Es ist ein Klassiker der deutschen Literaturgeschichte: „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Doch woran leidet Werther heute? Das digitale Theaterstück „werther.live“ bringt eBay-Kleinanzeigen und Social Media ins Spiel.
Nachts wird Lotte sentimental und stellt Bilder ins Netz. Albert, ihr langjähriger Partner, betreibt einen Blog zu seiner Freiwilligenarbeit in Indonesien und auf der philippinischen Insel Luzon. Wilhelm macht auf Instagram keinen Hehl daraus, dass er gerne feiert und Alkohol trinkt. Und Werther? Der versteckt sich hinter Kunst. Das ist aus Goethes Figuren seines Briefromans „Die Leiden des jungen Werther“ geworden. Die 25-jährige Regisseurin Cosmea Spelleken versetzt sie in ihrer digitalen Inszenierung des Literaturklassikers ins 21. Jahrhundert.
Die Grundelemente der Erzählung aus dem Jahr 1774 sind dieselben: Werther verliebt sich in Lotte, die mit einem anderen Mann verlobt ist. Die Liebe mit Hindernissen treibt ihn in den Wahnsinn und in Goethes Original in den Suizid. Was der große Dichter mit verschachtelten Sätzen und in wehleidiger Sprache erzählt, packt Spelleken in kurze Chatmitteilungen und Videoanrufe: Lotte und Werther lernen sich über das Portal eBay-Kleinanzeigen kennen, kommunizieren über Skype, Whats App oder über den Messenger von Facebook. Die beiden kommen sich durch den digitalen Austausch näher. Lotte beginnt ihre Beziehung zu Albert, dem engagierten Weltenbummler, zu hinterfragen. Werther sucht bei seinen Freund*innen Rat. Das alles passiert im Umgangston und hat nichts mit Goethes Poesie gemein.
Das Publikum verfolgt die Dialoge und die Entstehung der Beziehungen zwischen den einzelnen Charakteren live. Durch eine Bildschirmübertragung liest es die Chatnachrichten mit oder schaut dabei zu, wie Werther auf Lottes Instagram-Profil verweilt. In einem Gespräch mit der Freiburger Newsseite „fudder“ sagte die Regisseurin vor wenigen Wochen dazu: „Jeder kann sich hier wiederfinden: Wir alle haben schon mal unseren Schwarm gegoogelt.“ Darüber hinaus kann das Publikum per Chat mit den Figuren interagieren, auch unabhängig von der Aufführung. Die Accounts, die eingangs erwähnt wurden, sind nämlich nicht nur Kulisse. Sie werden von den Schauspieler*innen Klara Wördemann (Lotte), Jonny Hoff (Werther), Florian Gerteis (Wilhelm) und Michael Kranz (Albert) bespielt und betreut.
Auf „fudder“ ist außerdem nachzulesen, dass die Castings für das Stück wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie online per Video stattfanden. Genauso wie der Großteil der Proben. Das Stück an sich ist aber nicht als Notlösung zu verstehen. Auf der Website heißt es: „Abgefilmte Bühnen? Theatermonologe vor Webcams? Das ist hier fehl am Platz. Wir glauben, dass digitales Theater eine neue Form des Erzählens möglich macht, in dem die digitalen Oberflächen aktiv in die Geschichten miteinbezogen werden – statt störendes Beiwerk zu sein.“ Das Koordinationsteam um Spelleken lernte sich über Blackwood Films kennen, eine Gruppe von Filmbegeisterten. „werther.live“ wurde mit dem Deutschen Multimediapreis – einem Kreativwettbewerb für Menschen unter 25 – der Stadt Dresden ausgezeichnet.
Werther landet übrigens nicht zum ersten Mal als digitales Theaterstück im Internet: Das deutsch-schweizerische Kollektiv onlinetheater.live inszenierte den Text 2017 als digitales, dreiteiliges Kammerspiel. Der Trailer lässt vermuten, dass es sich dabei um eine weniger jugendfreie und experimentellere Version des Klassikers handelt. Eins ist allen Interpretationen gemein: das Leid. Die Vielseitigkeit, mit der es inszeniert und neu interpretiert werden kann, zeugt von seiner beunruhigenden Zeitlosigkeit. Die Leiden des jungen Werther hören nicht auf und Zeit heilt offenbar nicht alle Wunden.