieren sich die wichtigsten Akteure mittlerweile eher an der US-Regierung. Als Aserbaidschan im September 2023 die von Armenien kontrollierte De-facto-Republik Bergkarabach einnahm, schauten die als „Friedenstruppen“ stationierten russischen Soldaten nur tatenlos zu. Sowohl Aserbaidschan und Armenien als auch Kasachstan – alles drei ehemalige Sowjetrepubliken, die zum Orbit der Macht der Russischen Föderation gerechnet werden – haben sich zuletzt auf die USA zubewegt.
Das russische Regime ist unterdessen bemüht, zumindest seine Präsenz auf den Militärbasen in Syrien zu retten, und das offenbar mit einigem Erfolg. Zwar schrieb die „New York Times“ Mitte Oktober, die an der Küste gelegenen Stützpunkte in Hmeimim (Luftwaffe) und in Tartus (Marine) dürfen derzeit nur einschränkt genutzt werden. Der kurdische Rundfunksender „Kurdistan 24“ berichtete jedoch zeitgleich, die russischen Aktivitäten in Hmeimim und auch am Flughafen Qamishli würden ausgebaut. Letzterer liegt im Nordosten des Landes und damit im Einflussbereich der kurdischen „Syrian Democratic Forces“ (SDF). Das dürfte nicht nur militärstrategische Gründe haben. „In den vergangenen Monaten hat die SDF ihre Zusammenarbeit mit Russland verstärkt, um sich einen Vorteil gegenüber der Türkei und der Regierung in Damaskus zu verschaffen – und um einen zusätzlichen Verbündeten zu haben, falls die Vereinigten Staaten ihre Ankündigung wahr machen sollten, ihre militärische Präsenz im Nordosten Syriens erheblich zu reduzieren oder sogar ganz einzustellen“, so die US-amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“.
„Plattform zur Destabilisierung“

Wladimir Putin umwirbt die Länder der kapitalistischen Peripherie mit „echter Demokratie in einer multipolaren Welt“. Doch was steckt hinter dem Konzept? (Foto: EPA/Alexander Nemenov/Pool)
Russland versuche, seine Militärbasis in Qamishli als „Plattform zur Destabilisierung“ zu nutzen, schreibt der syrische Journalist Samer al-Ahmed in einem Beitrag für den in Washington basierten Think Tank „Middle East Institute“. Das Land profitiere von einem „geschwächten Syrien mit einer schwachen Regierung, die mit mehreren internen Krisen konfrontiert ist“. Wie immer spielt Moskau dabei die multipolare Karte. Die syrische Regierung sei unter Druck durch regionale Mächte wie Israel und die Türkei; Russland wolle lediglich helfen, das Kräftegleichgewicht aufrechtzuerhalten, wird Vadim Makarenko, Forscher am Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften, auf „Kurdistan 24“ zitiert: „Wir streben kein Monopol oder eine Vorherrschaft über die syrische Regierung an.“
Die syrischen Stützpunkte sind nicht zuletzt für die Logistik der militärischen Aktivitäten Russlands in Afrika wichtig. Auch dort versucht Moskau aus der politischen Instabilität in Ländern wie Sudan, Mosambik, Burkina Faso, Mali, Niger, Libyen und der Zentralafrikanischen Republik Kapital zu schlagen und seine strategischen Ziele voranzutreiben. Hauptakteur ist dabei das sogenannte „Afrikakorps“, das größtenteils aus der privaten Söldnertruppe „Wagner“ hervorgegangenen ist und dem russischen Verteidigungsministerium untersteht.
Für eine Weile schien die blutige Rechnung in Afrika aufzugehen, dann jedoch zeigten sich die ersten Probleme („Raubzug um Renditen“; woxx 1859). So zogen sich im vergangenen Juni die Reste der Wagner-Gruppe aus Mali zurück; die von ihr bekämpften jihadistischen Rebellengruppen drohen nun dort die Macht zu übernehmen. Ohnehin sei Russlands Beitrag eher politischer als militärischer Natur gewesen, schreibt Héni Nsaibia, Westafrika-Experte der unabhängigen Organisation „Acled“ (Armed Conflict Location & Event Data), die Konflikte und Krisen weltweit analysiert: „Die [Wagner-] Gruppe festigte die Abkehr des Landes von seinen westlichen Verbündeten und begünstigte eine stärkere Partnerschaft mit Russland. Dennoch hat sie Mali als zutiefst zersplittertes Land zurückgelassen.“
Ehe die Wagner-Gruppe kam, war in vielen der genannten Länder die französische Armee mit ihrer „Operation Barkhane“ gegen die bewaffneten Islamistengruppen aktiv. Dann folgten die Staatstreiche in Mali, Burkina Faso und Niger, die nicht zuletzt von einer antifranzösischen und antikolonialen Stimmung getragen waren. Frankreichs Armee zog ab, die russischen Söldner rückten ein. Anlässlich des Afrika-Gipfels in St. Petersburg im Juli 2023 sagte Präsident Wladimir Putin, es gelte, die afrikanischen Länder von „Kolonialismus und Neokolonialismus“ zu befreien. Da hatte die Wagner-Gruppe längst damit begonnen, sich in Mali Rohstoffe unter den Nagel zu reißen und Massaker an der Zivilbevölkerung zu verüben.
