Pestizide: Verboten, gespritzt, auf dem Teller

Der Einsatz von Pestiziden nimmt weltweit zu, mit schweren Folgen für Mensch und Natur. Sie landen nicht nur auf dem Feld, sondern letzten Endes auch auf unseren Tellern.

385 Millionen Menschen werden jährlich durch Pestizide vergiftet, schätzt die Heinrich-Böll-Stiftung.

„Noch nie wurden so viele Pestizide wie heute eingesetzt.“ Mit diesen Worten eröffnete Barbara Unmüßig, die Vorsitzende der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung, die Pressekonferenz zur Vorstellung des Pestizid-Atlas. Die Publikation, die gemeinsam mit dem Naturschutzverband BUND und dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) erstellt wurde, zeigt eindringlich, dass sogenannte Pflanzenschutzmittel gefährlich sind und ihr Einsatz weltweit steigt. Obwohl in Europa viele Stoffe mittlerweile verboten sind, landen sie immer wieder auf unseren Tellern. Das ist auch in Luxemburg nicht anders.

So wie die anderen Atlanten, die die Böll-Stiftung in den letzten Jahren zu landwirtschaftlichen Themen herausgegeben hat, bietet der Pestizid-Atlas mit kurzen Artikeln und Infografiken einen Einblick in das vielschichtige Thema. Eingangs wird eine erschreckende Entwicklung präsentiert: Ungefähr vier Millionen Tonnen Pestizide werden weltweit im Jahr ausgebracht. Diese Zahl ist in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen: zwischen 1990 und 2017 betrug die Steigerung etwa 80 Prozent. Fast die Hälfte sind Herbizide, wie etwa das umstrittene Glyphosat, die gegen sogenannte „Unkräuter“ eingesetzt werden. Insektizide stellen knapp 30 Prozent, während 17 Prozent Fungizide sind.

Der Einsatz von Pestiziden stagniert in Europa zwar, aber in anderen Regionen der Welt werden immer mehr der giftigen Stoffe eingesetzt, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. In Südamerika hat sich der Einsatz zwischen 1999 und 2019 um 143 Prozent gesteigert, in Afrika um 70 und in Asien um knapp 29 Prozent. Das Versprechen der chemischen Industrie, damit könne die Versorgung mit Lebensmitteln gesichert werden, ist für Unmüßig eine Lüge: „Mit Pestiziden bekämpfen wir nicht den Hunger.“ Trotz steigendem Pestizideinsatz sei auch der Hunger gestiegen. „Menschen hungern nicht, weil sie nicht genügend Pestizide haben, sondern weil sie arm und landlos sind.“ Von steigenden Erträgen profitiert vor allem der globale Norden, der zum Beispiel mit lateinamerikanischem Soja seine Tiere füttert.

Altes Gift in neuen Schläuchen

Seit den 1990er-Jahren hat sich der Markt konsolidiert: Große Konzerne haben fusioniert, heute teilen sich vier Firmen den Weltmarkt für Pestizide. 1994 lag der Anteil von Syngenta, Bayer, Corteva und BASF bei weniger als einem Drittel des globalen Pestizidmarktes, 2018 waren es 70 Prozent. Dadurch, dass diese Konzerne nicht nur Pestizide, sondern auch (genetisch modifiziertes) Saatgut herstellen, tragen sie große Verantwortung für die Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft. Auch in diesem Sektor ist der Marktanteil der vier Konzerne enorm gestiegen. Das Geschäft mit dem Gift ist ein einträgliches: 2019 lag der Marktwert für Pestizide bei 84,5 Milliarden US-Dollar. Für 2023 könnte er laut Schätzungen auf 130,7 Milliarden US-Dollar steigen.

Durch große Innovationen hat sich die Industrie nicht hervorgetan. Verkauft werden vor allem jene Mittel, die seit Jahrzehnten im Einsatz – und in der Kritik – sind. 2000 waren noch 70 Prozent der vermarkteten Pestizide von einem Patent geschützt, mittlerweile sind es nur noch 15 Prozent. Strengere Zulassungsverfahren, vor allem in der EU, sind ein Grund dafür. So werden alte Stoffe in neuen Zusammensetzungen verkauft, um „neue“ Produkte anbieten zu können.

Ein Dauerbrenner ist beispielsweise das Herbizid Glyphosat, das unter Verdacht steht, Krebs beim Menschen auszulösen, und in Luxemburg seit 2021 verboten ist. Es wurde 1971 patentiert und drei Jahre später auf den Markt gebracht. Auch die Markteinführung der umstrittenen und für Bienen hochgiftigen Neonicotinoide ist drei Dekaden her.

