Mit der Konferenz „Unmute Power Abuse“ in der Abtei Neimënster kommt erneut Bewegung in die Debatte über Machtmissbrauch im luxemburgischen Kultursektor. Warum gerade jetzt? Und was hat die Branche vor?
Vor fünf Jahren erschütterte #metoo die Gesellschaft: Betroffene von sexualisierter Gewalt, Machtmissbrauch und Erniedrigung, insbesondere in beruflichen Kontexten, wurden laut und stellten sich geschlossen gegen die Täter*innen. Vor allem die amerikanische Filmbranche stand mit Figuren wie dem Produzenten Harvey Weinstein im Mittelpunkt der Debatte. Am vergangenen Freitag organisierten nun das Kulturzentrum Abtei Neimënster, das Centre de création chorégraphique luxembourgeois TROIS C-L und die Theaterfederatioun die Konferenz „Unmute Power Abuse“. Geladen waren drei Organisationen aus dem Ausland, die sich gegen sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch und Diskriminierung in der Bühnenkunst einsetzen und ihre Methoden teilten: Engagement, der Syndicat français des artistes interprètes und Whistle. Die Konferenz entstand auf Nachfrage von Choreograf*innen und performativen Künstler*innen in Luxemburg. Aus aktuellem Anlass?
„Geschichten, von denen alle wissen“
Ainhoa Achutegui, Direktorin der Abtei Neimënster, verweist im Videogespräch mit der woxx auf die anhaltende Aktualität der Thematik. Wer sich mit Feminismus, Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in der Arbeitswelt beschäftige, wisse, dass eine entsprechende Diskussion nie aus der Zeit gefallen sei. Genauso klar sei es, dass es diese Phänomene in der luxemburgischen Kulturszene gebe, auch wenn zurzeit keine nationalen Statistiken vorliegen. Bernard Baumgarten, Leiter des TROIS C-L, war dem Anruf ebenfalls zugeschaltet und wurde konkreter: „Wir wollten mit der Konferenz keinen Skandal aufdecken.“ Er war mit der Idee zu „Unmute Power Abuse“ auf Achutegui zugegangen, nachdem die Bitte aus der Szene an ihn herangetragen worden war. „Das TROIS C-L reagiert auf die Bedürfnisse der Choreograf*innen: Wenn sie sich mit Ideen an uns wenden, versuchen wir diese umzusetzen.“
Große Skandale gab es im Zuge der #metoo-Debatte in Luxemburg bisher nicht. Dabei bestätigen der woxx Stimmen aus dem Kultursektor, die anonym bleiben wollen, dass beispielsweise Sexismus gegen Frauen an der Tagesordnung steht. Eine Person berichtet zudem von Annäherungsversuchen, vorwiegend internationaler Regisseure, die unangenehm bis traumatisierend gewesen seien. Sie habe immer das „Glück“ gehabt, sich mit Kolleg*innen austauschen zu können, beziehungsweise sei die Direktion gegen die Regisseure vorgegangen. Aus anderer Quelle ist die Rede von „Geschichten, von denen alle wissen“, die aber niemand näher erläutern möchte. Die über 200 Mitglieder der privaten Facebook-Gruppe #echoch, die 2017 zum Austausch zwischen betroffenen Kulturschaffenden gegründet wurde, waren und sind nach Aussagen eines Mitglieds kaum aktiv. „Es wurden hauptsächlich Artikel geteilt“, schreibt die Person, die ebenfalls unerkannt bleiben möchte, der woxx. „Vielleicht war die Zeit noch nicht reif oder das Land ist zu klein, damit Menschen es wagen, öffentlich etwas zu sagen.“ Dieses Argument warf auch eine Besucherin der Konferenz „Unmute Power Abuse“ in den Raum. Die meisten Tänzer*innen in Luxemburg seien freischaffend, die Szene übersichtlich. Ein anonymer Austausch, wie ihn die eingeladenen Organisationen zum Teil vorschlagen, sei hierzulande schwer. „Die Person, die heute hier neben dir sitzt, gibt dir morgen Arbeit oder tanzt für dich“, sagte sie. Auch deutete sie auf die geringe Anzahl an Kolleg*innen im Saal hin, in dem mehr Stühle frei als besetzt waren.