Fragwürdiger „Souveränitäts-Dienstleister“
Ausgehend von diesen Ländern habe Moskau versucht, einen pro-russischen Block zu schaffen, schreibt die Russland- und Nahost-Expertin Hanna Notte im Onlineportal „War on the Rocks“. Russlands habe seine Machenschaften in Westafrika und den Krieg gegen die Ukraine „zu einer Meta-Erzählung verknüpft und sie als Teil eines übergreifenden ‚antikolonialen‘ Kampfes gegen einen ausbeuterischen Westen dargestellt. In dieser Darstellung ist Russland ein ‚Souveränität-Dienstleister‘.“
Ein Dienstleister allerdings, der nicht halten kann, was er verspricht: Alle drei genannten Staaten könnten in nächster Zeit kollabieren und den Jihadisten zum Opfer fallen, fürchtet der Sicherheitsexperte Joe Siegle von der Maryland University Anfang November in der britischen Zeitung „Financial Times“. Doch um Stabilität ging es in der russischen Strategie der Multipolarität ohnehin nie. Das „System Putin“ beruht innen- wie außenpolitisch darauf, dass bestehende Machtkonstellationen prekär bleiben, seine Geschäftsgrundlage ist nicht die geregelte Ordnung, sondern die Existenz rivalisierender Banden, und diese Bandenherrschaft möchte man auch im globalen Maßstab reproduzieren („Die Souveränität der Seilschaften“; woxx 1407). Die Märkte, in denen die russischen Gewaltunternehmer Fuß fassen konnten, wiesen ähnliche Merkmale auf, wie sie in Russland prägend sind, schreibt Tanner Kimpel von der „World Peace Foundation“: „politische Instabilität und schwache Rechtsstaatlichkeit, Klientelpolitik, Machtkonflikte und reichhaltige natürliche Ressourcen“.
Trotz der Entwicklungen in Mali und anderswo steht zu befürchten, dass sich weiterhin „Kunden“ für derlei Dienstleistungen finden werden. Am vergangenen Dienstag berichtete die amerikanische Zeitung „Wall Street Journal“, die sudanesische Militärregierung habe angeboten, Russland könne dort seinen allerersten Marinestützpunkt in Afrika errichten. Im Gegenzug erwartet man sich Rüstungsgüter, die man dringend braucht, um die Milizen der „Rapid Support Forces“ (RSF) zu bekämpfen („Massenmord in al-Fashir“; woxx 1861).
„Kampfruf für Despot*innen“
Umso erstaunlicher ist es, dass einige dem russischen Vorgehen nach wie vor etwas Positives abzugewinnen scheinen. Russland und China träten „zunehmend als neue Alternativen, potenzielle Verbündete und Anbieter alternativer Entwicklungsmodelle für den globalen Süden“ auf, so etwa Jens Stilhoff Sörensen von der Universität Göteborg in einem im Oktober in der Zeitschrift „Globalizations“ erschienen wissenschaftlichen Artikel: „Mit dem Übergang zu einer multipolaren Welt hat die Entkolonialisierung einen neuen Moment gefunden, mit der Möglichkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Westen zu erlangen. Im gesamten globalen Süden entsteht eine neue globale Unabhängigkeitsbewegung.“
Vor dieser Illusion hat die indische Feministin Kavita Krishnan bereits vor Jahren gewarnt. Mit ihrem Eintreten für „Multipolarität“ gegen eine unipolare Ordnung unter Führung der USA habe die Linke faktisch den Autoritarismus in der Welt verteidigt. Das Konzept sei „längst zum Grundpfeiler der gemeinsamen Sprache der globalen Faschismen und Autoritarismen geworden“, „ein Kampfruf für Despot:innen, der dazu dient, ihren Krieg gegen die Demokratie als einen Krieg gegen den Imperialismus zu tarnen“. Ähnlich argumentiert Boris Kagarlizki, der für seine Opposition gegen das Putin-Regime und den Ukraine-Krieg derzeit eine fünfjährige Haft in einer russischen Strafkolonie verbringt. „Leider ist unter den heutigen globalen Bedingungen die Alternative zur [westlichen] Hegemonie keine gerechtere Weltordnung, sondern Chaos, was in Russland aus irgendeinem Grund oft als ‚multipolare Welt‘ bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber ein ‚Krieg aller gegen alle‘ ist“, schrieb der an Marx orientierte russische Soziologe vergangenen Sommer in einem Brief. „In einer Welt des Chaos verschlingen die größeren Raubtiere einfach die schwächeren“.
Nicht viel anders hat es übrigens Wladimir Putin selbst formuliert: Es sei offensichtlich, dass das „multipolare Wachstumsmodell [die] Aufgabe der starken souveränen Staaten ist, jener Staaten, die sich nicht einem von anderen auferlegten Kurs unterwerfen […]. Nur mächtige und souveräne Staaten können in dieser sich herausbildenden Weltordnung mitreden“, so der russische Präsident beim „St. Petersburg International Economic Forum“ im Juni 2022.
So ist Russland in bestimmter Weise tatsächlich das von Kagarlizki einst so bezeichnete „Imperium der Peripherie“: Es setzt seine Macht ein, um die fragile Staatlichkeit in den zur Peripherie gerechneten Ländern weiter auszuhöhlen und Chaos zu stiften, den Weltmarkt von dessen Rändern her anzugreifen und zu destabilisieren. Mangelnde wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit wird machtpolitisch kompensiert und geht mit Beutemachen Hand in Hand, wie derzeit an den Verhandlungen mit der US-Regierung beobachtet werden kann. Sollte Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnen, wird Putin sich beeilen, die freigewordenen militärischen Ressourcen andernorts zu investieren.

