Ist die Sozialdemokratie am Ende? In Luxemburg versucht sie einen Neuanfang. Ein Bericht über Reden und Resolutionen, begeistertes Klatschen und bange Erwartungen.

Quelle: LSAP
Auf den langen Konferenztischen, an jedem Platz, liegt ein kartonierter Notizblock. Das smartphonegroße, analoge Objekt enthält Schreibpapier, aber auch Post-its und Klebestreifen in fünf Farben, um wichtige Seiten im 131 Seiten und 5.291 Zeilen umfassenden Programmentwurf zu markieren. Der LSAP-Kongress vom 9. Juli im Centre „An der Eech“ in Leudelingen verspricht, spannend zu werden. Der arg strapazierte Begriff der Trendwende könnte in diesem Jahr für die LSAP zutreffen: Seit 1999 Wahlergebnisse unter 25 Prozent, seit 2004 ging es nur noch bergab. Da machen die Sonndesfro-Ergebnisse der vergangenen zwei Jahre von um die 20 Prozent Hoffnung; auch das durchwachsene Resultat bei den Gemeindewahlen kann als Stabilisierung gedeutet werden. Andererseits ist, nach dem Ausstieg des „Modernisierers“ Etienne Schneider Anfang 2020, das Profil der Partei eher verschwommen, woran die Nominierung der Sympathieträgerin Paulette Lenert als Spitzenkandidatin nichts geändert hat.
Lieferzauber
Rhythmisch-sphärische Musik, wie man sie von Drohnenvideos kennt, tönt aus den Lautsprechern. „Herzlich willkommen!“, eröffnet Generalsekretär Tom Jungen den Kongress. „Sidd der prett?“, ruft er in den Saal – und knüpft an den dynamischen Stil an, mit dem die LSAP sich unter Schneider angestrengt bemühte, das Image der biederen Volkspartei abzuschütteln. Nach kurzer Zeit hat dann das Kongressbüro das Wort: Politikveteran Alex Bodry erläutert den Ablauf der Programmdiskussion und betont die Wichtigkeit, sich diszipliniert zu verhalten. Die musikalischen Einlagen, die Videoclips auf der Leinwand hinter der Tribüne und das Skandieren von Slogans werden während über drei Stunden die eher bodenständigen Reden und Diskussionen aufpeppen.
Eines der Stichworte der LSAP lautet Erneuerung – und es sind in der Tat nicht wenige neue und meist junge Namen auf den Listen der Kandidat*innen für Gemeinde- und Landeswahlen hinzugekommen. Der Doppelslogan „Mir si prett, mir liwweren“ erscheint durchdacht, auch wenn er sich inhaltlich wenig von „Gréng wierkt“ oder gar vom eigenen Langzeitspruch „Mir paken et un“ absetzt. Die Variationen und Superlative der Botschaft wie „Mir wëllen a kënnen Zukunft“ (Flore Schank) oder „Mär sinn esou eppes vu prett“ (Dan Biancalana) dürften für die einen cool klingen, für die anderen gekünstelt. Eine amüsante Idee schließlich sind die „Lieferbereitschaft“ signalisierenden Paketattrappen – vielleicht erwarten uns ja noch Wahlkampfspots im Stile des „Delivery Man“-Videos aus der berühmten Diet-Coke-Kampagne. Nach einer ausgeklügelten Show sieht es auch aus, wenn Dan Kersch nach ein paar Mini-Kampfabstimmungen die Konflikte als „Beweis für eine lebendige Partei“ deutet. Der Präsident der Resolutionskommission ist sichtlich bemüht, die von diesem Gremium abgelehnten Änderungsanträge trotzdem fair darzustellen – der berüchtigte Streithahn zeigt hier seine Schokoladenseite.
Doch zurück zum Beginn des Kongresses, zu den Reden von Francine Closener und Dan Biancalana. „Wir wollen, dass es jedem Menschen gut geht“, sagt Closener und setzt sich damit vom materialistischen CSV- Diskurs ab, der allen Menschen Steuer- erleichterungen gewähren will. Ihre Erklärungen zu 120 Jahren Sozialdemokratie und Arbeitszeitverkürzung wirken aber etwas theoretisch, wo doch die LSAP-Wählerschaft im Hier und Jetzt mit praktischen Problemen konfrontiert ist. Auch Biancalanas interessanter Vergleich Luc Friedens mit Liz Truss, der Premierministerin, die mit ihrem Ultraliberalismus binnen 45 Tagen Großbritannien und ihre eigene Regierung in die Krise stürzte, ist nicht unbedingt volksparteitauglich.
Die Welt der Spitzenkandidatin
Die von ihnen sowie von Ben Streff und Flore Schank vorgestellten Programmpunkte sind es schon: Wahlrecht ab 16 und Sondersteuerkredit für Jugendliche sowie massive Investitionen in den Wohnungsbau. Bei der Arbeitszeitverkürzung redet die LSAP, anders als Déi Gréng, Klartext: eine zusätzliche Urlaubswoche und Einführung der 38-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich. Mit den Steuern tut sich die Partei aber schwer, denn sie will zwar hohe Einkommen stärker besteuern (bis zu 49 Prozent), doch die Einführung einer Vermögenssteuer soll nur „untersucht“ werden – die Grünen hingegen sprechen sich klar dafür aus.
