Die Rockband Sanhedrin: „Es ist ein Akt der Rebellion“

Vergangene Woche veröffentlicht, fährt das neue Album des New Yorker Hard-Rock-Trios „Sanhedrin“ überschwängliche Kritiken ein. Ein Gespräch mit Sängerin und Bassistin Erica Stoltz über ihre Musik, die US-Politik, ihr kommunales Engagement in Brooklyn und als Professorin – sowie über ihre Luxemburger Familienbande.

«Wir sind ziemlich auf derselben Wellenlänge»: Beim New Yorker Rock-/Metal-Trio «Sanhedrin» stimmt die Chemie. (Foto: Suzanne E. Abramson)

woxx: Im Mai beginnt Ihre Europa-Tour, aber leider tritt Ihre Band „Sanhedrin“ wieder nicht in Luxemburg auf.

Erica Stoltz: Ich habe zwar noch nie dort gespielt, aber kulturell bin ich Luxemburgerin!

Ach, wirklich? Ich dachte, Ihr Vater kommt aus Frankreich.

Ja, aber seine Familie kam vor Generationen teilweise aus Luxemburg. Mütterlicherseits stammt die Familie meines Vaters aus Flandern, väterlicherseits aus Luxemburg.

Aber er ist in Frankreich aufgewachsen?

Er ist außerhalb von Paris in Nanterre aufgewachsen und wanderte 1963 in die Vereinigten Staaten aus, als er 17 Jahre alt war. Er wollte nicht mit der französischen Armee in Algerien an die Front. Und ich glaube, er wollte auch weg von seiner Familie. Also ging er in die USA und meldete sich dort zur US-Armee. Damals sprach er noch überhaupt kein Englisch. Er wurde in Deutschland stationiert, lernte Englisch zu sprechen, Auto zu fahren und den Umgang mit der frühen Computertechnologie.

Und bei der US-Armee konnte er einen Fronteinsatz vermeiden?

Ja, das war kurz vor Vietnam. Er hat seine vier Jahre abgeleistet und hatte Glück.

Haben Sie noch eine Verbindung zu Frankreich?

Ich habe immer noch Familie dort, der ich sehr nahe stehe. Ich versuche, sie so oft wie möglich zu besuchen. Seit meine Band „Sanhedrin“ aktiv ist, habe ich die meisten meiner Reisen mit der Band unternommen. Deshalb war ich nicht mehr so oft in Frankreich, aber im letzten Sommer war ich dort.

Ihr neues Album „Heat Lightning“ hat bereits einige überschwängliche Kritiken erhalten. Können Sie diesen Erfolg jetzt genießen? Oder sind Sie eher ein Mensch, der schon an die nächsten Herausforderungen denkt?

Das ist eine gute Frage. Ich erlaube mir tatsächlich, es sehr zu genießen. Als „Lights On“ (das vorherige Album; Anm. d. Red.) herauskam, beendete ich ziemlich genau zur gleichen Zeit eine 16-jährige Ehe. Ich war damals also sehr abgelenkt und konnte die Früchte der Arbeit nicht wirklich genießen. Diesmal ist es anders. Wir haben hart an dieser Platte gearbeitet und dafür gesorgt, dass sie anders produziert wurde, und die Leute, die daran beteiligt waren, Matt Brown und Jerry Farley, haben sehr sorgfältig gearbeitet. Ich bin stolz darauf, wie das Album geworden ist.

Sie sind also kein Mensch, der dazu neigt, gleich wieder von Selbstzweifeln heimgesucht zu werden, kurz nachdem er etwas erreicht hat?

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich so war. Je mehr Anerkennung ich bekam, desto unwohler fühlte ich mich in meiner Haut. Aber ich habe es geschafft, das zu überwinden.

Hat einen Besuch in Ostberlin kurz vor dem Fall der Mauer als prägende Erfahrung empfunden: Erica Stoltz, Bassistin und Sängerin von Sanhedrin. (Foto: Suzanne E. Abramson)

Haben Sie einen Rat, wie man diese negative Einstellung gegenüber der eigenen Arbeit überwinden kann?

