Backcover: „Als Künstler lebe ich oft zwischen zwei Welten“

Wer durch Luxemburg-Stadt spaziert, ist seinen Werken – insbesondere seinem wiederkehrenden Fenster-Motiv – schon begegnet. Durch seine Kunst, die Graffiti, Fotografie und Performance vereint, erzählt Thomas Iser menschliche und vielschichtige Geschichten. Sein Ziel: Hoffnung wecken. Ein Gespräch mit einem außergewöhnlichen Kreativen, dessen Projekte diesen Monat das Backcover der woxx schmücken.

Article en français

woxx : Thomas, du wurdest in einem Artikel einmal als „luxury homeless“ beschrieben – ein Ausdruck, der neugierig macht. Trifft diese Beschreibung noch auf dich zu?

Das Fenster ist Thomas Isers Signatur – es ist überall in Luxemburg-Stadt (und außerhalb) zu finden, wie hier auf der Rue de Hollerich. (Foto: woxx)

Ja, sie passt immer noch zu mir. Als Künstler lebe ich oft zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite gibt es eine gewisse Prekarität – Künstler zu sein ist nicht einfach, vor allem finanziell. Und dennoch verkauft man Werke an Menschen, die es sich leisten können. Kunst bleibt ein Luxus. Deshalb arbeite ich auch gerne auf der Straße, um Kunst für alle zugänglich zu machen. Ich reise viel, übernachte oft bei Freunden, suche nach günstigen Möglichkeiten. Ich lebe am Rand vieler Konventionen, bin im gewissen Sinne freier, aber ich träume davon, eines Tages ein richtiges Zuhause zu haben.

Wenn du auf deinen Werdegang zurückblickst: wie bist du der Künstler geworden, der du heute bist?

Ich hatte eine schwierige Kindheit. Für mich ist Kunst machen keine wirkliche Entscheidung gewesen. Es ist eine Notwendigkeit, eine Leidenschaft, die eng mit meinem Leben verbunden ist. Ich habe mich gefragt, wie ich die beste Version meiner selbst werden und mich dabei gleichzeitig heilen kann. Als Antwort habe ich mich der Kunst verschrieben. Ich behaupte nicht, bereits am Ziel angekommen zu sein, aber ich bin zumindest auf dem Weg.

Deine Kunst fällt auf, besonders das Fenster-Motiv kommt häufig vor. Man findet sie vor allem an verlassenen Gebäuden. Was bedeutet dieses Fenster für dich?

Das Fenster ist für mich ein sehr wichtiges Symbol. Es steht für Freiheit, einen Übergang, bei der Ankunft auf der Erde sowie beim Abschied. Es symbolisiert auch Hoffnung. In meinem Leben gab es Zeiten, in denen ich mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert war, aber ich habe immer an die Hoffnung geglaubt. Das Fenster ist das Licht am Ende des Tunnels. Mein Fenster ist auch mein einziges Tattoo, auf der Hand. Ich habe es mir stechen lassen, damit man auf den Fotos des Projekts „Universal Humanity“ erkennt, dass ich es bin. Es ist meine Signatur. An dem Projekt arbeite ich bis heute weiter, aber langsamer – manchmal im karitativen Rahmen. Ich sammle weiterhin Fotos, poste sie aber nicht immer. Dafür klebe ich viele in der Stadt. Es ist ein endloses Projekt. Ich werde damit nie aufhören.

Im Rahmen des Projekts „Universal Humanity“, das die Diversität und universelle Menschlichkeit feiert, sind weltweit über 10.000 Porträts entstanden. (© ZDF et Tatiana Vdovenko)

„Universal Humanity“ ist ein partizipatives Kunstwerk, in dem du Menschen auf der ganzen Welt fotografierst, während du ihnen eine kleine Karte vor das rechte Auge hältst. Auf dieser Karte ist dein eigenes Auge zu sehen, so wie du es in einer Performance im Stil des Kintsugi bemalt hast. Dadurch wird jedes Porträt zu einer Fusion deines Blicks mit dem der porträtierten Person – eine Brücke zwischen zwei Menschen. Danach bittest du sie, von ihrem Traum zu erzählen. Weißt du, wie viele Menschen du inzwischen fotografiert hast?

