Musik-Filme von Tuys: Papaya mit Ketchup

Fünf Videos, fünf Songs: Mit der Serie „A Curtain Call For Dreamers“ verbindet die Band Tuys Film und Musik zum audiovisuellen Werk über Träume, Realität und Identität. Tun Biever und Yann Gengler sprechen mit der woxx über Freiheit, Surrealismus und Kunst in Schichten.

Copyright: Noah Fohl

Woxx: „A Curtain Call For Dreamers“ ist eine Musik-Serie in fünf Episoden. Am Freitag, dem 25. September 2020, veröffentlicht ihr mit „Saturday Night“ die letzte Folge. Welche Bedeutung haben das Serielle und die Kontinuität in Eurer Arbeit?

Tun Biever: Kontinuität und Harmonie zwischen Songs, Videos, Bildern sind uns immer wichtig. Wir sind Fans vom roten Faden, der sich durch Werke zieht. Bei „A Curtain Call For Dreamers“ war der besonders relevant, weil es ein audiovisuelles Projekt ist. Die Challenge war die, dass wir die Lieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschrieben haben, individuell und teilweise auf Distanz. Wir wollten verschiedene Stile ausprobieren und hatten Lust das Ganze zusammenzubringen, Kontinuität zu schaffen – auch visuell. Aus dem Grund haben wir unsere eigene Welt erstellt, in der wir Charaktere spielen, die in den einzelnen Videos auftauchen. Sie sind Figuren einer gemeinsamen Traumwelt.

Yann Gengler: Diese Kontinuität hat sich teilweise spontan ergeben. Wir haben eine Reise durch unser eigenes Universum gemacht. Es war schon von Anfang an klar, dass „A Curtain Call For Dreamers“ eine Serie werden soll, aber wir wussten nicht genau, in welcher Form.

Tun Biever: Der Rahmen war gesetzt, aber die Story noch nicht. Wir haben gewissermaßen in Schichten gearbeitet, ohne genau zu wissen, wo es hingeht. Ich denke, man versteht die Geschichte auch nicht unbedingt, nur weil man alle Videos gesehen hat.

War es befreiend, so zu arbeiten?

Yann Gengler: Es ist organischer. Nicht so maschinell wie wenn man einen genauen Plan verfolgt. Die Kunst und die Kreativität können sich frei entfalten.

Tun Biever: Das ist der Unterschied zwischen uns beiden (lacht). Ich mag es schon, wenn ich weiß, wohin es geht. Manchmal engt zu viel Freiheit mich in meiner Kreativität ein, weil ich nicht weiß, worauf ich zusteuere. Der Umgang mit Freiheit hängt aber auch von den Lebensbereichen ab… Das Projekt war jedenfalls ein Hybrid, das ganz gut zu uns beiden passt.

In „Jungle“ heißt es in einer Zeile „Don’t wake these kids up. You just fuck them up“. Ist das Kritik an Jugendfeindlichkeit? Ein Appell, die Träume und Bestrebungen junger Menschen nicht zu boykottieren?

Tun Biever: Das ist eine interessante Interpretation. Der Song ist tatsächlich sehr direkt, der Text ist wortwörtlich gemeint. Im Video, das im November veröffentlicht wird, sind Kinder zu sehen, die in der Schule eingeschlafen sind. Der Direktor kommt in den Raum und will die Kinder in ein Raster stecken. Der Song spricht an sich über die Wichtigkeit von Schlaf und Träumen, von ihrer Fruchtbarkeit. Es ist ein Lobgesang an den Schlaf. Gleichzeitig wollen wir auch sagen: ‚Weckt uns nicht, wir wollen in unserer Traumwelt leben.‘ Traum und Schlaf sind eins der Leitmotive des Projekts.

Yann Gengler: Im Video sieht der Direktor die schlafenden Kinder und checkt, dass er dieselben Situationen wie sie erlebt hat und unter einem Schlafmangel und zerbrochenen Träumen leidet. Es geht darum die eigenen Träume mehr zu schätzen.