Ich habe eine Freundin, die Harfenspielerin ist. Einmal war sie sehr nervös, weil sie ein Vorspiel hatte. Und ich weiß noch, wie ich ihr sagte: „Hör zu, spiel für niemanden außer für dich selbst und deine Muse. Was auch immer du tust, denke daran, dass das der wichtigste Teil deines Schaffens ist.“

Könnte man so auch die Philosophie von Sanhedrin beschreiben? Das jetzige Trio ist von Anfang an konstant zusammen geblieben, ohne dass die Besetzung gewechselt hat.

Auf jeden Fall, und wir hatten Glück. Anfangs haben wir uns entschieden, zu dritt zu bleiben, weil es logistisch viel einfacher ist, so zu arbeiten. Aber auch klanglich waren wir in der Lage, etwas zu schaffen, mit dem wir uns als Band wirklich wohl fühlen. Ich glaube, wenn wir Songs schreiben, tun wir das mehr oder weniger für uns selbst. Wir denken nicht wirklich über die Konsequenzen oder die Reaktion des Publikums nach.

Ich konnte das neue Album bereits hören und, es ist mindestens genauso gut wie das vorangegangene. Die Songs haben etwas mehr Punch.

Ich denke auch. Ich erinnere mich, dass ich zu Jeremy (Sosville; Gitarre) sagte, dass ich dieses Mal ein etwas aggressiver klingendes Album machen wollte. Und ich glaube, das ist uns gelungen.

In einem Interview sagte Jeremy, dass Sanhedrin sich viel von Bands der 1970er- und 1980er-Jahre inspirieren lasse, vor allem wenn es darum geht, Stile zu mischen und zu experimentieren. Er wolle, dass Sanhedrin-Alben eine ähnlich farbenfrohe Reise wie die von „Thin Lizzy“ oder „Ufo“ seien. Würden Sie ihm bei dieser Aussage zustimmen?

Ja, denn eine farbenfrohe Reise klingt nach jeder Menge Spaß (lacht). Ich habe in vielen Bands gespielt und viele Platten aufgenommen, aber nicht alle waren in der Metalszene angesiedelt. Eine Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass man nicht so leicht Partner beim Songwriting findet, die ähnlich effizient wie das Sanhedrin-Universum beim Komponieren sind. Das ist einzigartig.

„Man findet nicht so leicht Partner beim Songwriting, die ähnlich effizient wie das Sanhedrin-Universum beim Komponieren sind.“

Wie wichtig ist der Aspekt der Verarbeitung von eher unerfreulichen Aspekten des Lebens in Ihrer Musik, sei es politisch oder persönlich?

Ich gehe beim Texteschreiben so vor, dass ich diese Dinge einfließen lasse. Bei unserem Vorgängeralbum „Lights On“ war das wahrscheinlich etwas offensichtlicher als dieses Mal (lacht). Damals waren wir Zeugen einer großen Brutalität im Umgang mit schwarzen Menschen in den USA, und während der Pandemie wurde ein Bewusstsein dafür geweckt. Es begann eine Diskussion, und ich reagierte darauf. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass mich der christlich geprägte Faschismus im Moment am meisten beschäftigt.

Wie die konservative Wende und die Rückkehr der Religion als politische Kraft…

Genau, all das. Ich möchte das alles in Schutt und Asche legen.

Lieben es, das Publikum ausrasten zu sehen: Sanhedrin spielen dreckigen Rock, der erst live voll zur Geltung kommt. (Foto: Marc Braner)

Glauben Sie, dass dies eine große Rolle bei der Wiederwahl von Präsident Donald Trump in den USA gespielt hat?

Oh ja. Diese christlichen Fundamentalisten haben ihn gestützt. In Amerika gibt es diese ganze verworrene Philosophie, wenn man reich werde, liege das daran, dass Gott einen liebt. So einen Schwachsinn hört man in verschiedenen christlichen Lagern. So lässt sich vieles rechtfertigen, das eigentlich inakzeptabel ist.

In einem früheren Interview haben Sie gesagt, dass Sie, wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten, gerne mit „MC5“ und den „Stooges“ in Ann Arbor in den frühen 1970er-Jahren herumhängen würden. Es ist zwar schon eine Weile her, dass Sie das gesagt haben, aber was hat Sie an diesem Gedanken so gereizt?