Ganz sicher mehr als 10.000. Ich habe dabei festgestellt, dass viele Menschen dieselben Sehnsüchte haben, egal aus welcher Kultur sie stammen. Einer der häufigsten Träume ist übrigens einmal die Welt zu bereisen. Aber es gibt auch sehr rohe, sehr ehrliche Antworten. Das gefällt mir besonders.

Und was ist dein eigener Traum?

Er hat sich mit der Zeit verändert. Früher habe ich davon geträumt, in einer Welt ohne Grenzen zu leben, mit allem, was dazugehört. Ich denke immer noch, dass das ein Ideal ist, dem wir nachstreben sollten. Aber heute ist mein Traum, in Frieden zu sterben. Das klingt einfach, aber es ist tatsächlich sehr schwierig. Ich glaube, um das zu erreichen, muss man möglichst oft seinem Herzen folgen und das ist schwer. Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde. Es ist jedenfalls ein persönlicher Weg, den ich durch meine Werke mit der Welt teile.

Wenn du der Welt heute eine Botschaft mitgeben könntest, was würdest du sagen?

Ich wünsche mir, dass meine Kunst in dieser überladenen Welt einen Raum zum Durchatmen schafft: einen Moment der Ruhe, in dem sich jeder wieder mit sich selbst verbinden kann. Ich wünsche mir, dass sich Menschen durch meine Kunst ein wenig leichter, ein wenig lebendiger fühlen. Dass sie, wenn auch nur kurz, das Gefühl erleben, mit anderen und mit etwas Größerem verbunden zu sein. Momentan male ich oft Blumensträuße in Vasen. Die Vase, das sind wir. Wir sind die Gefäße unserer gesammelten Erfahrungen, schmerzhafte, wie auch schöne. Es liegt an uns, unseren inneren Garten zu pflegen und auf unser zerbrechliches Erdreich Acht zu geben. Selbst unsere Wunden können so fruchtbar werden. Sie sind Material für Kreativität. Es ist eine Art Alchemie, die das Schmerzvolle in etwas Lichtvolles verwandelt. Wie im Kintsugi, wo Risse mit Gold repariert werden und dadurch zur Stärke werden. Meine Blumen werden nicht welken, denn sie wachsen im Unsichtbaren und sprechen zur Seele.

Du setzt deinen Körper in manchen Performances auch im Stil des Kintsugi, schwarz bemalt und von goldenen Linien durchzogen, in Szene.

Die Mona Lisa, die aus Bildern des „Universal Humanity“ Projekts zusammengesetzt ist. Zu finden im Grund, nahe dem Aufzug zum Gerichtsviertel (Foto: woxx)

Ja, manchmal. Selten, aber ich bleibe diesem Weg treu. Ich versuche dafür, Orte mit Bedeutung zu wählen. Auf manchen Projektfotos sieht man auch nur meine bemalte Hand: schwarz, mit goldenen Bruchlinien. Jeder zerbrochene Teil meines Körpers repräsentiert den Menschen – alle sind unterschiedlich, aber gemeinsam bilden sie etwas Lebendiges und Einzigartiges. Fehlt ein Teil, gerät das Gleichgewicht ins Wanken, ganz gleich, wie klein dieser Teil ist. Darin liegt eine universelle Form von Gleichwertigkeit.

Über den Künstler

Geboren 1987 in Metz, ist Thomas Iser ein autodidaktischer französisch-luxemburgischer Künstler, der in den Bereichen Malerei, Fotografie und Performance arbeitet. Nach einer schwierigen Kindheit entdeckt er in seiner Jugend Graffiti und Skateboarding als Ausdrucksform und Fluchtweg. Sein Werk ist tief autobiografisch. 2016 startet er das Projekt „Universal Humanity“ – eine Porträtserie, in der die Teilnehmenden mit einer Karte posieren, die sein eigenes im Stil des Kintsugi gemaltes Auge zeigt, während sie ihre Träume mitteilen. Das Projekt, das die menschliche Vielfalt feiert, umfasst Porträts von Pharrell Williams, Gigi Hadid oder Willem Dafoe. Thomas Iser hat seine Werke unter anderem in Luxemburg, London, Paris, Miami und Athen ausgestellt. Er reist weiterhin und schafft Kunst, mit dem Ziel, eine Botschaft der Einheit und persönlichen Wandlung zu vermitteln.
Mehr Infos: www.thomasiser.com / Instagram: @thomasiser


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Die Kommentare sind geschlossen.