385 Millionen Pestizidvergiftungen

Ein wenig beachtetes Problem beim Einsatz von Pestiziden ist deren Gefährlichkeit für die Anwender*innen. Vor allem im globalen Süden fehlt es oft an Ausbildung oder Schutzkleidung, um die Stoffe sicher ausbringen zu können. Die Folge sind Vergiftungen, bei denen Schäden am Nervensystem, dem Verdauungstrakt oder den Fortpflanzungsorganen entstehen können. 385 Millionen Menschen erkranken laut Pestizid-Atlas jährlich an den Folgen unbeabsichtigter Pestizidvergiftungen.

Der Großteil dieser Unfälle ereignet sich in Süd- und Südostasien sowie in Ostafrika. „Der Einsatz von Pestiziden funktioniert ähnlich genau wie die ‚chirurgische Kriegsführung‘, also überhaupt nicht. Die Gesundheitswirkungen von Pestiziden wurden jahrzehntelang unterschätzt“, sagte Doris Günther vom PAN im Rahmen der Pressekonferenz dazu.

Die ökologischen Folgen von Pestiziden sind zwar bekannter, aber nicht weniger dramatisch. In den letzten Jahren konnten wissenschaftliche Studien immer wieder den Rückgang von Insekten und Vögeln feststellen, was zumindest zum Teil auch auf Pestizide zurückgeführt wird. Zwischen 2009 und 2019 gab es weltweit einen Rückgang von 41 Prozent der Insektenarten. „Der Verlust von bestäubenden Insekten ist ein großes Problem für die Ernährungssicherheit“, so Olaf Bandt von der Umweltschutzorganisation BUND., „Glyphosat zerstört sämtliche Begleitpflanzen auf einem Acker. Die wären aber wichtig für die Biodiversität und für das Überleben der Insekten. Wenn sie verschwinden, ist die Ernährungssicherheit gefährdet.“ Gäbe es keine Bestäuberinsekten mehr, gäbe es bei manchen Nutzpflanzen komplette Ernteausfälle: Kürbisse, Wassermelonen, Paranüsse, aber auch Kakao gehörten dann der Vergangenheit an.

Luxemburg wird im Pestizid-Atlas als europäisches Vorzeigeland gelobt: Seit 2016 ist der Einsatz von Pestiziden auf öffentlichen Flächen verboten, seit letztem Jahr Glyphosat. Der nationale Pestizid-Aktionsplan sieht vor, bis 2025 den Einsatz der meistgenutzten Pestizide um 30 Prozent zu verringern, bis 2050 soll er halbiert werden. Laut einer Untersuchung der Universität Landau reicht es jedoch nicht, den Einsatz der Pestizide mengenmäßig zu reduzieren, denn ausschlaggebend ist die Toxizität. Je nach Mittel können bereits kleine Mengen ausreichen, um die Biodiversität nachhaltig zu schädigen.

Foto: CC BY 2.0 foundin_a_attic/flickr

Luxemburg: Vorzeigeland mit Pestizidrückständen

Jährlich analysiert das Gesundheitsministerium Lebensmittel, die in Luxemburg verkauft werden, auf Pestizidrückstände. Die Resultate des Jahres 2020, die letzten Oktober veröffentlicht wurden, sind eher beunruhigend. Über die Hälfte der Proben von Lebensmitteln aus konventionellem Anbau wiesen Rückstände auf. Luxemburgs Landwirtschaft scheint besser zu arbeiten, denn hier waren nur rund 40 Prozent der Proben belastet. Besonders häufig war Obst belastet. Insbesondere auf Früchten aus Übersee wurden Pestizidrückstände nachgewiesen.

Damit lässt sich ein Fakt aus dem Pestizid-Atlas verdeutlichen: Europäische Pestizidhersteller exportieren Stoffe, die in der EU verboten sind. Durch den Import von Lebensmitteln landen Rückstände dieser Stoffe dann doch wieder auf unseren Tellern – und haben dazwischen Menschen und Ökosysteme im globalen Süden geschädigt.

Die Analyse des Gesundheitsministeriums zeigte jedoch auch, dass Produkte aus dem biologischen Anbau in der Regel keine Pestizidrückstände erhalten. So waren alle Stichproben von Bioobst und -Gemüse aus heimischer und internationaler Produktion frei von solchen Spuren. Lediglich in Proben von Sesamkörnern wurden Pestizidrückstände gefunden. Der Mouvement écologique veröffentlichte im Dezember 2021 seine Schlussfolgerungen zu diesen Analysen und forderte wenig überraschend eine Reduktion des Pestizideinsatzes: „In Luxemburg selbst muss der Einsatz von Pestiziden in der konventionellen Landwirtschaft weiterhin erheblich reduziert werden. Dabei ist das Landwirtschaftsministerium gefordert, den Aktionsplan Pestizide weitaus konsequenter umzusetzen und vor allem im Entwurf des nationalen Strategieplanes neue Akzente in diesem Sinne setzen.“

Der Pestizid-Atlas kann auf 
boell.de/pestizidatlas heruntergeladen werden.

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