Ich fühle noch immer so. MC5 sind meine Lieblingsband überhaupt. Ich stehe schon lange auf sie und finde ihre Art des Aufbegehrens sehr ansprechend.

Ist die Band ein musikalischer Einfluss für Sanhedrin?

Sie sind definitiv ein musikalischer Einfluss für mich, die ganze Zeit. Ich liebe ihre Gesangsharmonien und den eindringlichen Sound.

Das hatte auch mit der politischen Haltung von MC5 zu tun, oder? Das Gespür für Dringlichkeit, das die Musiker der Band auf politischer Ebene hatten, haben sie in ihre Musik übertragen.

Ich weiß nicht, ob Sanhedrin diesen Teil unbedingt übernommen hat. Es ist nicht so, dass wir politisch unterschiedlich sind; wir sind ziemlich auf der gleichen Wellenlänge, aber wir haben gemeinsam als Künstler*innen entschieden, dass unsere politische Haltung zwar irgendwann deutlich werden wird, sie muss aber nicht im Zentrum der Bandidee stehen.

Musik als Akt der Rebellion ist also nicht notwendigerweise ein wichtiger Teil von…

Sanhedrin? Ich glaube, das ist untrennbar miteinander verbunden. Es ist ein Akt der Rebellion, klar. Besonders wenn in der heutigen Zeit in Amerika – und wahrscheinlich ist es in Europa genauso – ein Haufen Kids, die nicht viel Geld haben, eine Band gründen und sich zusammenschließen wollen. Das ist dann wirklich nur ihr schierer Wille, der das möglich macht. Und das ist ein Akt der Rebellion.

Ihre Mutter war eine soziale Aktivistin und Community-Organisatorin in Brooklyn. Hat sie Sie stark beeinflusst?

Oh, ja. Ich hatte sogar die Gelegenheit, einen kleinen Dokumentarfilm über ihre Arbeit zu drehen. Ich habe ihr definitiv nachgeeifert und das auch in meinem Arbeitsalltag umgesetzt. Von Beruf bin ich Tontechnikerin, ich bin gewerkschaftlich organisierte Bühnenarbeiterin. Eines der Dinge, die ich wirklich gerne tue, ist zu lehren und meine Erfahrungen weiterzugeben, denn in New York ist das eine große Subwirtschaft, und es gibt hier eine Menge Arbeit in diesem Bereich. Ich bin auch Professorin in der Abteilung für Unterhaltungstechnologie an der City University of New York (CUNY). Seit zehn Jahren bin ich dort und sehe, wie meine einstigen Student*innen zu Kolleg*innen werden.

Sie haben also einen vollen Terminkalender?

Ja, es ist nicht billig, hier in New York zu leben. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich unterrichte. Ich mache es, weil es mir wirklich Spaß macht.

Sie waren auch selbst in der Gemeinwesenarbeit engagiert.

Ja, das ist eine lange Geschichte. Meine Mutter ist 2015 plötzlich gestorben und ich habe ihre gemeinnützige Organisation übernommen. Sie hieß „South Brooklyn Local Development Corporation“. Es ging um Gemeindeentwicklung, aber nicht um Immobilien. Es ging eher um die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Unterstützung von Kleinunternehmen und die Durchführung von Nachhilfeprogrammen für die örtlichen Schulen. Sie richtete eine Küche in einer der Schulen ein und gründete ein Kochkunstprogramm. Das habe ich von 2015 bis 2019 dann auch gemacht. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, ein betreutes tägliches Nachmittagsprogramm an den Schulen zu entwickeln, es per Crowdfunding zu finanzieren und es dann in verschiedenen Gemeindezentren und an verschiedenen Orten in Brooklyn umzusetzen. Als Sanhedrin zu touren begann, beschloss ich, damit aufzuhören, weil ein Teil der Arbeit darin bestand, diese wirklich großen Straßenfeste zu organisieren und ich nicht mehr die Zeit dafür aufbringen konnte. Außerdem war das Viertel sehr bürgerlich geworden. Und die kleinen Geschäfte waren nicht mehr so gemeinschaftsorientiert wie damals, als meine Mutter anfing.