Diese Dynamiken sind dem Kultursektor nicht eigen, denn auch von der Gesamtgesellschaft wird nur ein Bruchteil der Missbrauchsvorfälle gemeldet. Das belegen zahlreiche Statistiken, aber auch Rückmeldungen luxemburgischer Anlaufstellen. 2019 sagte Martine Schaul, medizinische Spezialistin der „Unité médico-légale de documentation des violences“ (Umedo), im Zuge des ersten Jahresrückblicks des Dienstes: „Viele Gewaltopfer zögern damit, Anzeige zu erstatten – sei es aus Scham, aus Schuldgefühlen oder aus tiefergehenden Gründen wie emotionaler oder materieller Abhängigkeit.“ Hinzu kommt das gesellschaftliche Klima, in dem sich die Vorfälle ereignen. Nach Statista, einem deutschen Statistikportal, steigt die Anzeigebereitschaft, je geringer die gesellschaftliche Akzeptanz der erfahrenen Gewaltform ist.
„Wir wollen präventiv arbeiten“
Nun handelt es sich beim Kultursektor noch dazu um einen Bereich, der besonders anfällig für Missbrauch ist. Thomas Schmidt, Professor für Theater- und Orchestermanagement an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt am Main, begründet dies 2018 in seiner Studie „Macht als Struktur- und Organisationsbildendes Konzept des Theaterbetriebs“ unter anderem mit Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Künstler*innen und den Kolleg*innen in Führungspositionen sowie mit den bestehenden Machtstrukturen. Er schreibt außerdem: „Sexismus, systematische Abwertung von Frauen und abschätzige Kommentare über Leistungen, Aussehen und Figur von Spielerinnen auf Proben und in Kantinen gehören zum Theateralltag.“ Sie würden durch regelmäßiges Anschreien, Herabwürdigen, Bloßstellen und das Verweigern der Zusammenarbeit ergänzt. Anders als Festangestellte in anderen Berufsfeldern können freischaffende Künstler*innen nicht auf eine Personaldelegation zurückgreifen und sind von Aufträgen abhängig. In Luxemburg waren 2019 um die 12.300 Personen im Kultursektor tätig, 13 Prozent davon im Bereich „Spectacle vivant“. 19 Prozent der Kulturschaffenden hatten keinen festen Arbeitsvertrag, was im Kontrast zu sechs Prozent der allgemeinen arbeitenden Bevölkerung Luxemburgs steht. Diese Zahlen gehen aus dem Bericht zum „État des lieux – théâtre“ hervor, der im Frühjahr 2022 vom Kulturministerium präsentiert wurde. Die Situation der freischaffenden Künstler*innen ist demnach besonders prekär.
Institutionen wie die Abtei Neimënster und das TROIS C-L stellt das nachvollziehbare Schweigen der Betroffenen vor Herausforderungen. Achutegui und Baumgarten betonen, dass sie als Leiter*innen zwar nach dem Arbeitsrecht und aus persönlicher Überzeugung für das gesamte Team verantwortlich sind – von den Praktikant*innen über die Festangestellten bis hin zu den freischaffenden Künstler*innen –, sie aber nur begrenzt handeln können. Zum Beispiel, wenn Künstler*innen einer externen Gruppe angehören. „Ich kann den Betroffenen in dem Fall nur beratend zur Seite stehen und empfehlen, den Vorfall anzuzeigen“, sagt Baumgarten. „Dazu kommt es aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse aber oft nicht.“ Er spricht von einem engen Vertrauensverhältnis zu seinen vier ständigen Mitarbeiter*innen und zu den Künstler*innen, die regelmäßig in der Banannefabrik arbeiten; davon, dass alle wissen, dass seine Tür immer offensteht. Darüber hinaus brauche es jedoch Anlaufstellen und Partner*innen, die dem Sektor Ins- trumente an die Hand geben könnten, sowie eine Strategie und themenbezogene Ausbildungsangebote für die Führungsetagen und die Künstler*innen selbst. Die Tatsache, dass bei „Unmute Power Abuse“ nur Organisationen aus den Nachbarländern vertreten waren, kommt nämlich nicht von ungefähr: In Luxemburg gibt es keine spezifische Anlaufstelle für Betroffene in der Kulturszene. Ihnen stehen trotz erhöhtem Risiko also nur die gängigen Hilfsangebote zur Verfügung (Planning Familial, Umedo, violence.lu und ähnliche).
