Interview: „Bis heute hat es eine Geschichtsverfälschung gegeben“

Im Gespräch mit der woxx äußert sich der Präsident des Jüdischen Konsistoriums, Claude Marx, zur offiziellen Entschuldigung des Parlaments und erläutert, wieso diese öffentliche Stellungnahme einen Meilenstein darstellt.

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Claude Marx, Jahrgang 1934, ist seit 2014 Präsident des Jüdischen Konsistoriums in Luxemburg. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg im Untergrund in Frankreich.

woxx: Die Frage einer institutionellen Mitschuld Luxemburgs an der Shoa ist dank des Artuso-Berichts, der am 10. Februar öffentlich vorgestellt wurde, erstmals offiziell gestellt worden. In zahlreichen Kommissionssitzungen haben sich Mitglieder der Chamber mit den Inhalten des Berichts befasst. Ist nach so vielen kleinteiligen Debatten nicht die Luft raus? Und ist es nicht geschmacklos, eine Entschuldigung in derselben Sitzung auszusprechen, in der über den Ausgang des Referendums diskutiert wird?


Claude Marx: Es bot sich nun mal gerade die Gelegenheit. Diese Debatte über den Artuso-Bericht war ja schon lange im Voraus geplant. Es hätte die einzige Debatte an dem Tag werden sollen, so war es auch vorgesehen, aber tagespolitische Ereignisse haben dazu geführt, dass über die Folgen des Referendums möglichst schnell diskutiert werden musste. Man konnte aber, was die Stimmung betrifft, einen großen Unterschied bemerken – zwischen der ersten Debatte über den Artuso-Bericht, die sehr feierlich war und bei der es einen Konsens gab, und der zweiten Debatte, die sehr polemisch verlief.

Aus einem „certain flou“, wie es der vormalige Staatsminister nannte, ist nun eine Gewissheit geworden. Der Artuso-Bericht weist eine „Strategie der transversalen Kollaboration“ nach und konstatiert eine partielle Mitschuld der Regierung. Bettel hat angekündigt, Verantwortung zu übernehmen. Was heißt das genau? Wie müsste in Ihren Augen eine verantwortungsvolle Reaktion aussehen? Reicht eine Entschuldigung aus?


Für mich ist es ganz klar. Einen Anlass für Jean-Claude Juncker, über einen „certain flou“, also eine Grauzone, zu sprechen, hätte es nie gegeben, wenn es nicht jene erste Intervention von Serge Hoffmann und die darauf folgende Carte blanche von Denis Scuto gegeben hätte, die ja wie ein Stich in ein Wespennest war und damit diese Infragestellung der gesamten Verantwortung auslöste. Unserer Meinung nach war es allein dem Druck der Presse, der Zivilgesellschaft und der jüdischen Gemeinschaft – sowie einer gewissen Anzahl von Historikern – zu verdanken, dass Jean-Claude Juncker die Notwendigkeit sah, etwas zu unternehmen. Im September 2013 sind François Moyse, Julien Joseph und ich zu Juncker gerufen worden, der uns zu dem Zeitpunkt sagte: „Ja, wir müssen etwas machen.“ – In Anwesenheit des Abgeordneten Ben Fayot. „Wir werden eine Kommission einberufen und du, Ben Fayot, wirst ein Projekt zum Gedenken an die Shoa (aus)arbeiten.“ Für uns wurde dadurch wirklich der Stein ins Rollen gebracht. Ob uns die Entschuldigung ausreicht? Ja! Denn es bedeutet im Grunde eine Bewusstseinsbildung seitens der Politik, der Zivilgesellschaft – basierend auf der Tatsache, dass es von 1945 bis heute eine Verfälschung der Geschichte gegeben hat. Die Geschichte wurde verkürzt, wurde verfälscht – damit, wie Denis Scuto sagt, die Eliten geschützt würden. Und auch, weil ein gewisser gesellschaftlicher Konsens in der Luxemburger Gesellschaft benötigt wurde.

Das Parlament hat gestern eine Resolution gestimmt, in denen es eine Mitschuld einräumt, das „geschehene Leid“ anerkennt und den Willen bekräftigt, in Zukunft Anstrengungen zu unternehmen, gegen Rassismus und Antisemitismus zu kämpfen. Auch auf die Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung und der Errichtung eines Denkmals wird gepocht. Ist die Resolution ausreichend klar formuliert, oder ist sie nicht doch verwässert? 


