Mexiko: Nur das Beste für sein Volk

Mexikos Präsident López Obrador hat weitreichende soziale Reformen seines Landes im Sinn. Die demokratische Legitimation seiner Politik hat für ihn allerdings keine Priorität.

Für einen Kapitalismus in sozialen Bahnen: Seit Anfang Dezember vergangenen Jahres ist Andrés Manuel López Obrador Mexikos Präsident. (Foto: EPA-EFE/Sashenka Gutierrez)

Er kniete vor einer indigenen Delegation nieder, ließ sich von den Ureinwohnern einen Kommandostab übergeben, versprach Arbeitsplätze, mehr Universitäten und Renten für alle. Und er kündigte das Ende des Neoliberalismus, der Korruption und der Straflosigkeit an. Zwei Stunden lang legte der neue mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador am 1. Dezember im Zentrum der Hauptstadt sein Regierungsprojekt dar. Es war der Tag seiner Amtseinführung und der Staatschef ließ keinen Zweifel daran, dass Mexiko nun einen radikalen Wandel erleben wird.

Noch vor seiner Rede auf dem Zócalo-Platz wurde der Präsidentenpalast „Los Pinos“ in Mexiko-Stadt, der bis dahin dem jeweiligen Staatschef des Landes als Wohnsitz gedient hatte, den Bürgern als Kulturzentrum übergeben. Schnell kursierte in den sozialen Netzwerken das Foto einer Großfamilie aus dem verarmten Bundesstaat Guerrero, die es sich in einem opulenten Zimmer des Anwesens gemütlich gemacht hatte. López Obrador, den alle nur „Amlo“ nennen, plädierte indes an die Ehrlichkeit jedes einzelnen. „Ich brauche euch“, rief er zum Abschluss seiner Rede den versammelten 150.000 Anhängerinnen und Anhängern zu. „Ohne euch bin ich nichts.“

Wer dem 65-Jährigen zugehört hatte, war versucht zu glauben, hier gehe eine friedliche Revolution vonstatten. Vier Wochen später ist die unbändige Begeisterung vorsichtigem Optimismus gewichen. Denn die von Obrador angekündigte „Vierte Transformation“ des Landes, angelehnt an historische Umwälzungen wie die mexikanische Revolution, ist auf dem Boden der realen Politik gelandet.

Im Kampf gegen die ausufernde Gewalt, die das Land in Atem hält, setzt Obrador auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine Wiederbelebung der ländlichen ökonomischen Strukturen. Sein Gedanke: Wer ein Auskommen hat, wird nicht kriminell.

Mitte Dezember konkretisierte er diese Pläne. Demnach sollen an der Grenze zu den USA und im südlichen Bundesstaat Oaxaca große Freihandelszonen entstehen, in denen Unternehmen zu steuerlich begünstigten Bedingungen für den Weltmarkt produzieren. Der Unternehmer und Chefberater des Präsidenten, Alfonso Romo, sprach von „Investitionsparadiesen“. Allein im in Oaxaca gelegenen Isthmus von Tehuantepec will der Präsident dafür dieses Jahr acht Milliarden Pesos (352 Millionen Euro) investieren. Zudem hält er an der umstrittenen exzessiven Bergbaupolitik seiner Vorgänger fest und will auf der Halbinsel Yucatán einen „Tren Maya“, einen „Maya-Zug“ bauen, der in erster Linie Touristen in die Region bringen soll.

Obrador kündigte an, den Mindestlohn in den Gebieten, in denen Freihandelszonen entstehen sollen, zu verdoppeln. Dennoch kommen solche Vorhaben bei vielen Indigenen und anderen Kleinbauern schlecht an. Sie befürchten schlechte Arbeitsbedingungen, die weitere Zerstörung ihres Lebensraumes und, wie bei der Durchsetzung von Megaprojekten üblich, eine Zunahme der Gewalt. Dabei hatte der Präsident versprochen, indigene Rechte besonders zu achten. „Es mangelt an einem ernsthaften Dialog mit den von solchen Projekten betroffenen Gemeinschaften“, reagierten Organisationen der Zivilgesellschaft auf die wirtschaftlichen Pläne.