Wird Achutegui Zeugin von Missbrauch, greift sie unmittelbar ein und spricht die Täter*innen an. Sie bezeichnet sich selbst als „Bulldogge“, die bei diesen Themen sofort einschreitet. Es sei trotzdem schwer, zu jeder Zeit in allen Abteilungen präsent zu sein. „Als Leiter*innen müssen wir ständig Augen und Ohren offenhalten“, sagt sie. Dazu haben sich Achutegui, Baumgarten und zahlreiche weitere Kulturakteur*innen mit der Unterzeichnung der „Charte de déontologie pour les structures culturelles“, die das Kulturministerium im Juni publizierte, auch verpflichtet. In der Charta gibt es einen Abschnitt zu Diskriminierung, Sexismus und Machtmissbrauch. In Zusammenhang mit der Charta, so Baumgarten, sei die Frage nach Handlungsmöglichkeiten aufgekommen. „Wir wollen präventiv arbeiten, nicht zuletzt damit die Menschen lernen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, denn auch das ist nicht evident“, sagt er. „Es ist uns wichtig, dass die kommenden Generationen ihre Karriere mit einem Wissen über ihre Rechte und Pflichten sowie mit Hilfsmitteln beginnen.“
Eine Lehrkraft, die in einem Konservatorium in Luxemburg tätig ist, teilte der woxx mit, was sie ihren Schüler*innen vor Castings mit auf den Weg gibt. Die Liste ist lang und beginnt mit der Bewusstmachung, dass es bei einem Casting zu unangenehmen Situationen kommen kann. Sie nennt als Beispiel ein gemeinsames Abendessen als Bedingung für die Vergabe der ersehnten Rolle. Was tun in einer solchen Situation? Die Lehrkraft rät: Ruhe bewahren, bestimmt auftreten, die Person nach Möglichkeit mit dem Mobiltelefon aufzeichnen, sich nach dem Vorfall an Büronachbar*innen oder Kolleg*innen wenden und die Person gemeinsam zur Rede stellen. Alternativ: Sofort den Raum verlassen. „Um all das zu tun, muss man sehr stark sein und ruhig bleiben“, gibt die Lehrkraft zu. Das mögen punktuelle Lösungen sein, doch was braucht es auf lange Sicht, damit es gar nicht erst zu solchen Vorfällen kommt?
Diversität in den Institutionen ist eine von vielen Antworten auf diese Frage. Noch ist die nicht gegeben und die Folgen davon sind offensichtlich. Die woxx berichtete bereits letztes Jahr in dem Artikel „Bretter, die nicht die Welt bedeuten“ über die mangelnde Diversität in der europäischen Bühnenkunst, in dem Fall im Theater. Der Artikel nahm Bezug auf die Studie „Gender Equality and Diversity in European Theaters“ der European Theater Convention (ETC), die im März 2021 veröffentlicht wurde. Daran beteiligten sich unter anderem Mitarbeiter*innen des Escher Theaters und der Théâtres de la Ville de Luxembourg. Aus der Studie ging hervor, dass Frauen zwar öfter Regie führten als Männer, doch die Schauspieler*innen auf Europas Bühnen zu 57 Prozent männlich und nur zu 43 Prozent weiblich waren. In den Programmheften der Saison 2018/2019 waren Frauen deutlich unterrepräsentiert, besonders in Luxemburg. Neben LGBTIQA+ Schauspieler*innen und ethnischen Minderheiten waren laut Studie auch Menschen mit Behinderung selten auf oder hinter den Bühnen zu sehen.
