Fixierungen als Routinemaßnahme, kaum Dokumentation, mangelnde Patient*innenrechte. Ein vom Ombudsman in Auftrag gegebenes Gutachten attestiert dem Großherzogtum gravierende Defizite.

Stundenlang am Krankenhausbett fixiert. Bei zwangseingewiesenen Patient*innen keine Ausnahme. (Foto: Olivier Collet/unsplash)
Ein psychiatrischer Patient schluckt Rasierklingen. Statt operiert zu werden, wird er im Centre hospitalier du Nord (CHdN) in Ettelbrück an Händen, Füßen und Bauch mehrere Tage am Bett fixiert. Im Centre hospitalier Emile Mayrisch (CHEM) in Esch wird ein Patient mit akuten Verfolgungsideen eingeliefert. Bei dem jungen Mann sind paranoide, schizophrene Episoden bekannt, er ist weder aggressiv, noch stellt er für sich selbst eine Gefahr dar. Dennoch wird er über Tage ans Bett gefesselt, morgens wird seine rechte Hand gelöst, damit er sein Frühstück zu sich nehmen kann. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird ein emotional aufgebrachtes Kind von Pflegekräften in ein Bettlaken gewickelt, bis es sich nicht mehr bewegen kann und erst dann wieder befreit, wenn es Wiedergutmachungsabsicht zeigt – dies ist kein Einzelfall, sondern „Teil des Behandlungskonzepts“.
Szenen wie diese gehören für Menschen, die mit einer Zwangseinweisung in einer der psychiatrischen Abteilungen von Luxemburgs Krankenhäusern landen, zum Alltag. Das zeigt ein aktuelles Gutachten, das der Contrôle externe des lieux privatifs de liberté (CELPL) des Ombudsman in Auftrag gegeben und vergangenen Dienstag veröffentlicht hat. Der deutsche Gutachter Prof. Dr. Tilman Steinert, Psychiater und Experte für Zwangsmaßnahmen, bewertete neben der gesetzlichen Grundlage, auch Informationen zu (zwangs)eingewiesenen Patient*innen aus allen psychiatrischen Abteilungen der hiesigen Krankenhäuser (CHdN, CHEM, Centre hospitalier de Luxembourg, Hôpitaux Robert Schuman) sowie dem Centre hospitalier neuro-psychiatrique (CHNP). Zudem erhielt er Einsicht in jeweils zwei vollständige Fallakten pro Einrichtung, für das CHdN sogar drei.
Das Gutachten enthüllt gravierende Defizite. Die Qualität der Dokumentation und Behandlung im Umgang mit Zwangsmaßnahmen variiere stark, sei jedoch in allen Einrichtungen außer dem CHNP durchweg mangelhaft. Zudem „vermisst man in allen durchgesehenen Krankenakten das Grundverständnis, dass die Willensäußerungen von Patienten relevant sind“, fasst der Experte seinen Eindruck zusammen. Fehlende Patient*innenrechte, die sich für ihn schon in der veralteten, paternalistischen Gesetzgebung zeigen: „Im luxemburgischen Gesetz fällt auf, dass die betroffene Person als Subjekt mit eigenen Rechten nahezu nicht in Erscheinung tritt.“ Vielmehr legitimieren die beiden für Zwangseinweisung in die Psychiatrie zugrunde liegenden Gesetze von 1992 und 2009 Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen, Isolierungen und Zwangsmedikation automatisch mit der Einweisung, ohne dass es weiterer richterlicher Beschlüsse oder Ähnliches bedarf.
Teil der Klinikkultur
Eine Praxis, die sich deutlich von modernen psychiatrischen Standards in anderen europäischen Ländern unterscheidet. In Luxemburg laufen Patient*innen dagegen Gefahr, Opfer eines Systems zu werden, in dem Zwang zur ungeschriebenen Klinikkultur gehört. Anders als in den fachlichen Leitlinien vorgesehen – also den medizinisch-ethischen Empfehlungen zur Behandlung in der Psychiatrie – werden Zwangsmaßnahmen nicht als „Ultima Ratio“, also letztes Mittel, eingesetzt. Vielmehr erfüllen sie in der Praxis teils auch funktionale oder sogar disziplinierende Zwecke. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind Fixierungen in Bettlaken geradezu Bestandteil des Behandlungskonzept und verfolgen einen angeblich pädagogischen Zweck. Die Beschreibung der Prozedur, die in Gänze in das Gutachten eingefügt wurde, erinnert an Erziehungsanstalten aus den 1950er-Jahren.
In seinen Forderungen zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung schließt sich der CELPL weitgehend Steinerts Empfehlungen an. Es bedarf in Luxemburg einer umfassenden Reform des luxemburgischen Gesetzesrahmens zur Zwangsunterbringung in der Psychiatrie. Zwangsmaßnahmen müssen explizit gesetzlich geregelt werden, inklusive klarer Kriterien wie Einwilligungsunfähigkeit zusammen mit akuter Gefährdungslage. Zudem sollen die Dokumentation und Behandlungspraxis verbessert werden mit einem Fokus auf Deeskalation und einer gesetzlich vorgeschrieben 1:1-Betreuung bei Fixierungen. Da sich erhebliche Unterschiede in der Qualität zeigten – mit dem CHNP an der Spitze und dem CHEM als klares Schlusslicht –, wird zudem ein interdisziplinärer Austausch zwischen den Kliniken empfohlen und ein „Trialog“ zwischen Fachkräften, Betroffenen und Angehörigen gefordert.