Gesundheitssystem: Im sozialen Netz verheddert

Die Beschwerden von Patient*innen über die „Caisse nationale de santé” (CNS) und den „Contrôle médical de la sécurité sociale“ (CMSS) häufen sich. Der CMSS bestreitet die erhobenen Vorwürfe. Das Ministerium für soziale Sicherheit beruft sich auf ein weitreichendes Sozialnetz.

Mehrere Quellen behaupten, der CMSS bearbeite die Krankenakten der Versicherten nicht sorgfältig und sei Letzteren gegenüber zu hart. (Foto: Gerd Altmann/Pexels)

Sein Leidensweg begann mit einem Brief der CNS, im Frühling 2019. „Concerne: Votre incapacité de travail“ stand auf dem Dokument. Wenige Zeilen weiter: „Nous sommes amenés à vous informer que vous avez été trouvé capable de reprendre le travail par le médecin-conseil du Contrôle médical de la sécurité sociale.“ Das Krankengeld wurde unmittelbar eingestellt und der Patient, der seit mehreren Wochen krankgeschrieben war, angewiesen, seine Arbeit als Maler und Lackierer wieder aufzunehmen. Er leidet bis heute an schweren Schulterproblemen. Arbeitsfähig ist er – in seinem Bereich – nach wie vor nicht.

Der Betrieb, in dem er seit mehreren Jahren angestellt ist, kann ihm derzeit auch keine alternative Tätigkeit anbieten. Kündigen möchte der Arbeitnehmer nicht. Er ist Mitte fünfzig. Die Aussicht auf einen neuen Job ist gering, seine Kompetenzen in anderen Tätigkeitsfeldern begrenzt und sein Anspruch auf Arbeitslosengeld bei einer freiwilligen Kündigung inexistent. Auch eine ordentliche Entlassung ziehen weder sein Arbeitgeber noch er in Erwägung. Selbst wenn die Möglichkeit nach geltendem Arbeitsrecht besteht und eine entsprechende, finanzielle Entschädigung mit sich bringen würde. Der Handwerker zog es vor, im Frühling Einspruch gegen den Beschluss zu erheben, der auf dem Bescheid des CMSS beruht, und forderte eine zweite Untersuchung ein. Der Ball lag erst mal beim Verwaltungsrat der CNS.

Dessen zweiter Beschluss fiel ebenfalls negativ aus. Die getroffene Entscheidung blieb bestehen: Der Arbeitnehmer gilt laut CMSS weiterhin als arbeitsfähig und hat keinen Anspruch auf Krankengeld. Der betroffene Versicherte ging in Berufung. Der Fall wird derzeit vom „Conseil arbitral de la sécurité sociale“ behandelt. Ausgestanden ist das Ganze nicht. Inzwischen sind fünf Monate vergangen. Fünf Monate, in denen der Betroffene weder Anspruch auf Krankengeld noch auf eine Lohnfortzahlung hat. Ein Umstand, der während der beschriebenen Prozedur, laut einer Juristin des OGBL, üblich ist. Vielen sei das nicht bewusst. Die Betroffenen können in der Zeit immerhin unter anderem Sozialhilfe in ihrer Gemeinde beantragen, die sie gegebenenfalls später teilweise zurückzahlen müssen. Die ausgezahlten Beträge werden individuell berechnet.

Im Falle des eingangs erwähnten Handwerkers ist der Kern allen Übels schnell ausgemacht: Der CMSS prüft nicht, ob die Arbeitnehmer*innen im Hinblick auf ihre Arbeitsstelle arbeitsfähig sind. Dafür sind die Arbeitsmediziner*innen zuständig. Der CMSS beurteilt im Grunde nur, ob eine Person krank ist oder nicht. Das ist besonders für all jene ungünstig, die in ihrem Betrieb keiner anderen Aufgabe nachgehen können. Sei es aus intellektuellen, infrastrukturellen oder physischen Gründen. Theoretisch kann der CMSS in dem Fall eine berufliche Wiedereingliederung veranlassen. Im Einverständnis mit den Arbeitnehmer*innen ruft der CMSS das interdisziplinäre Entscheidungsgremium, die „Commission mixte“, und die zuständigen Arbeitsmediziner*innen an. Das Entscheidungsgremium segnet oder lehnt den Beschluss ab. Kommt die Wiedereingliederung zustande, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder werden Arbeitszeit oder Tätigkeitsbereich innerhalb der Firma an den Gesundheitszustand der Betroffenen angepasst – man spricht von einer internen Wiedereingliederung – oder es wird eine externe Wiedereingliederung, also die Beschäftigung in einem anderen Betrieb, in Erwägung gezogen. Doch dazu kam es bei dem besagten Maler und Lackierer bisher nicht.