„Wer sich jetzt noch so verhält, tut das im vollen Bewusstsein darüber, dass das nicht in Ordnung ist“
Im besagten Artikel kamen außerdem die luxemburgischen Schau- spieler*innen Céline Camara und Max Gindorff zu Wort. Camara ist eine der wenigen nicht-weißen Schauspieler*in- nen in Luxemburg und erzählte in einem ausführlichen Interview mit der woxx über die doppelte Diskriminierung, die sie in ihrem Berufsalltag erfährt, über die Wichtigkeit von Diversität in der Branche. Gindorff sprach über stereotypische Rollenausschreibungen, nach denen weiße cis-Männer das Maß aller Dinge sind. Er fühle sich als schwuler Schauspieler selten frei auf der Bühne und habe Angst, ein bestimmtes Bild von Männlichkeit nicht zu erfüllen. Ähnliches beobachtet Baumgarten bei klassischen Balletts in Europa: „Es gelten Ideale vergangener Zeiten, die von weißen Menschen für weiße Menschen erstellt wurden. Mir sind wenige Balletts in Europa bekannt, die sich auf das klassische Repertoire beschränken, in denen viele unterschiedliche Ethnien vertreten sind.“ Die Tanzgruppen müssten einheitlich sein. „Kein Mensch erkennt das als Problem. Es ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit – trotzdem können wir uns dazu entscheiden, diese zu hinterfragen, und verstehen, dass vieles davon nicht akzeptabel ist“, so Baumgarten.
Mehr Diversität in den Ensem- bles, hinter den Kulissen und in den Führungsetagen könnte die bestehenden Verhältnisse verändern, davon ist auch Achutegui überzeugt. „Wenn mehr Diversität herrscht und die Menschen unterschiedliche Sensibilitäten mitbringen, dann kommen – und ich drücke das jetzt vereinfacht aus – üble Typen nicht mehr so leicht durch“, vermutet sie. Beide setzen Hoffnung in die kommenden Generationen, die ihrem Eindruck nach härter gegen missbräuchliches Verhalten und Ungleichheiten vorgehen. Dazu habe die #metoo-Debatte sicherlich beigetragen. Baumgarten erinnert sich an seine Zeit als Tänzer zurück, in der er vieles toleriert habe, was heute als inakzeptabel gelte – etwa abfällige Kommentare zum Körpergewicht statt konstruktiver Kritik am Tanzstil. Achutegui spricht hingegen von den vielen „Männerhänden“, die sie als junge Frau auf ihrer Schulter ertragen musste. „Wer sich jetzt noch so verhält, tut das im vollen Bewusstsein darüber, dass das nicht in Ordnung ist“, sagt sie. Am Ende sei die Bühnenkunst ein Spiegel der Gesellschaft, unterstreicht Baumgarten. „Was gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert wird, wird auch in der Tanz-und Theaterszene nicht mehr geduldet.“
Die Konferenz „Unmute Power Abuse“ stößt die institutionelle Aufarbeitung von Machtmissbrauch und anderen Gewaltformen im luxemburgischen Kultursektor an. Hinter den Kulissen arbeiten die Häuser schon lange daran, heben Baumgarten und Achutegui hervor. Jetzt gehe es darum, Ideen umzusetzen und den Austausch zu suchen. Kommende Woche ist eine Nachbesprechung der Konferenz geplant; langfristig soll ein Netzwerk unterschiedlicher Organisationen entstehen. Das alles im Austausch mit dem Justiz- und Kulturministerium. Auch steht die Frage im Raum, ob es eine Statistik zur Situation in der luxemburgischen Kulturszene braucht und welche Methode sich anbietet. Das Ziel ist es, eine Anlaufstelle für betroffene Künstler*innen zu schaffen, die der luxemburgischen Szene entspricht. „Ob das in Form einer Einzelperson oder eines Safe Spaces ist, das müssen wir noch herausfinden“, sagt Achutegui. Das könnte ein langwieriger Prozess sein. Bis dahin sind weitere Konferenzen und Workshops zum Thema geplant.
Die Konferenz „Unmute Power Abuse“ ist auf dem Youtube-Kanal der Abtei Neimënster abrufbar.
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