Im Kino: Petite Maman

Wie wäre es wohl gewesen meine Mutter zu kennen als sie noch ein Kind war? Oder meine Oma als sie noch jung war? In „Petite Maman“ wirft Céline Sciamma diese Fragen nicht nur auf, sondern spielt das Szenario mittels einer faszinierenden Charakterstudie durch.

Die Mutter ist zwar nicht mehr da, dennoch fühlt sich Nelly ihr näher als jemals zuvor. (© Pyramide Films)

Auf den ersten Blick hat Céline Sciammas neuster Film nicht viel mit ihrem vorangegangenen gemein: „Portrait de la jeune fille en feu“ zeigt die heimliche Liebe zwischen zwei Frauen im 18. Jahrhundert. „Petite Maman“ dagegen spielt im Hier und Jetzt und handelt von einer Achtjährigen, die einen abrupten Verlust durchlebt.

Parallelen gibt es dennoch, denn in beiden Werken interessiert sich Sciamma in erster Linie für die Gedankenwelt ihrer Protagonistinnen: In „Portrait“ waren es die Erinnerungen von Marianne, in „Petite Maman“ ist es die Imagination von Nelly. Auch Geister kommen in beiden Filmen vor. In „Petite Maman“ handelt es sich dabei aber um weit mehr als sekundenlange Erscheinungen – vielmehr bilden sie das Wesen der Erzählung.

Ihren Anfang nimmt die Erzählung im Pflegeheim, wo Nelly (Joséphine Sanz) zusammen mit einer älteren Dame ein Kreuzworträtsel ausfüllt. Dass sie im Heim ist, weil ihre Großmutter gerade gestorben ist, vermittelt Sciamma durch eine subtile Bildsprache. Es folgt eine Autofahrt zu Omis Wohnung – Nellys Eltern wollen diese ausräumen, um sie anschließend zu verkaufen. Zunächst steht die Gefühlswelt der Mutter (Nina Meurisse) im Vordergrund, sie verkraftet den Tod ihrer Mutter nur schwer, die vielen Erinnerungen, die der Aufenthalt in ihrem Kindheitshaus weckt, setzen ihr zusätzlich zu. Als Nelly am ersten Morgen aufwacht, erzählt ihr der Vater (Stéphane Varupenne), dass die Mutter nicht mehr ins Haus zurückkommen wird. Mehr erfahren weder wir, noch Nelly – ist der gesamte Film doch aus ihrer Perspektive erzählt.

Als Nelly eines Tages bei ihrem täglichen Waldspaziergang einem anderen Kind (Gabrielle Sanz) begegnet, freut sie sich zunächst über die neue Spielkameradin. Doch obwohl sie Marion noch nie zuvor gesehen hat, kommt sie ihr seltsam bekannt vor. Spätestens als sie feststellt, dass Marions Haus genauso aussieht, wie das ihrer Großmutter, wird ihr bewusst: Ihre neue Spielkameradin ist niemand anderes als ihre eigene Mutter im Alter von acht Jahren.

Wie schon in „Portrait“ hat dieses Fantasieelement auch hier nichts mit ähnlichen Stilmitteln aus Horrorfilmen oder Psychothrillern zu tun. Die junge Marion soll uns nicht zum Erschaudern bringen, sondern dazu, uns besser in Nelly hineinversetzen zu können. Nicht nur der unangekündigte Abschied ihrer Mutter beschäftigt die Achtjährige: Sie weiß, dass ihre Mutter in diesem Haus von deren Mutter allein aufgezogen wurde. Nellys Fantasie ist aber sicherlich mehr als nur die Visualisierung dieser Gedanken – es ist ihre Art, mit einem unbegreiflichen Verlust umzugehen. Ihre Freundschaft mit der jungen Marion ist Ausdruck ihres Bedürfnisses, ihre Mutter besser zu verstehen und ihr näher zu sein. Es ist aber auch eine Art, Abschied von ihrer Großmutter zu nehmen, die in der Fantasiewelt ebenfalls noch jünger ist, wenn auch schon krank.

Anders als in früheren Filmen Sciammas mit Kindern in der Hauptrolle (etwa „Tomboy“ und „Naissance des pieuvres“) spielt in diesem Film weder Geschlecht noch sexuelle Orientierung eine Rolle. Doch auch hier geht es um Identität. Besonders um die Frage, wie sich diese in Relation zu den eigenen Eltern entwickelt.

Dass der Film trotz vieler stiller Momente so mitreißend ist, ist unter anderem der schauspielerischen Glanzleistung der beiden jungen Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Drehbuch und Regie, die beide auf Sciammas Kappe gehen, tun ein Übriges, um ein möglichst immersives Filmerlebnis zu gewährleisten. Wie es zu dieser surrealen Begegnung kommen konnte, ist letzten Endes nebensächlich – die Zuschauer*innen sind ebenso angehalten, sich auf das Abenteuer einzulassen wie Nelly und Marion selbst.

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Bewertung der woxx : XXX


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