Er wurde erneut von seinen behandelnden Ärzten krankgeschrieben und in der Zwischenzeit operiert. Bedeutend verbessert hat sich sein Zustand nicht. Es liegen mittlerweile zwei Gutachten einer Arbeitsmedizinerin vor, die eine berufliche Wiedereingliederung nahelegen. Warum sich in der Hinsicht noch nichts getan hat, bleibt offen. Der CSV-Abgeordnete Marc Spautz hinterfragte vergleichbare Diskrepanzen zwischen den Befunden von Kontroll- und Allgemeinmediziner*innen in einer parlamentarischen Anfrage an Romain Schneider, Minister für Soziale Sicherheit. Der antwortete darauf: „Die Medizin ist nun mal keine präzise Wissenschaft und so kann es sein, dass medizinische Befunde unterschiedlich sind. Hinzu kommt, dass der Kontrollarzt den Patienten frühstens in der 9. oder 10. Woche der Krankschreibung sieht. Zu dem Zeitpunkt kann sich das Krankheitsbild verändert haben.“

Geschichten hinter den Zahlen

Wirft man einen Blick auf die Zahlen des CMSS, bildet die Situation des Handwerkers statistisch gesehen eine Ausnahme: 2018 mussten insgesamt 31.578 Arbeitnehmer*innen beim Kontrolldienst vorstellig werden. In 3.273 Fällen wurde eine bestehende Krankschreibung aufgehoben. In demselben Zeitraum fällte der „Conseil arbitral“ insgesamt 167 Urteile, im Hinblick auf die von den Versicherten angefochtenen Entscheidungen des Verwaltungsrats der CNS. Letzteres geht aus dem Jahresbericht 2018 der Gesundheitskasse (S.66) hervor. In 85 Fällen entschied der „Conseil arbitral“ zugunsten der Versicherten, in 73 im Sinne der CNS. Handelt es sich bei dem beschriebenen Schicksal also um einen bedauerlichen Einzelfall? Glaubt man verschiedenen Instanzen aus dem Gesundheitsbereich und der Gewerkschaft OGBL, dann ist die Antwort klar: Nicht, wenn es um den Umgang der Kontrollmediziner*innen mit den Patient*innen geht, über den sich der hier porträtierte Betroffene beklagte.

Neben den langatmigen Verfahren und Prozeduren, gibt es auch auf menschlicher Ebene Verbesserungsbedarf. „Unsere Patienten beschweren sich nicht selten über die Art und Weise des Contrôle médical, der, so wird uns berichtet, von oben herab mit ihnen spricht. Auch regen sich immer wieder Ärzte auf, vom Kontrolldienst unter Druck gesetzt zu werden“, sagt Alain Schmit, Direktor der „Association des médecins et médecins-dentistes“ (AMMD). „Es soll sich sogar in die Behandlung eingemischt werden, was natürlich die Vertrauensbasis zwischen Patient und Behandler in Frage stellt.” Das Gesagte erinnert an die Situation, die dem Maler und Lackierer zurzeit widerfährt.

Romain Schneider schreibt in seiner parlamentarischen Antwort, dass die Kontrollärzt*innen die Dossiers der Patient*innen gründlich durchlesen und Letztere „genee ënnersichen“. Oft würden sich die Kontrollärzt*innen auch untereinander beraten oder eine zweite Meinung von externen Expert*innen einholen. Die Berichte der Patient*innen und unabhängiger Ärzt*innen, die an die AMMD oder den OGBL herangetragen werden, lassen gegenteiliges vermuten. Sowohl der AMMD als auch die Gewerkschaft OGBL, die letztes Jahr immerhin 136 Mitglieder bei Verfahren gegen die Entscheidungen vom CNS vor dem „Conseil arbitral“ vertrat, beobachten das Gegenteil.

Foto: MacKrys CC BY-SA 4.0

Unterschiedliche Wahrnehmungen?

Dem OGBL kommt eigener Aussage nach oft zu Ohren, dass Dossiers schlampig bearbeitet und Patient*innen regelrecht abgefertigt werden. Vonseiten der AMMD heißt es, der Kontrolldienst zeige zu wenig Kulanz. Besonders in Grenzfällen könnte der CMSS Patient*innen gegenüber nachgiebiger sein. „Beispiel: Schwerkranke Patienten, die in ihren letzten Lebenswochen nochmal ins Ausland wollen. Die Urteile des Kontrolldienstes in Bezug auf solche persönliche Schicksale sind manchmal hart. Auslandsaufenthalte können verwehrt werden“, sagt Alain Schmit. „Die Menschlichkeit darf keinen rigiden Bestimmungen zum Opfer fallen.“ Ferner könne es auch nicht sein, dass keine Trennung zwischen dem CMSS und der CNS bestehe. „Die CNS darf nicht gleichzeitig „juge et partie“ sein“, sagt Schmit. „Wir unterstützen einen unabhängigen Contrôle médical.“ Die CNS hat sich bis zu Redaktionsschluss gegenüber der woxx nicht zu der ganzen Angelegenheit geäußert. Gérard Holbach, Direktor des CMSS, weist jegliche Vorwürfe von sich: „Der Kontrolldienst hat weder mit den untersuchten Patienten noch mit dem medizinischen Personal einen schlechten beziehungsweise strengen Umgang. Dass die Patienten in manchen Fällen mit dem Avis des Kontrolldienstes unzufrieden sind, liegt in der Natur der Sache.“ Die Unzufriedenheit der Patient*innen ist allerdings oft durchaus berechtigt.

