EIN BUCH GEGEN DIE KRISE: Von China lernen?

„Die Gewinner der Krise“ ist ein originelles Buch über Chinas wirtschaftliche und politische Optionen. Von einem linken Standpunkt aus vergleicht Felix Lee die chinesischen Erfolge mit den westlichen Fehlentwicklungen.

„Ist China nun kommunistisch, oder herrscht hier der Raubtier-Kapitalismus?“, fragt Felix Lee in seiner Einleitung. Zwar sei das Wissen über das ferne Land enorm gewachsen, doch für viele Menschen werde China dadurch nur noch rätselhafter. Lee erkundet in seinem Buch, was der Westen in Krisenzeiten von dem – tendenziell erfolgreicheren – Reich der Mitte lernen kann. Implizit beantwortet er die Frage der Natur des chinesischen Systems: kein liberaler Kapitalismus, und schon gar kein orthodoxer Kommunismus – eher eine sich permanent erneuernde Form der sozialen Markwirtschaft.

Felix Lee, selber chinesischer Herkunft, kurzzeitig bei der woxx angestellt und langjähriger taz-Journalist mit linken Überzeugungen, schreibt nicht nur über China. In seinem Buch geht es mindestens genauso sehr um wirtschaftliche und politische Modelle. Angesichts der Krise steht die Linke vor der Herausforderung, neue Ideen zu entwickeln. Dabei kann der Blick auf die positiven wie die negativen Entwicklungen in China durchaus hilfreich sein.

„Zu fünft oder mehr pro Zimmer lebten meine Verwandten in abgewohnten einstöckigen Behausungen. In diesen Zimmern aßen, arbeiteten und schliefen sie.“ Seinen Erinnerungen an den ersten China-Besuch 1980 stellt Lee die heutige Lebenssituation gegenüber: „Technisch sind ihre Wohnungen inzwischen moderner ausgestattet als meine in Berlin.“ Indem die Volksrepublik mit einer Mischung von Kapitalismus und staatlicher Kontrolle mehr als 300 Millionen Menschen aus der Armut geholt hat, beschämt sie die westlichen Entwicklungsexperten: „Allein China wird es zu verdanken sein, dass die Welt die im Jahr 2000 vereinbarten Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 noch erreichen wird.“

Die 36 Stratagemeww

Auch auf die Finanzkrise von 2008 hat China geschickt reagiert: Mit einem konsequenten Konjunkturprogramm wurde die Wirtschaft am Laufen gehalten. Die von Lee angeführten zweistelligen Wachstumsraten – „als wäre nichts gewesen“ – haben sich seit dem Erscheinen des Buches im vergangenen Jahr zwar wieder vermindert. Richtig bleibt aber, dass Peking das Konjunkturprogramm, wie auch den Fünfjahresplan bis 2015, viel konsequenter auf die Förderung von Umwelttechnologien ausgerichtet hat, als dies im Westen bei vergleichbaren Programmen der Fall ist.

„Vorteil der Chinesen: Sie haben einen Plan“ übertitelt Lee einen Abschnitt, in dem er das fernöstliche Modell erläutert. Dazu gehört die gezielte Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut: Indem man mit Gesetz und Polizei gegen Landflucht vorgeht, um der Slumbildung in den Städten vorzubeugen, aber auch indem man die Schaffung von Arbeitsplätzen ins Zentrum der wirtschaftlichen Aktivitäten stellt. Letzteres sei auch in Deutschland in der Nachkriegszeit als „rheinischer Kapitalismus“ praktiziert worden, stellt Lee nostalgisch fest. Und die chinesische Führung plant weiter: „Offensichtlich sollte erst das rasante Wachstum kommen, jetzt folgt eine gigantische Umverteilung – die wahrscheinlich größte, die es in der Weltgeschichte je gegeben hat.“

In der Tat ist Peking dabei, ein neues, postkommunistisches Sozialversicherungssystem aufzubauen. Bei der Finanzierungsfrage führt Lee das Chongqing-Modell an, das von dem inzwischen in Ungnade gefallenen Spitzenpolitiker Bo Xilai gefördert wurde. Die Theoretiker dieses Modells suchen einen Mittelweg zwischen dem amerikanischen Nachtwächterstaat und den europäischen Wohlfahrtsstaaten mit ihren „investitionshemmenden“ Steuerquoten: „Der Staat soll am Gewinn der Unternehmen mitverdienen, und zwar nicht nur durch Steuereinnahmen, sondern unmittelbar als Eigentümer.“ Damit stellt der Buchautor eine originelle Form der staatlichen Finanzierung vor, blendet aber das Problem der Steuergerechtigkeit in China aus.