Hierzu liegt denn auch ein Änderungsantrag der Jusos vor, der dann aber zurückgezogen wird – Dan Kersch hat sie mit einem belanglosen Kompromissvorschlag besänftigt. Ein paar andere Änderungen werden angenommen, nur beim Thema Klima winkt die Resolutionskommission ab: Die – nicht unproblematische – Idee eines Mietverbots für Wohnungen der Energieeffizienzklasse G wird vom Kongress abgeschmettert, die Einführung eines Verbots von Kurzstreckenflügen bekommt immerhin einen Achtungserfolg. „Lebendig“ zeigt sich die Partei auch bei den weiteren Wortmeldungen, die von bitterer Kritik an zu wenig Diversität auf den Wahllisten, über Stilübung und persönliches Zeugnis, bis zu Entertainment reichen.
Dann ertönt swingende Musik, abgelöst von rhythmischem Klatschen – der Auftritt der Spitzenkandidatin steht an. Und ja, Paulette Lenert setzt ihre eigenen Akzente, inhaltlich und formal. Sie redet frei, manchmal zu schnell, klingt überzeugend, glänzt aber rhetorisch weniger als manche ihrer Vorredner*innen. Dafür führt sie eine persönliche Redewendung ein: „in unserer Welt“. In der Welt der Sozialdemokratie soll es nicht um maximale Profite gehen, auch nicht um unbegrenzten Konsum und schon gar nicht darum, die arbeitenden Menschen ausbrennen zu lassen. Wohlbefinden, qualitatives Wachstum, Nachhaltigkeit stellt Lenert nebeneinander. Bei der Umweltproblematik arbeitet sie die soziale Dimension gut heraus, sagt dann „Wir Menschen sind es, die diese Welt zugrunde richten“ – statt reiner Theorie vermittelt sie ehrlich klingende Emotionen. Ob es das ist oder der Wunsch, für die Medien ein Bild der Einheit und Begeisterung abzugeben, am Ende ihrer Rede skandiert der ganze Kongress jedenfalls minutenlang „Paulette, Paulette!“.
Wofür steht die LSAP in diesem Wahlkampf wirklich? Im Vergleich mit dem Kongress von Déi Gréng eine Woche zuvor war das Event in Leudelingen stärker inszeniert und lebendiger zugleich. Obwohl, unterm Strich gab es doch wenig Auseinandersetzungen und die Notiz- und Markierblocks blieben unberührt. Vor allem in der Wohnungsfrage zeigt sich eine Rückbesinnung auf linke Werte: Das kreativ mit „Déconstruire la crise du logement“ überschriebene Kapitel betont die Rolle der öffentlichen Hand bei Investitionen wie auch bei der Regulierung des Marktes. Bei aller Erneuerung ist die Verjüngung weniger ersichtlich – der Altersdurchschnitt auf den Listen liegt, abgesehen vom Osten, über 45.
Pflicht oder Wahrheit?
Interessant ist aber, dass gerade das Thema Klima von jüngeren Mitgliedern aufgegriffen wird. Bei genauerem Hinschauen ist die LSAP aber alles andere als „durchgrünt“. So fällt das Kapitel zur Landesplanung weit weniger ehrgeizig aus als die Transitionsprojekte der Regierung, sowohl die der grünen Minister*innen als auch Franz Fayots ECO2050-Strategie. Im Programm stolpert man beim Naturschutz über das Prinzip, mit „weniger Verboten“ vorzugehen, in den Ansprachen über die Betonung der „zu teuren Bioprodukte“ und der Unverzichtbarkeit des Autos. Der für den Kongress gewählte Ort schien das allerdings zu illustrieren, war er doch noch schwerer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen als das von Déi Gréng gebuchte Forum Geesseknäppchen.
Ist der neue Anspruch der LSAP, ökologisch und sozial zu sein, am Ende doch nur eine Mogelpackung? Mit dem „Prett sinn“ wird zwar viel geworben, doch wie ist es mit dem Liefern? Ganz klar, die Ökologie hat die LSAP nicht in den Genen. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Partei sich ehrlich um eine neue Positionierung bemüht, statt wie zu Etienne Schneiders Zeiten eine vorgefertigte, „dynamische“ Antwort auf alles zu haben. „Mir lauschteren op jidfereen“, hatte Lenert versichert und der Verlauf des Kongresses wurde diesem Anspruch gerecht. Die schlechte Nachricht: Das ist nicht der einfachste Weg, kurzfristig Wahlen zu gewinnen. Die gute: Mittelfristig öffnet es der LSAP Perspektiven für eine erfolgreiche Neubestimmung.