Wie Obrador seine Vorhaben finanzieren und zugleich den Haushalt stabil halten will, steht in den Sternen.

Auf heftige Kritik stößt auch Obradors Konzept zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Dafür will er eine aus 50.000 Polizisten und Soldaten bestehende Nationalgarde schaffen. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass diese weitere Militarisierung des Landes die Gewalt nicht bremst, sondern noch eskalieren lässt. Schließlich hat die Mobilisierung des Militärs gegen die Kartelle in den letzten zwölf Jahren dazu geführt, dass offiziellen Angaben zufolge mindestens 200.000 Menschen ermordet wurden und 37.000 verschwunden sind. Nun sollen die Streitkräfte noch mehr Geld erhalten als zuvor, insbesondere zum Aufbau der neuen Truppe.

Ebenso umstritten ist sein Umgang mit den vielen Menschen, die aus Zentralamerika durch das Land reisen, um in die USA zu gelangen. „Mexiko ist das erste Land, das den UN-Migrationspakt umsetzt“, erklärte Außenminister Marcelo Ebrard, nachdem sich die Vereinten Nationen auf diese Vereinbarung geeinigt hatten. Migranten, die sich illegal bewegten, würden nicht mehr verfolgt, viele ohne Papier sollten Aufenthaltsdokumente bekommen.

Zugleich setzt López Obradors Regierung auf eine fragwürdige Kooperation mit dem US-Präsidenten Donald Trump. Sein nordamerikanischer Amtskollege unterstütze die in Mexiko geplanten Projekte, so Obrador. Der unberechenbare Trump jedoch hält vor allem am Bau einer Mauer zwischen den beiden Staaten fest. Besonders stieß Obradors Bereitschaft auf Unverständnis, Mexiko zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären. Das liefert den USA die Legitimation, Flüchtlinge aus dem Süden, die in den Vereinigten Staaten einen Asylantrag stellen, in das Nachbarland abzuschieben; die Betroffenen müssen dort auf eine Entscheidung warten. „Sie wollen, dass Mexiko dieselbe Rolle übernimmt wie die Türkei, nur ohne Geld dafür zu bekommen“, kritisiert Salvador Lacruz vom Menschenrechtszentrum Fray Matías mit Blick auf eine Abschottungspolitik nach dem Vorbild der EU.

Diese ersten Maßnahmen des neuen Präsidenten lassen linke und indigene Organisationen an ihrer anfänglichen Zuversicht zweifeln. Allerdings war schon immer klar: López Obrador ist kein Linksradikaler, der die kapitalistischen Verhältnisse überwinden will. Das hat er nie behauptet, auch wenn ihn Konservative mit dem früheren venezolanischen Staatschef Hugo Chávez vergleichen und Linke ihn gerne als Genossen sehen würden. Selbst die Schaffung der Nationalgarde hatte er in einem Buch angekündigt, das lange vor seiner Wahl veröffentlicht wurde.

Obrador setzt auf einen ehrlichen Kapitalismus, darauf, dass Unternehmer ihre Steuern zahlen, Politiker sich nicht korrumpieren lassen und Bauern wie Proleten nicht kriminell werden, sofern sie unter gerechten Bedingungen ausgebeutet werden. Das wäre tatsächlich ein großer Fortschritt in einem Land, in dem die Hälfte in Armut lebt, kriminelle Organisationen ganze Regionen kontrollieren und Rechtsstaatlichkeit ein Fremdwort ist.

Allerdings ist fraglich, ob López Obrador den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit oder jenen einer auf ungezügeltem Rohstoffabbau basierenden Wirtschaftspolitik versus indigenem Selbstverständnis entschärfen kann. Er baut auf bessere Löhne und darauf, den heimischen Markt zu stärken. Der Maispreis soll erhöht werden, Kredite für die Viehzucht sollen Kleinbauern helfen. Durch den Ausbau der Erdölindustrie will die Regierung die Abhängigkeit von den USA verringern. In den Haushaltsplänen sind zudem Milliardenbeträge vorgesehen, um der alternden Bevölkerung ein sicheres Auskommen zu garantieren und Jugendliche zu unterstützen.

