Mentale Erkrankungen nach der Geburt sind keine Seltenheit, doch die wenigsten sprechen darüber, vor allem nicht die betroffenen Väter. Über Bisse, Perfektion und Sexismus an der Kinderwiege.
Ella* hatte im Vorfeld ihrer Schwangerschaft keine großen Ansprüche an sich als Mutter. „Das Einzige, worauf ich mich eingestellt hatte, waren Schlafprobleme. Am Ende war das kein Thema, dafür aber so viel anderes“, sagt sie. Ella gehört zu den Eltern, die unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes mentale Probleme plagten. Internationalen Statistiken zufolge sind das zehn bis fünfzehn Prozent der Mütter und ähnlich viele Väter. Zahlen aus Luxemburg liegen bis dato nicht vor. Ella erhielt zwar nie die Diagnose postnatale Depression, weil sie keine professionelle Hilfe in Anspruch nahm, doch erkannte sie bei sich die dazugehörigen Symptome.
Die Mittdreißigerin fühlte sich gleich nach der Geburt ihres Sohnes Moritz* schlecht. Zunächst körperlich aufgrund eines Dammschnitts, später auch psychisch. Auf der Geburtenstation wollte sie keinen Besuch empfangen, fühlte sich unwohl, weil sie in Windeln und mit starken Schmerzen im Bett lag. Zu Hause fiel es ihr schwer, einen Rhythmus mit dem Kind und ihrem Partner zu finden. Anfangs ging sie vom Babyblues aus, der wenige Stunden bis Tage anhält und keine Erkrankung ist. Als sich ihre Beschwerden über Wochen hinzogen, wurde sie unruhig. Sie wusste über postnatale mentale Erkrankungen Bescheid, hatte aber nicht erwartet, darunter zu leiden.
„Ich konnte monatelang keine enge Beziehung zu meinem Kind aufbauen“, erinnert sie sich. „Ich war froh, dass mein Sohn da war, aber die Liebe zu ihm hat sich anders entwickelt, als ich dachte.“ In einem Moment großer Überforderung biss sie ihren Sohn leicht ins Bein. Seitdem fürchtete Ella immer wieder, Moritz etwas anzutun. Akut hielt dieser Zustand ungefähr ein gutes Jahr an. „Ich habe mir selbst Angst gemacht, weil ich mich nicht wiedererkannt habe“, gesteht sie. „Ich habe mich für mein Verhalten gehasst.“ Sie schämte sich, weil ihr Sohn ein Wunschkind war. Noch dazu ist sie in der Kinderbetreuung tätig und ging davon aus, ein Händchen im Umgang mit Kindern zu haben.
Zerbrechliches Elternglück
Sowohl die Hebamme Danielle Federspiel-Haag als auch der Psychologe und Psychotherapeut Jean Fischbach betonen, dass sich die Krankheiten postnatale Depression und Psychose deutlich vom Babyblues unterscheiden. Expert*innen sprechen erst von einer postnatalen Depression, wenn die mentalen Probleme länger als zwei Wochen anhalten. Risikofaktoren gibt es einige. Federspiel-Haag wird bei verschiedenen Vorgeschichten hellhörig: „Frauen, die von einer postnatalen Depression betroffen sind, haben oft ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Mutter. Nach der Geburt kommen angestaute Emotionen und Fragen hoch wie: Was ist eine gute, was eine schlechte Mutter? Wie bin ich groß geworden? Das kann sich negativ auf die Beziehung zum eigenen Kind auswirken.“ Ähnlich vorsichtig ist sie bei Frauen, die in der Pubertät aufgrund des Hormonwechsels mit psychischen Anpassungsschwierigkeiten wie einer Essstörung zu kämpfen hatten. In beiden Fällen steigt laut der Hebamme das Risiko, an einer postnatalen Depression zu erkranken.
Bei einer Psychose entwickeln die Betroffenen ein anderes Krankheitsbild. „Wenn das Umfeld feststellt, dass sich das Verhalten der Person stark verändert, sie zwischen manischem und depressivem Verhalten schwankt und/oder einen Realitätsverlust erleidet, muss es sofort Hilfe holen“, rät Fischbach im Hinblick auf die Psychose, die seines Wissens nur eine von 1.000 Müttern betreffe. Federspiel-Haag, die seit über zwanzig Jahren als Hebamme tätig ist, bestätigt, dass beim Verdacht auf eine Psychose sofortiges Handeln angebracht ist. Eine Psychose mache sich manchmal schon auf der Geburtenstation bemerkbar. „Diese Menschen lässt man nicht allein mit ihrem Kind nach Hause gehen“, ergänzt sie. Sie würden an die Psychiatrie weitergeleitet.