Menschen zu kritischem Denken zu befähigen, gehört für Sie zu den wichtigsten Aufgaben. Warum ist das so?

Weil ich der Meinung bin, dass unzureichende Bildung der Grund ist, warum wir in dem Schlamassel stecken, in dem wir uns befinden. Kritisches Denken ist ein Teil der Bildung. Dafür braucht man eigentlich keine formale Ausbildung. Aber die Fähigkeit, zu diskutieren und den Ideen anderer zuzuhören und einen Austausch darüber zu führen, ist etwas, das wie eine aussterbende Kunst ist. Ich denke, es ist wirklich wichtig, diese Kommunikationswege offen zu halten und auch in der Lage zu sein, alles zu hinterfragen, was man sieht.

Das wird in einer Zeit, in der Politiker*innen versuchen, Fakten zu ihren Gunsten zu verdrehen, wahrscheinlich noch viel wichtiger.

Genau. Und gerade im derzeitigen amerikanischen Medienklima ist die einzige Möglichkeit, um zu verstehen, was vor sich geht, sich jenen Medien zuzuwenden, die beide Seiten berücksichtigen, die die Absichten, Interpretationen und Argumente beider Seiten untersuchen – es gibt die eine Seite, es gibt die andere Seite und es gibt die Wahrheit.

Das ist auch die eigentliche Aufgabe des Journalismus.

Ganz genau. Man muss in der Lage sein, alles, was man hört, kritisch zu durchdenken. Ich glaube, dass wir in Amerika die öffentliche Bildung in den letzten Generationen so weit heruntergefahren haben, dass das Geistesleben nicht mehr wichtig ist, dass es keine Priorität mehr hat.

Glauben Sie, dass ein Engagement wie jenes von Ihnen und Ihrer Mutter, die Arbeit auf kommunaler Ebene also, zunehmend wichtiger wird, weil die großen Medien eher die kulturellen Unterschiede betonen anstatt den gemeinsamen Interessen, beispielsweise jene der Arbeiterklasse?

Was die Arbeiterklasse und das Klassenbewusstsein und all das angeht, gibt es in Amerika im Moment so etwas wie eine Mittelklasse nicht. Entweder ist man reich oder man strebt danach, reich zu sein, oder man lebt in relativ prekären Verhältnissen. Und ich sage relativ, weil es an der Ecke meiner Straße immer noch einen „7-Eleven“ gibt, der rund um die Uhr geöffnet hat. Ein gewisses Maß an Annehmlichkeiten ist immer noch vorhanden. Aber die meisten von uns sind bloß eine Gesundheitskrise vom finanziellen Ruin entfernt. Noch eine Pandemie, oder, Gott bewahre, man bekommt Krebs, oder man muss sich eine Woche freinehmen, man bekommt Long Covid – was auch immer es ist, die meisten von uns sind nur eine Krise davon entfernt, am Arsch zu sein.

„Eines der Dinge, die ich wirklich gerne tue, ist zu lehren und meine Erfahrungen weiterzugeben.“

Vor welchen Aspekten von Trumps Politik fürchten Sie sich am meisten, wenn man die Entwicklungen der letzten Wochen betrachtet?

Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich fürchte mich nicht. Ich habe keine Furcht, weil ähnliches schon so vielen anderen Menschen in anderen Ländern passiert ist. Es gibt nichts Besonderes an Amerika, das besagt, dass so etwas hier nicht passieren kann. Aber ich bin auch in einer sehr glücklichen Lage, weil ich einfach nach Frankreich abhauen könnte. Ich habe eine doppelte Staatsbürgerschaft.

Aber Sie denken im Moment nicht daran, die USA zu verlassen?

Nein. Wenn allerdings damit begonnen wird, Medienleute zu verhaften, werde ich wahrscheinlich ein bisschen Angst bekommen.

Der Albumtitel „Heat Lightning“ bezieht sich auf den Klimawandel und seine Auswirkungen. Als ich den Text des Titeltracks las, dachte ich sofort an die Waldbrände in Los Angeles. Glauben Sie, dass wenn derlei Auswirkungen des Klimawandels auch in den westlichen Industrieländern nun sichtbarer werden, das Bewusstsein für das Problem geschärft werden kann?