Abgesehen vom Schlaf, ist Identität ein weiteres zentrales Thema der Serie. Was verbirgt sich hinter der Zeile „Let me be more than an account“ (More than an account)?

Tun Biever: Die Inspiration für den Song ist unter anderem die Trennung von meinem damaligen Partner. Alles, was von der Beziehung übrig blieb, war ihre digitale Präsenz: der personalisierter Klingelton, Fotos, Videos – eine Reduzierung der Beziehung auf digitale Formate. Später als wir an dem Song gearbeitet haben, kam der sozialkritische Aspekt hinzu: die Vereinsamung im Netz. Viele Menschen fühlen sich alleine obwohl sie ihr Leben und sich selbst im Internet mit der Welt teilen. Der Song kam im April raus und wir haben uns gefragt: Ist der Ausbruch der Pandemie der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung? Kann man das machen? Am Ende war es genau der richtige Moment: Im Kontext von Corona ist es beängstigend, wie alleine man sich fühlen kann, trotzt digitaler Vernetzung.

In „Papaya“ geht es nicht um Medien, sondern um Obst und Zitronen – das Video, in dem eine weiblich lesbare Person am Ende weinend auf Stufen sitzt und der Slogan „No means no“ eingeblendet wird, legt allerdings nahe, dass ihr keinen Obstkorb besingt.

Yann Gengler: Eine Frage des Songs ist, wie wir mit Sexualität und mit uns selbst umgehen. Ich habe für mich herausgefunden, dass jede zwischenmenschliche Beziehung zu einem Partner mit Respekt zu tun hat. Die Frage ist, wie dieser Respekt in der Gesellschaft verteilt ist – in einer Gesellschaft, in der toxische Männlichkeit vorherrscht. Ich habe durch Frauen in meinem Umfeld mitbekommen, was für schlimme und schwere Erfahrungen sie durchmachen müssen, die ich als Typ so nicht kenne. Aber war ich immer korrekt im Umgang mit anderen Menschen? Als was für einen Menschen habe ich mich ausgegeben? Der Song klingt nach poppigem Liebeslied, will aber klarmachen, dass der Respekt vor den Anderen immer vor dem eigenen Verlangen steht.

Tun Biever: Es ist an sich eine Satire über toxische Männlichkeit und eine Satire muss keine Antworten geben – sie weist auf die Probleme einer Gesellschaft hin. Papaya als Charakter sollte eine weibliche Figur sein, die bei den Dreharbeiten dann aus der Not heraus am Ende von einem Mann gespielt wurde. Wir spielen aber nicht bewusst mit Geschlechterrollen im Video, doch es gibt dadurch auch diesen queeren Moment, den wir schätzen.

Yann Gengler: Wir haben uns dadurch eigentlich unbewusst die Freiheit gegeben, dass auch eine queere Interpretation möglich ist.

Ihr legt den Fokus in Eurem Projekt stark auf die Videos. Sind Musikvideos nicht schon seit den 1990er-Jahren tot?

Yann Gengler: Durch das Streamen von Musik schauen sich weniger Menschen Musikclips auf YouTube an, außer sie stoßen auf einer Streaming-Plattform auf interessante Musik und suchen dann auf YouTube danach. Wenn du ein Musikvideo drehst, dann nimmst du dem Konsumenten seine Eigenvorstellung, aber du hast auch die Möglichkeit eine zweite Geschichte zu erzählen. Das wollten wir: nicht nur Audio liefern. Wir – oder ich zumindest – sind genauso interessiert am Medium Film wie an der Musik, deswegen wollten wir beides ins Projekt einbinden.

Tun Biever: Musikvideos waren zu Zeiten, in denen Viva und MTV noch groß waren, vor allem kommerzielle Tools. Heute ist das nicht mehr so. Inzwischen sind sie dazu gedacht, mehr über die Songs zu erzählen. Wir haben die Videos nicht nur als Promo-Ding gesehen, sondern als weitere Kunstform. Auch, weil ein Teil der Band sich mit audiovisueller Kunst auseinandersetzt. Es macht Spaß, auch wenn es kostspielig ist.