Der AMMD sind Fälle bekannt, in denen die Begutachtung des CMSS nach Meinung unabhängiger Fachärzt*innen falsch war, sich die CNS bei ihrer Entscheidung dennoch darauf gestützt hat. Schmit räumt ein, dass die Arbeit der Kontrollärzt*innen eine wichtige und schwierige sei und auch sie sich irren könnten. „Die Summe der einzelnen Schicksale, die natürlich alle subjektiv geprägt sind“, betont er, „spricht aber dafür, ein Audit durchzuführen.“ Damit meint er einen Austausch mit den zuständigen Instanzen. Einen solchen hat die Ärzteschaft Romain Schneider im Mai letzten Jahres vorgeschlagen. Die Hoffnung: Die Fakten objektiv auf den Tisch zu legen, um eine Grundlage für Verbesserungsvorschläge zu schaffen. Nach Kenntnisstand der Ärzteschaft, hat der Minister noch nicht auf den Vorschlag reagiert.

Fest steht, dass ein großer Druck auf den Ärzt*innen des Kontrolldienstes lastet und das gesamte Gesundheitssystem sowie die sozialen Dienste überlastet sind. Das erkennt man nicht nur an der Bearbeitungsdauer der Dossiers. Das geht auch aus den Gesprächen mit dem OGBL, der AMMD hervor und man liest es auch zwischen den Zeilen des Schreibens von Romain Schneider. Dort ist die Rede von einem Mangel an Fachpersonal beim CMSS, der laut Schneider auf die finanzielle Attraktivität des Berufes zurückzuführen sei. Die Selbständigkeit sei für die Ärzt*innen lukrativer.

Der Pressebeauftragte des Ministeriums für Soziale Sicherheit, Abílio Fernandes, beteuert im Gespräch mit der woxx, man würde seit zwei Jahren massiv Personal für den CMSS rekrutieren, um effizienter zu arbeiten und „detaillierte, medizinische Analysen machen zu können“. Zur Beschleunigung der Prozesse rüste man auch kontinuierlich beim „Conseil arbitral“ nach. Im Gespräch mit dem OGBL wird jedoch klar, dass sich die Situation in den letzten zwei Jahren nicht sonderlich verbessert hat. Man werde vertröstet, die versprochenen Verbesserungen ließen zu lange auf sich warten. Die Dauer der einzelnen Verfahren variiert je nach Komplexität, kann aber bis zu einem Jahr dauern, wenn eine Berufung beim „Conseil arbitral“ eingereicht wurde. Ganz zu schweigen von den Prozessen, die man bei einer beruflichen Wiedereingliederung durchlaufen muss. Anderes Thema, ähnlich zähe Prozedur. Carlos Pereira vom OGBL sprach bereits 2017 mit der woxx (woxx 1428) darüber.

„Für die Betroffenen kann die Situation in manchen Fällen heikel werden. In Luxemburg besteht aber ein weitreichendes Sozialnetz“, sagt Abílio Fernandes. „Es muss nur in die Praxis umgesetzt werden.“ Das mag stimmen, ist aber mit etlichen administrativen Hürdenläufen, kräftezehrenden Verfahren, Monaten der Ungewissheit, finanziellen Engpässen und Sorgen verbunden – und in der Praxis nicht immer so ohne Weiteres möglich, wie etwa die Sache mit der Entlassung und der Meldung als arbeitssuchend zeigt. „Es gibt weitere komplexe Situationen, in denen die Patienten zusätzlich zu ihrer gesundheitlichen, auch noch in eine finanzielle Notlage geraten“, weiß Alain Schmit. „Zum Beispiel dann, wenn ihre Krankschreibung vom behandelnden Hausarzt danach vom Kontrollarzt aufgehoben wird. Oder wenn verschiedene Krankschreibungen zusammenkommen und der Anspruch auf Krankengeld nach anderthalb Jahren erlischt, obwohl der Patient noch arbeitsunfähig ist.“

Der Anspruch auf eine Lohnfortzahlung endet nach 77 Wochen in einer Referenzperiode von 18 aufeinanderfolgenden Monaten. Der Anspruch auf Krankengeld erlischt nach 78 Wochen in einem Referenzzeitraum von 104 Wochen. Dabei wird nicht nach Erkrankung entschieden, sondern alle Zeiten persönlicher Arbeitsunfähigkeiten zusammengerechnet. Bei der Feststellung einer dauerhaften Berufsunfähigkeit greifen wieder andere Mechanismen – wer in dem ganzen Informations- und Administrationsdschungel den Überblick behält, ist klar im Vorteil. Fakt ist, dass nicht alle Versicherten unmittelbar in den Genuss des lobgepriesenen „Sozialnetzes“ kommen. Beunruhigend ist zuletzt auch, dass die involvierten Instanzen die Situation unterschiedlich bedenklich einschätzen. Es koexistieren mehrere kontradiktorische Wahrnehmungen, was früher oder später zu Konflikten führen wird.


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