Nein, die Resolution ist kohärent und stimmig. Wir stehen dahinter. Ich glaube, dass diese Debatte auf einer auf Fakten basierenden Analyse gründet.

„Die Geschichte wurde verkürzt, wurde verfälscht – damit, wie es Denis Scuto sagt, die Eliten geschützt würden. Und auch, weil ein gewisser gesellschaftlicher Konsens in der Luxemburger Gesellschaft benötigt wurde.“

In den 1980er Jahren hat Paul Cerf bereits eine Reihe Entdeckungen gemacht, die extrem unangenehm sind für die Verwaltungskommission. Er hat zwei Bücher dazu herausgegeben, ist jedoch auf Ablehnung in der Gesellschaft und seitens der Politik gestoßen, die nicht zugeben wollten, was passiert ist. Es gab eine Weigerung der Politik und der Gesellschaft, seine Forschungsergebnisse überhaupt in Betracht zu ziehen. Für uns ist es deshalb ein riesiger Fortschritt, dass eine neue Generation von vom Volk gewählten Politikern sich dessen bewusst geworden ist und nun darauf zurückkommt. Für uns ist das enorm. Sie haben mich gefragt, ob es uns ausreicht: ja! Für uns ist es die politische Geste, die zählt. Es ist ja noch nicht der Schlusspunkt. Das Thema ist mit der symbolischen Geste des Parlaments nicht vom Tisch. Aber für uns stellt dies eine sehr wichtige Etappe dar.

Wie steht es um Reparationszahlungen und Ansprüche der jüdischen Gemeinschaft? Viele der aus Luxemburg Deportierten wurden bis heute nicht entschädigt, obwohl ihre Geschäfte und ihr Eigentum enteignet wurden.


Ich denke, man muss die Situation der „spoliation“ (Anm. d. Redak.: Beraubung/Enteignung) gut kennen. Eine Mehrheit der Juden, die sich bis 1945 in Luxemburg befanden, kam aus dem Ausland. Es gab seinerzeit Luxemburger Juden und ausländische Juden, unter denen man wiederum zwischen zwei Gruppen unterscheiden muss. Einerseits diejenigen, die in den 1920er Jahren aus dem Osten, vor allem aus Polen gekommen waren und hier, bis in die 1940er Jahre hinein, einer ökonomischen Aktivität nachgingen. Viele dieser Leute gründeten Geschäfte, aber viele hatten Schwierigkeiten, die Luxemburger Staatsangehörigkeit zu erlangen. Mit Denis Scuto sind wir bei unseren Recherchen auf eine Reihe von Leuten gestoßen, die die Luxemburger Staatsangehörigkeit beantragt, aber nicht erlangt haben. Das zeigt, dass es zu dieser Zeit bereits ein Klima des Misstrauens gegenüber Juden gab. Die zweite Einwanderungswelle – jene Leute, die ab 1933, und vor allem 1938, gekommen sind – waren deutsche und österreichische Juden. Zur Frage der „spoliation“: Die Luxemburger Juden, die in direktem Zusammenhang mit Deutschland standen, sind im Rahmen der „Wiedergutmachung“ entschädigt worden – aber auch nicht alle. Im Gegensatz zu ihnen haben die ausländischen Juden bis heute keine Entschädigungen oder Reparationszahlungen erhalten. Und es gibt neben dem finanziellen immer auch den psychologischen Aspekt. Es gibt Familien, die noch immer in psychiatrischer Behandlung sind, weil ihr Status bis heute nicht offiziell anerkannt wurde. Diese Familien sind bis heute psychisch traumatisiert.

„Für uns ist es die politische Geste, die zählt. Es ist ja noch nicht der Schlusspunkt. Das Thema ist mit der symbolischen Geste des Parlaments nicht vom Tisch. Aber für uns stellt dies eine sehr wichtige Etappe dar.“

Für die deutschen Juden hat es Entschädigungsleistungen gegeben, allerdings nicht für die Mehrheit. Dieses Problem der „spoliation“ ist für uns immer noch sehr wichtig, weil wir hoffen, dass wir in den verschlossenen oder noch nicht zur Gänze erkundeten Archiven noch Akten und sonstige Hinweise dazu finden, welche Reparationsleistungen es noch zu machen gilt. Das ist auch ein Grund, weswegen die geplante Stiftung zur Erinnerung an die Shoa nicht nur aus einem Erinnerungsort bestehen wird, sondern als Teil eines Projekts gedacht ist.