Der rote Drachen

Beispielhaft ist in Lees Augen die Entscheidung, die Finanzwirtschaft und insbesondere die Banken einer starken staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Das chinesische Beispiel zeige, dass Banken in Staatshand keineswegs ineffizient seien, sie könnten im Gegenteil sogar „ordentliche Gewinne“ einfahren. Die Beschränkungen bei komplexen Finanzprodukten hätten den Banken ebenfalls nicht geschadet, wohingegen die Aufhebung dieser Beschränkungen in den westlichen Ländern der erste Schritt in die Finanzkrise gewesen sei. Auch die Immobilienblase und die Anhäufung von Dollarreserven sieht der Buchautor weniger kritisch als die meisten Analysten. Der Immobilienboom sei ein Nebeneffekt der massiven Urbanisierungspolitik, die darauf abzielt, bis 2050 den Anteil der Landbevölkerung auf 15 Prozent abzusenken. Und die zwei Billionen Dollar, die die Zentralbank in amerikanische Staatsanleihen angelegt hat, sind für Lee die Folge der chinesischen Ungeschicklichkeit in Sachen Vermögensverwaltung.

Leider geht der Autor nicht auf die Frage ein, ob die strenge Reglementierung der Finanzmärkte aufrechterhalten werden kann. Französische Experten wie François Godement und Michel Aglietta glauben zum Beispiel, dass die niedrigen Sparzinsen, auf denen die Profite der Staatsbanken beruhen, angepasst werden müssen. Unklar ist ebenfalls, ob die teilweise Öffnung der Finanzmärkte nicht neue Möglichkeiten schafft, die staatlichen Kontrollen zu umgehen, und so mittelfristig eine vollständige Öffnung erzwingt. Was das währungspolitische Ungleichgewicht zwischen Yuan und Dollar angeht, bleibt Lee nicht beim Verweis auf die „amerikanische Schuldensause“ stehen: „So wichtig es für die Entwicklung des Landes bisher gewesen ist, mit einem staatlich kontrollierten Yuan ein Fundament für Chinas Wirtschaft zu schaffen – die Zeit ist reif für einen höher bewerteten Yuan.“

Seit Jahren ist woxx-LeserInnen der Name „Toyota Prius“ ein Begriff. Sie werden sich vermutlich an Modellbezeichnungen wie „BYD e6“ gewöhnen müssen. Nachdem Japan mit seinen Hybridfahrzeugen den Markt der verbrauchsarmen Wagen aufgerollt hat, versucht nun China, die Vorreiterrolle bei den reinen Elektroautos zu übernehmen. Dafür betreibt das Land eine konsequente Industriepolitik – etwas, das von Neoliberalen als marktverzerrend und schädlich angesehen wird. Was bei Solarpanels und Windrädern funktioniert hat, dürfte auch den Elektroautos zum Erfolg verhelfen, meint Lee. Und die Eingriffe des chinesischen Staates in die Wirtschaft beschränken sich nicht auf indirekte Hilfen wie Förderprämien und Forschungsgelder. Ein Großteil der Firmen ist weiterhin in staatlicher Hand – und erwirtschaftet trotzdem gewaltige Gewinne. Zwar ist Privatisieren in unseren Ländern immer noch in Mode, doch: „Mit Chinas zunehmendem Einfluss auf die Weltwirtschaft wird sich für den Westen verstärkt die Frage stellen, inwiefern der Ausbau einer Staatswirtschaft nicht doch wieder notwendig wird.“

Starker Staat – starke Demokratie

Angesichts der Krise ist dies nicht die einzige Herausforderung, vor die Chinas wirtschaftliches und politisches Modell den Westen stellt. Lee hält das Versagen unserer Regierungen bei der Krisenbekämpfung für gefährlich: „Das Vertrauen in die Demokratie ist das eigentliche Opfer der Krise.“ Der Vergleich zwischen China und dem Westen werfe Fragen auf wie: „Werden die westlichen Demokratien nicht längst von Lobbyisten unter Druck gesetzt, die dringend notwendige Veränderungen mit aller Macht zu verhindern wissen? Und heißt das wiederum, nur ein autoritärer Staat sei imstande, sich dem weltweiten Finanzgebaren zu widersetzen?“

