Was für Rainer Maria Rilke 1902 der Herbstbeginn war, sind für Mitglieder des Kollektivs Literaturliwwerer und den Literaturkritiker Jérôme Jaminet die verbleibenden Tage bis zum nächsten Lockdown. Sie widmen ihnen ein Gedicht.
Der Dichter Rainer Maria Rilke beschreibt in „Herbsttag“ den nahenden Saisonwechsel. Ein Gedicht, das Menschen ohne Haus und Gesellschaft einsame Monate voraussagt: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“
Ähnlich besorgt schauen sechs Mitglieder des Kollektivs Literaturliwwerer und der Literaturkritiker Jérôme Jaminet auf den bevorstehenden Lockdown, der voraussichtlich nach dem 26. Dezember ausgerufen wird. Das Kollektiv entstand während der ersten Ausgangssperre im Frühling auf Initiative von Jérôme Jaminet: Auf YouTube präsentierten Nachwuchsautor*innen in den letzten Monaten ihre Werke.
Die Autor*innen des Gedichts – darunter Antoine Pohu, der 2019 den nationalen Literaturwettbewerb in der Kategorie „Junge Schriftsteller“ gewann – versetzen Rilkes Verse in die Gegenwart. Es ist nicht Gott, den sie rufen, sondern den Hamster, der Klopapier hortet. Allein ist in ihren Zeilen nur, wer keine Webcam hat. Anbei das Gedicht in voller Länge, das der woxx zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde:
Letzter Tag
Hamster, es ist Zeit. Die Freiheit war zu groß.
Leg dich in den Schatten deiner Netflix-Serien,
und beim Einkaufen lass das Klopapier nicht los.
Hilf den letzten Läden, voll zu sein;
mach aus deinem Kaufrausch keinen Hehl,
renn vor der Quarantäne noch mal hin, und wähl
die besten Flaschen für den besten Schein.
Wer jetzt kein Brot hat, sollte backen lernen.
Wer jetzt allein ist, schaltet seine Webcam ein,
wird streamen, lesen, vor Langeweile schreien,
und wird zwischen Social Media hin und her,
unruhig wechseln, geschluckt vom Webdesign.
Autor*innen: Anouk Mahr, Caroline Rocco, Cosimo D. Suglia, Tom Weber, Antoine Pohu, Camal Tahireddine und Jérôme Jaminet