Wie er alle diese Vorhaben finanzieren und zugleich den Haushalt stabil halten will, steht jedoch in den Sternen. Seine „Austeritätspolitik“ konzentriert sich darauf, die Kosten seiner Administration zu verringern. So will er die Diäten von Regierungsmitarbeitern, Juristen und anderen Beamten kürzen sowie in den Ministerien Gelder einsparen. Als gutes Vorbild strich er die Hälfte seines eigenen Gehalts, verkaufte den Präsidentenjet und verzichtet auf das Luxus-Zuhause „Los Pinos“. Darüber hinaus ist er aber stark auf Investoren angewiesen, um Entwicklungsprojekte wie Freihandelszonen oder den „Tren Maya“ zu finanzieren. Seine allein dadurch nötige Nähe zu Unternehmern und sein kooperatives Verhältnis zum US-Präsidenten Trump gefallen nicht jedem.

Auf politischer Ebene hat López Obrador jedoch freie Bahn. Er konnte mit 53 Prozent der Wählerstimmen ein ungewöhnlich gutes Ergebnis einfahren. Seine Partei „Morena“ und deren Alliierte dominieren nach den Wahlen vom 1. Juli den Senat und das Abgeordnetenhaus. Folglich kann Obrador tun, was er für richtig hält. Vorausgesetzt, die Partei, die ihm ihre Existenz verdankt, macht mit. Das birgt große Gefahren, zumal López Obradors Legitimität moralisch geprägt ist. Viele wählten ihn, weil sie ihn für einen guten Menschen halten. Für einen, der das Beste für sein Volk will.

Doch Obrador kommt aus der Schule der ehemaligen Staatspartei PRI, und damit aus einer autoritären Struktur, in der demokratische Entscheidungsfindungen keine Rolle spielen. Einst selbst Politiker dieser Partei, lässt er auch er bislang nicht erkennen, dass er auf solche Aushandlungsprozesse großen Wert legt. Menschenrechtsverletzungen sollen konsequenter verfolgt werden, weil er beziehungsweise „das Volk“ es will, nicht weil eine demokratische Institution das einklagt.

Wer seine Forderungen durchsetzen möchte, ob indigene Gemeinden oder Investoren, muss sich daher mit dem Präsidenten gut stellen. Die Konsequenzen dieser Haltung zeigen sich bereits. So weigert sich López Obrador, der Generalstaatsanwaltschaft einen autonomen Status zuzugestehen. Dies ist eine Forderung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, weil die Ermittlungen über das Verschwinden von 43 Studenten der Ayotzinapa-Lehrerschule am 26. September 2014 aufgrund der Nähe der Ermittlungsbehörde zur Regierung systematisch blockiert worden sind.

Immerhin dekretierte López Obrador nach seinem Amtsantritt, dass eine Wahrheitskommission zu diesem Verbrechen ins Leben gerufen wird. Damit setzte er ein deutliches Zeichen, denn kein Ereignis der letzten Jahre hat mehr Symbolkraft als der Angriff von Polizisten und Kriminellen auf die Studenten in der Stadt Iguala. Es steht für die unzähligen Menschenrechtsverletzungen, unter denen das Land leidet.

Die Einberufung dieser Kommission, sagte der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung Alejandro Encinas, „ist der erste von vielen Schritten für eine Versöhnung des Landes“. Mario González, der seit jenem Septembertag nach seinem Sohn sucht, ist vorsichtig optimistisch. „Für uns ist entscheidend, ob wir den realen Willen sehen, die Jungs zu finden“, sagt er. Zugleich stellt er mit Blick auf den neuen Präsidenten klar: „Einen Blankoscheck stellen wir ihm nicht aus.“

Wolf-Dieter Vogel berichtet für die woxx vor allem aus Mexiko und Lateinamerika.

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