Fischbach wurde bisher erst von einer Mutter selbst auf postnatale Depression angesprochen, Federspiel-Haag spricht von vereinzelten Fällen, die jedes Jahr aufkommen. Beide informieren die Eltern sowohl vor als auch nach der Geburt über die Möglichkeit mentaler Erkrankungen. Sie sind sich einig, dass die mäßige Kontaktaufnahme der Tabuisierung negativer Gefühle rund um die Geburt geschuldet ist sowie der anhaltenden Scham, offen über mentale Krankheiten zu reden.
Federspiel-Haag erwähnt zudem die Blauäugigkeit bei der Geburt des ersten Kindes: Viele Paare, die sie betreut, interessierten sich im Vorfeld weder für ihren Hinweis auf Scheidungsraten und die Hinterfragung der eigenen Beziehungsdynamik noch für mentale Krankheiten nach der Geburt. Sie gibt den Eltern nach der Entbindung den Edinburgh Depressions-Fragebogen mit auf den Weg: Jede Antwort ist mit einer Punktzahl versehen – die Summe ergibt erste Hinweise darauf, ob eine Depression vorliegen könnte.
Die Mitarbeiter*innen der Initiativ Liewensufank achten bei Interaktionen mit Eltern auf Anzeichen entsprechender Erkrankungen und teilen Fischbach mit, wenn sie einen Verdacht haben. Er klärt die Fälle ab und leitet die Betroffenen gegebenenfalls an Anlaufstellen weiter, da die Initiativ Liewensufank keine Therapiemöglichkeiten hat. Warum das wichtig ist, zeigen Fischbachs Aussagen zu Suizid und postnataler Depression: Er zitiert Studien nach denen zwanzig Prozent der Personen, die unmittelbar nach einer Geburt Suizid begangen haben, unter einer postnatalen Depression litten. „Es handelt sich bei diesen Zahlen um Ergebnisse einzelner Studien. Das Risiko ist jedoch gegeben, dass bei postnataler Depression Suizidgedanken sowie Überlegungen, sich und das eigene Kind zu ermorden, aufkommen“, sagt er, hebt allerdings hervor, dass nur die wenigsten zur Tat schreiten. Er verweist dennoch auf die Tatsache, dass die Frage nach einer postnatalen Depression als Hintergrundmotiv für Kindsmord oder Suizid nach der Geburt in den Medien selten gestellt wird. „Warum? Unter anderem, weil nicht offen darüber gesprochen wird und die Dunkelziffer der Menschen, die von einer postnatalen Depression betroffen sind, womöglich höher ist als die Zahlen, die uns vorliegen“, vermutet er.
Fischbach und Federspiel-Haag stellen immer wieder klar: Nicht jede Gefühls- und Stimmungsschwankung, nicht jede überfordernde Situation ist ein Hinweis auf eine postnatale Depression und außerdem sei selbst diese, so Fischbach, gut behandelbar. „Wir wollen aufklären, aber die Menschen nicht verängstigen. An dieser Stelle deshalb auch der Hinweis auf die Baby-Hotline der Initiativ Liewens- ufank: Wer Unterstützung braucht, kann sich jederzeit dort melden“, sagt er. Wie oft sich Betroffene an diese wenden, kann Fischbach nicht mit Sicherheit sagen. Die Organisation führt keine Statistik.
Von Müttern und Vätern
„Es wäre schön, wenn es einen Ort gäbe, wo werdende Eltern von der Schwangerschaft bis zur Entbindung und darüber hinaus betreut werden“, findet Ella. „Es ist unglücklich, dass es für die einzelnen Phasen unterschiedliche Anlaufstellen gibt.“ Jean Fischbach und Danielle Federspiel-Haag bemängeln darüber hinaus die Behandlungsmöglichkeiten in Luxemburg. Fischbach vermisst Mutter-Kind-Stationen, auf denen Mütter gemeinsam mit dem Neugeborenen beziehungsweise dem Kleinkind therapiert werden, doch auch spezifische Angebote für Väter, die unter postnatalen mentalen Erkrankungen leiden. „Wenn Frauen schon wenig über postnatale Depression wissen, dann müssen wir davon ausgehen, dass noch deutlich weniger Männer darüber informiert sind“, sagt er.