Wieso hat es Ihrer Meinung nach in Luxemburg so unglaublich lange gedauert, bis die Debatte in Gang gekommen ist? Fehlte es bisher an dem politischen Willen, eine Kollaboration einzuräumen?


Nach dem Krieg gab es mehrere Faktoren, die eine Rolle gespielt haben. Zunächst gab es den Mythos des allgemeinen heroischen Widerstands: „Alle Luxemburger waren Resistenzler. Es gab vielleicht einen Nazi, der sich in einer Ecke versteckt hat, aber …“ Es gingen aber immerhin 10.000 Luxemburger nach Deutschland, weil sie in der Volksdeutschen Bewegung waren, darunter auch „Gielemännercher“. Bei Kriegsende bestand dann – und das unterstreicht auch Artuso – eine gewisses Misstrauen gegenüber der „Exil-Regierung“, die nach England geflüchtet war. Als sie zurückkam, wurde sie nicht gerade freundlich empfangen. Und es gab eine gewisse Kontinuität, weil man bis dahin nicht wusste, ob die Leute im Kreise der Verwaltungskommission gearbeitet hatten. Man wusste nicht, ob sie vielleicht Kollaborateure oder Nazis waren. Während des Krieges waren diese Leute in der luxemburgischen 
Politik integriert, also musste man sie schützen. Es war nötig, einen Weg zu einer sozialen Kohäsion in Luxemburg zu finden. Deswegen umging man die „Judenfrage“. Ich denke, das ist der Hintergrund. Und man muss auch wissen, dass die Berichterstattung der Presse 
während des Krieges extrem negativ gegenüber den Juden war, extrem antisemitisch. Und im Grunde bestand dieses Gefühl auch nach dem Krieg noch fort. Nach dem Krieg sang man noch immer „do ass e Judd 
verreckt“, es gab antisemitische Lieder, es gab hierzulande diese Traditionen.

Das heißt, es gibt bis heute Antisemitismus in Luxemburg, der in der Gesellschaft verwurzelt ist?


Ich weiß nicht, ob es das Ressentiment heute noch immer in der Form gibt. Aber ich denke, unter einigen Luxemburgern schon. Ich denke, die Kirche hat viel getan, damit dieses Ressentiment verschwindet, aber dass es das in traditionsbewussten Familien noch gibt, glaube ich schon.

Herr Kartheiser hat in seinem Redebeitrag in der Chamber die Legitimität des Artuso-Berichts angezweifelt. „Luxemburg war kein Tätervolk, und Lëtzbuerger können stolz auf ihre Geschichte sein“, provozierte er in seiner Rede. Wie stehen Sie dazu? 


Ich habe Vincent Artuso viele Zeugenberichte geliefert, die auf wahren Begebenheiten basieren – von Menschen, die in Luxemburg lebten, und die von der offenen Feindschaft der Luxemburger während des Krieges zeugen. Für mich sind das Gewissheiten und keine Hypothesen. Ich denke, dass Herr Kartheisers Aussagen von seinem Wunsch herrührten, die traditionelle Luxemburger Gesellschaft an sich zu binden. Aber Artusos Recherchen basieren wesentlich stärker auf Dokumenten als die polemischen Aussagen von Herrn Kartheiser.

Wie weit sind die Überlegungen zur Schaffung eines Mahnmals gediehen? 


Das Projekt von Shelomo Selinger, eine Steinskulptur aus Granit, ist schon sehr weit fortgeschritten. Er war auch schon hier in Luxemburg und hat sich mit dem Premierminister und der Bürgermeisterin getroffen, die zur Hälfte für das Projekt zuständig sind. Nun kennt Shelomo Selinger auch den Ort. Das Mahnmal wird auf einem kleinen Platz unweit der Kathedrale errichtet. Im Sommer 2017 wird es eingeweiht.

Siehe auch Excuses officielles : « Actes fautifs ».


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