Eure Videos sind an sich eigene Kunstwerke, teilweise fast surrealistische Kurzfilme.

Yann Gengler: Ich mag besonders surrealistische und naturalistische Regisseure. Stanley Kubrick, zum Beispiel. Es soll verwirrend sein und trotzdem einem Ablauf folgen – die verschiedenen Realitätsebenen sollen unklar bleiben, es soll möglich sein, in alle möglichen Ecken zu schauen und neues über die Erzählung herauszufinden. Grundsätzlich haben wir mit vielen Stilen gespielt. Bei „Ketchup On My Own Knees“ haben wir improvisiert und bei mir zuhause gedreht, zum Beispiel. Das Setting war beschränkt, aber das haben wir filmisch genutzt.

Tun Biever: Es ist ein surrealistisches Projekt, würde ich sagen. Wir spielen mit Meta-Fiktionen. Ein bisschen wie in Kubricks Filmen, die nachvollziehbar beginnen bis verrückte Dinge passieren und der Interpretationsspielraum immer größer wird. Besonders im Video zu „Saturday Night“ kommt das zum Ausdruck: Es gibt viele Überlappungen. Genauso in „Papaya“. Wir spielen mit dem Publikum, ein bisschen wie in „Birdman“ oder „The Truman Show“.

Die letzte Episode ist besonders verwirrend?

Tun Biever: In „Saturday Night“ lassen wir all unsere Ideen aufeinander ‚clashen‘. Die einzelnen Charaktere treffen bei einem Theaterstück zusammen – und jeder Charakter steht für eine Song-Identität. Die Lyrics zum Song sind an sich ein Drehbuch – er ist sehr visuell geschrieben. Im Theaterstück geschehen viele merkwürdige Dinge. Es ist an sich ein Krimi, ja. Wir spielen mit verschiedenen Ebenen von Fiktion: Traum und Schauspiel, Schauspiel ohne Traum, Traum ohne Schauspiel. Es ist ein Spiel mit der Realität und es spiegelt ein wenig, was wir seit zehn Jahren versuchen und noch immer nicht geschafft haben: eine klare Identität zu finden. Es geht um existenzialistische Fragen, wie: Bin ich der Charakter, den ich mir ausgesucht habe?

Versteht das Publikum die Komplexität Eures Werks, wenn es die Songs nur im Radio oder auf Streaming-Plattformen hört? Ist das überhaupt wichtig?

Yann Gengler: Wir machen unsere Kunst schichtweise und legen immer wieder was drauf. Es ist schwer, jede einzelne Schicht zu erklären. Es zählen die individuellen Interpretationen.

Tun Biver: Wie sehr muss eine Message ankommen? „Papaya“ sollte zum Beispiel ein klares Zeichen gegen toxische Männlichkeit setzen – das haben wir dann auch stärker kommuniziert. In „More than an account“ geht es um die Isolation durchs Internet – auch das haben wir deutlich herausgearbeitet. „Saturday Night“ ist hingegen mehr ein konzeptueller Song, der in der Ästhetik der Serie steht. Ich denke, man darf sich nicht verrückt machen, ob eine Message verstanden wird oder nicht. Manchmal kann man auch allein durch die Melodie kommunizieren, ohne dass jemand groß über den Text nachdenken muss. Bei Konzerten ist uns das besonders wichtig: Das Ganze auf die Energie der Musik an sich herunterbrechen zu können und trotzdem ein bisschen was vom Grundkonzept darzustellen.

Yann Gengler: Das ist das interessante an Musik, Film und Fotografie: Es lebt in seiner eigener Form weiter, es löst abhängig von Zeit und Mensch immer neue Gefühle aus und erinnert an vergangene Emotionen. Das Leben ist konstant anders, man kann nie irgendwas festhalten. Ein Lied wird bei jedem Hören neu erlebt und interpretiert.

Hier geht es zum Trailer zu „Saturday Night“.


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