Das bestätigt auch Aurélie Jaaques von der Beratungsstelle InfoMann, die sich ausschließlich an Männer richtet. Sie teilte der woxx auf Nachfrage mit, dass bisher noch kein Vater das Team wegen postnataler mentaler Probleme aufgesucht habe. Die Gründe hierfür kann sie nur erahnen: „Es sind wohl dieselben, die Männer generell davon abhalten, sich Hilfe zu suchen, wenn es ihnen schlecht geht. Das hat mit Stereotypen – ein Mann kommt klar –, Rollenbildern und -zuschreibungen – ein Mann muss stark sein – zu tun, aber auch mit Schwierigkeiten, eigene Emotionen zuzulassen, sie zu akzeptieren und zu thematisieren.“ Auch Ellas Partner empfand eine Stellungnahme zur Situation seiner Partnerin sowie Aussagen zu seiner Gefühlslage nach der Geburt als schwierig und lehnte den Austausch ab. Andere Väter, die selbst oder durch die*den Partner*in mit postnatalen mentalen Erkrankungen in Berührung kamen, waren nicht aufzufinden.
Bei der Arbeit in seiner psychologischen Praxis hat Fischbach sich explizit den Schwerpunkt Männer und Väter gesetzt. „Wir müssen wegkommen von einem ungesunden Bild von Männlichkeit und von der Idee, dass Väter eine unwichtige Randfigur sind“, sagt er. „Männer sollen sich über ihr Verständnis vom Vatersein austauschen und sich selbst öfter hinterfragen.“ Für ihn ist klar, dass es einer spezifischen Kommunikation mit werdenden Vätern bedarf.
Es hat nach Aussagen von Nicole Weber, Koordinatorin der Ausbildung zur oder zum Entbindungspfleger*in am Lycée pour professions de santé, in Luxemburg übrigens noch nie ein Mann die besagte Ausbildung absolviert. Aktuell gibt es auch keinen, der den Beruf aktiv ausübt. Bei der Initiativ Liewensufank ist Jean Fischbach der einzige männliche Mitarbeiter, was sich auch in den Kursen bemerkbar macht, die er zusammen mit weiblichen Kolleginnen leitet, um den Teilnehmer*innen eine zweite Identifikationsfigur zu bieten.
Die Hebamme Federspiel-Haag verweist bei der mangelnden Inanspruchnahme von psychologischen Anlaufstellen aber auch auf ein von der Geschlechtsidentität unabhängiges Problem: soziale Ungleichheiten. Das Problem sei, dass die Kosten für eine Therapie bei Psycholog*innen derzeit nicht von der Krankenkasse übernommen würden. Finanziell schwache Betroffene könnten sich den professionellen Beistand oft nicht leisten. „Die Anlaufstellen, die staatlich subventioniert sind, sind ausgelastet. Die Menschen warten monatelang auf Hilfe“, sagt sie.
Ella hielten andere Gründe davon ab, sich psychologische Hilfe zu nehmen. „Den passenden Therapeuten zu finden, braucht Zeit. Ich wollte es mir ersparen, von einer Praxis zur nächsten zu tingeln“, erklärt sie. „Rückblickend wäre es aber sinnvoll gewesen, mir professionelle Hilfe zu suchen.“ Neben dem Austausch mit ihren Liebsten und Bekannten, half Ella zunächst auch der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben. „Ich bin nach acht Wochen wieder in Teilzeit zur Arbeit erschienen, habe Sport getrieben und mich politisch engagiert – ich habe mich über jede Aktivität gefreut, die nur mir zugutekam, jedoch war das auch Zeit, die ich nicht mit meinem Kind verbracht habe“, stellt sie fest. „Als ich später wieder Vollzeit gearbeitet habe, wurde es heftig. Ich habe mir selber zu viel zugemutet, was meine Probleme am Ende verstärkt hat.“
Hier erkennt Federspiel-Haag Unterschiede zwischen den Generationen: Hätten Frauen früher nach der Geburt ihrer Kinder mit der Arbeit aufgehört, würden heute einige schon drei Tage danach wieder berufliche Mails beantworten und im Fitnessstudio trainieren. In den letzten zwanzig Jahren habe der Drang nach Perfektion zugenommen. „Das Kind muss makellos sein, die Schwangerschaft wird bis ins kleinste Detail überwacht, es gibt eine regelrechte Industrie rund ums Kinderkriegen und die Erziehung – das macht Angst und Druck, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden“, sagt die Hebamme.