Doch der überzeugte Demokrat Lee erteilt dieser Apologie der „benevolenten Autokratie“ eine Absage: „Freiheit, politische Teilhabe und die Einhaltung der Menschenrechte sind fundamentale Wesensmerkmale einer progressiven Staatsform.“ Und so leitet er aus dem Vergleich drei Lehren zur Erhaltung der Glaubwürdigkeit der Demokratie ab: „Erstens brauchen Politiker und Regierungschefs wieder ein Fernziel, das das Wohl der gesamten Bevölkerung im Blick hat. Dafür muss sich die Politik zweitens stärker vom Einfluss einzelner Interessen freimachen. Und drittens muss der Staat, um wieder handlungsfähig zu sein, sich der Instrumente bedienen können, die es ihm ermöglichen, unmittelbar in das Machtgeschehen einzugreifen.“

Wer nach Argumenten sucht, „den Chinesen“ die Schuld an der sozialen Misere in unseren Ländern zu geben, wird Felix Lees Buch nicht mögen. Oft zeigt sich der Autor begeistert von dem Vorgehen der Pekinger Regierung, und manche Passagen klingen fast wie Lobhudelei oder Propaganda. Ob die Aussage, Zhu Rongjis „größte Leistung“ sei, dass er „Hunderte von maroden Staatsbetrieben konkurrenzfähig für den Weltmarkt machte und damit Hunderttausende Arbeitsplätze sicherte“, dem Urteil der Geschichte standhalten wird, ist unklar. Auch der Satz „Die vorgeschriebenen neun Jahre Schulpflicht werden landesweit eingehalten“ ist etwas pauschal formuliert: Was für registrierte Stadtbevölkerung richtig ist, gilt nicht unbedingt für die ärmliche Landbevölkerung und die nicht registrierten Wanderarbeiter.

Andererseits basiert der Autor seine Darstellung auf Recherchen und Gespräche vor Ort – was ihm einen authentischeren Einblick in die Realität Chinas verschafft als den meisten China-Experten in den westlichen Ländern. In seiner Einleitung kündigt Lee an: „Mit diesem Buch wähle ich bewusst eine Perspektive, die China nicht an den Pranger stellt und bloß von seiner negativen Seite zeigt.“ Die persönliche Note, die hier anklingt, zieht sich auf angenehme Weise durch das ganze Buch. Das Lesevergnügen wird gesteigert durch den Beobachtungssinn des Autors und seine Fähigkeit, pointiert zu formulieren, zum Beispiel wenn er schreibt: „Chinesen sind auf keinen Fall die besseren Kapitalisten.“

Ungeachtet seiner Ankündigung verschließt Lee aber keineswegs die Augen vor, wie er schreibt, „Chinas Schattenseiten“. Er vergleicht das Land mit Taiwan und Südkorea in den achtziger Jahren – bevor die beiden zu Demokratien wurden. Die derzeitige Gesundheitsversorgung wird als „Mehrklassenmedizin …, die vergleichbar ist mit der miserablen Versorgung in den USA oder Großbritannien“ gebrandmarkt, und ganz allgemein hält Lee fest: „In Sachen Sozialpolitik gibt es nicht viel von China abzuschauen.“

Sind diese Missstände für den Autor dabei, behoben zu werden, so betrachtet er das Übel der Korruption als „im politischen System begründet“. Deshalb müsse die Regierung eine unabhängige Justiz und Gewaltenteilung einführen. Auch an die „angebliche Demokratieunfähigkeit der Chinesen“ will Lee nicht glauben und verweist auf erste Fortschritte. Der seither erfolgte Rückschlag in Sachen Menschenrechte ändert nichts an der Richtigkeit der Schlussempfehlung: „Für das Reich der Mitte bietet sich daher an, umgekehrt auch von der Weisheit der westlichen Politikordnung zu profitieren.“ Felix Lees Buch ist übrigens noch nicht in chinesischer Übersetzung erschienen.

Die Gewinner der Krise, Felix Lee,
Rotbuch Verlag 2011

Siehe auch: CHINA GLOBAL: Partner für Luxemburg, Modell für die Welt?

 


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