Ich glaube nicht, dass sich Amerika wirklich vom Klimawandel betroffen fühlen wird, solange er sich nicht in unserem Portemonnaie niederschlägt. Die Brände in Los Angeles könnten allerdings unsere Geldbörsen treffen. Denn die Versicherungsbranche kann nicht ausgleichen, was verloren gegangen ist. Aber ich habe den Song zwei Jahre vor dem LA-Inferno geschrieben. Es gab Brände in Quebec, die sich Richtung Süden bewegten, und der Himmel war den ganzen Tag rot – von Bränden, die Tausende von Meilen entfernt waren.

Ich habe gelesen, der Text des Songs „Blind Wolf“ sei von der gemeinsamen Faszination der Band für religiöse Kulte inspiriert. Woher rührt diese Faszination?

Wenn man eine Pressemitteilung für das neue Album schreiben muss, klammert sich jeder an irgendwas, um eine Interpretation zu liefern, und das klang eben nach einer sehr starken Phrase, die als Blickfang wirkt. Für mich geht es in dem Song eher um ein paar unterschiedliche Dinge. Um ganz ehrlich zu sein: Manchmal, wenn ich Texte schreibe, habe ich erstmal gar keine konkrete Bedeutung im Sinn, die formt sich erst nach und nach heraus. Das war auch hier der Fall.

Sie folgen also einfach assoziativ einem Einfall oder einer Fantasie…

Ganz genau. Und als der Song fertig war, wurde mir klar, dass die einzige Bedeutung hinter dem Text darin besteht, dass man seine animalischen Instinkte verliert, wenn man das Glaubenssystem eines anderen übernimmt.

Es ist also nicht die Rückkehr zum tierischen Instinkt, sondern dessen Verlust? Man könnte sich auch vorstellen, dass manche Sekten versuchen, bestimmte animalische Instinkte auszunutzen, wie Angst oder Aggressivität und so weiter.

Das ist interessant. Ich habe das Gefühl, dass seit 9/11 weltweit Angst erzeugt wird, und zwar in einem Ausmaß, dass ich … ich weiß auch nicht. Es wird einem buchstäblich beigebracht oder erwartet, dass man Angst vor dem Wetter oder vor allem Möglichen hat.

Angst spielt in der Politik eine große Rolle, da stimme ich Ihnen völlig zu. Meiner Meinung nach ist sie zentral für die Lähmung der Menschen, weil man dann nicht mehr klar denken kann. Man muss die Angst überwinden, indem man die Dinge analysiert und ihnen auf den Grund geht, und dann kann man dagegen vorgehen und sie zum Besseren verändern.

Das stimmt. Ich wohne in einer Wohnung in einem alten Gebäude, gebaut in den 1940er-Jahren. Es hat etwas von einem deutschen Sozialwohnungsbau an sich. Das waren mal Arbeiterwohnungen, sehr zweckmäßig, aber total ordentlich, sogar schön, mit Grünfläche in der Mitte und allem. Und ich beginne mich darauf zu konzentrieren, meine Nachbarn hier kennenzulernen, weil ich das Gefühl habe, dass sie meine besten Verbündeten in allem sein werden, was das Leben künftig zu bieten hat. Das ist für mich der Weg, Ängste abzubauen: Indem ich mich mit den Menschen um mich herum verbünde. Mit 54 bin ich ein bisschen älter als die meisten Metalheads und ich bin in den 1970er-Jahren aufgewachsen. Es war sozusagen eine rosige Zeit, nach den Erfolgen der Bürgerrechtsära, vor dem Backlash, vor Reagan, all das. Als ich aufgewachsen bin, waren meine Nachbarn meine Freunde. Ich fühlte mich wohl, weil ich wusste, wer um mich herum lebte und mit wem ich etwas anfangen konnte. Und nicht alle Kinder, mit denen ich aufgewachsen bin, hatten denselben Hintergrund wie ich.

Inwieweit hat es Sie beeinflusst, dass Ihr Vater aus Europa beziehungsweise aus Frankreich stammte?