Stichwort Sexismus
Für Fischbach kommen Sexismus und Geschlechterstereotypen noch dazu: „Es gibt immer noch dieses Bild der perfekten Hausfrau und Mutter, die alles im Griff hat. Das übt einen immensen Druck aus.“ Er greift auch das hartnäckige Klischee auf, nach dem „Frauen von Natur aus wissen, wie man Kinder erzieht, weil sie diese gebären können“. Dabei sei dieses Argument allein aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. Auch Väter blieben von Vorurteilen nicht verschont: „Bei Vätern herrscht das Stereotyp vor, dass sie ‚nice to have‘ sind, aber nicht notwendig. Das führt dazu, dass sie sich oft aus der Erziehung raushalten.“
Das betrifft laut Fischbach selbst heterosexuelle Paare, die vor der Geburt des Kindes gleichberechtigt lebten. „Studien zeigen, dass sich auch ihre Dynamik im ersten Halbjahr nach der Geburt stark und zum Nachteil der Frau wandelt: Sie übernimmt deutlich mehr Aufgaben und trägt die mentale Last“, hält der Psychologe fest. Das sei ein großer Stressfaktor, den die Paare aktiv verändern sowie verbessern könnten, um das Risiko einer postnatalen Depression zu reduzieren – auch wenn diese nicht immer auf Probleme in der Partnerschaft oder auf eine ungleiche Verteilung der mentalen Belastung zurückzuführen sei.
Bei Ella spielte dieser Faktor eine Rolle. Moritz kam im Dezember 2017 zur Welt, noch bevor der Vaterschaftsurlaub in Luxemburg ein Jahr später von zwei auf zehn Tage verlängert wurde. Ellas Partner nahm sich nach der Geburt eine Woche frei, musste dann aber wieder zur Arbeit und ging wie gewohnt seinen Freizeitaktivitäten nach. Die ersten zwei Jahre nach der Geburt war Ella die meiste Zeit auf sich alleine gestellt. Das, obwohl sie ihren Partner gleich in die Kinderbetreuung einband und aus diesem Grund nicht stillte: „Ich wollte nicht, dass ich mich als Mutter verantwortlicher fühle und meinem Partner die Möglichkeit entziehe, eine Bindung zum Kind aufzubauen.“ Die mentale Last blieb am Ende trotzdem an ihr hängen.
Ella führt das auf die Sozialisierung zurück. Ihr Partner wuchs in einer Familie mit traditionellen Rollenbildern auf. Sie ebenso, doch ihre Mutter rebellierte gegen ihren Vater und brachte Gleichberechtigung und geteilte Verantwortung in der Kindeserziehung zur Sprache. Fischbach bestätigt, dass sich Paare oft an ihrer eigenen Kindheit orientierten, ohne darüber nachzudenken, dass die Umstände früher andere waren. „In der Regel blieb die Mutter früher zu Hause und Väter hatten kein Recht auf Elternurlaub. Heute widerspricht es sich nicht mehr, beruflich erfolgreich zu sein und Kinder zu erziehen – und das ist gut so.“ Er zitiert wenig später den afrikanischen Volksspruch „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“, führt Zeigefinger und Daumen ganz nah zusammen, wenn er sagt: „Das Familienmuster, das wir heute verfolgen, macht nur ein minimales Stück der Menschheitsgeschichte aus.“
Früher habe es Mehrgenerationenhaushalte gegeben, in denen der Alltag zusammen bewältigt wurde, heute stelle er eine Vereinsamung, insbesondere von Müttern, fest. „Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, alleine Kinder zu erziehen“, sagt er. „Es ist Blödsinn zu behaupten, dass es nur schön ist, den ganzen Tag alleine mit einem Baby zu verbringen. Die meisten Frauen sind mindestens die ersten drei Monate nach der Geburt alleine mit ihrem Kind – das ist besonders seit der Pandemie, in der die sozialen Kontakte reduziert werden mussten, eine harte Zeit.“
Ella stimme Fischbach sicherlich zu, denn auch sie empfand die Ausgangssperren der letzten zwei Jahre als belastend. Im Gespräch mit der woxx wandert ihr Blick immer wieder zu Moritz, der im Wohnzimmer spielt. „Ich wollte immer nur das Beste für den Kleinen“, versichert sie. Moritz klettert kurze Zeit später auf ihren Schoß und schneidet Grimassen. Ella streichelt ihm übers Haar. Heute ist die Beziehung zwischen den beiden innig und Ella denkt vier Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes mit weniger Angst, ungezwungen über weiteren Familienzuwachs nach.
*Namen von der Redaktion geändert.
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