Die Möglichkeit, als Kind ständig dorthin zu fahren und zweisprachig zu sein, ist etwas, das einem hilft, sich zu entfalten. Ich bin als Rucksacktouristin viel herumgereist. Als ich 19 war, bin ich mit dem Rucksack von Aalborg in Dänemark über Deutschland bis nach Griechenland gereist. Am 8. November 1989 kamen wir in Berlin an. Und wir dachten: „Verdammt, hier sind eine Menge Leute. Was zum Teufel ist hier los?“ Wir riefen also unsere Freunde an und sie sagten: „Mensch, das ist die größte Party aller Zeiten“ (die Berliner Mauer fiel am 9. November 1989; Anm. d. Red.). Wir waren auch am 10. November 1989 da. Und noch ehe die Grenze wirklich fiel, konnte ich nach Ost-Berlin fahren. Ich kaufte Batterien in einem Laden, in dem eine Schlange für Brot anstand. Und als 19-jährige Amerikanerin dachte ich: Oh, verdammt …

Das musikalische Genre ist nicht so wichtig wie die Beziehung, in der man zusammenarbeitet.

Obwohl ich mir vorstellen kann, dass Sie in New York genügend Armut gesehen haben.

Ja, Crack hat New York City wirklich kaputt gemacht. Crack und Kokain, das war in den 1980er-Jahren wirklich schlimm. Aber das in Ostberlin war etwas anderes. Das war strukturell, institutionalisiert. Als ich sah, wie die Leute aus Ostberlin nach Westberlin kamen und in ihre Gesichter schaute, … ich kann nicht beschreiben, wie das für mich war. Irgendwann habe ich sogar einen Aufsatz darüber geschrieben, weil ich dachte, ich muss das aus dem Kopf kriegen. Es war auf jeden Fall eine prägende Erfahrung für mich, und mir wurde klar, dass niemand gegen eine solche Entwicklung immun ist. Es kann überall passieren, und wir alle sind den Kräften der menschlichen Natur in dieser Hinsicht ausgesetzt. Wir sind alle zu sehr Gutem und sehr Schlechtem fähig.

Wie würden Sie Ihren eigenen Weg von Ihren früheren Bands wie „Lost Goats“ und all den anderen Bands, in denen Sie gespielt haben, zu dem beschreiben, was Sie jetzt mit Sanhedrin machen?

Für mich ging es immer darum, eine gute Basis für die Zusammenarbeit in einer Band zu finden. Das musikalische Genre ist nicht so wichtig wie die Beziehung, in der man zusammenarbeitet. Als Nathan und Jeremy die Gründung der Band anregten, dachte ich mir: „Wow, ich habe noch nie in einer traditionellen Metal-Band gespielt. Ich möchte das mal ausprobieren!“ Anfangs war mein Bassspiel nicht gut genug, weil ich nicht mit einem Plektrum spielen konnte und meine Finger nicht schnell genug waren. Ich brauchte Übung, aber ich habe es hinbekommen.

Sie werden im Mai mit Sanhedrin ein gutes Dutzend Shows in Europa spielen. Was ist das Beste daran, live aufzutreten?

Wenn ich mir das Publikum ansehe und denke: Da ist ein Haufen verschiedener Menschen in diesem Raum und jetzt haben wir gleich alle zusammen verdammt viel Spaß.

Im Jahr 2015 gegründet, hat die New Yorker Band „Sanhedrin“ soeben beim US-Label „Metal Blade Records“ ihr viertes Album „Heat Lightning“ veröffentlicht. Stilistisch kombinieren Erica Stoltz (Gesang/Bass), Jeremy Sosville (Gitarre/Begleitstimme) und Nathan Honor (Schlagzeug) schweißtreibenden Hardrock mit melodisch-aggressiven Metal-Elementen. Die Komposition der Stücke ist deutlich hörbar auf Livekonzerte ausgelegt. Das drückt sich auch in zweideutig-hymnischen Titeln wie „Let’s spill some blood“ aus: Was musikalisch puren Rock’n’Roll-Spirit symbolisiert, setzt sich textlich kritisch mit dem Verhältnis von Recht und Rache auseinander. Vom 21. Mai bis zum 8. Juni ist die Band in Europa auf Tour.

* In einer früheren Version des Interviews wurde der Fall der Mauer versehentlich auf den 9. Oktober 1989 datiert; dieser fand am 9. November 1989 statt.


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