Schon gestreamt? Tell Me Who I Am

Der Dokumentarfilm „Tell Me Who I Am“ handelt laut Netflix-Beschreibung von Erinnerungsrekonstruktion und einem Familiengeheimnis. Das spiegelt die Art und Weise wider, wie auch der Film selbst das Ausmaß des Skandals auf eine Familie reduziert.

© Netflix

„Tell Me Who I Am“ beginnt als Film über den Gedächtnisverlust, den der damals 18-jährige Alex Lewis in Folge eines Motorradunfalls erlitt. Als er im Krankenhaus aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern: Er wusste nicht, wer seine Eltern oder Freund*innen waren, nicht, wo er wohnte, ja er wusste noch nicht einmal, wie er selbst hieß. Das einzige, woran er sich noch erinnern konnte, war sein Zwillingsbruder Marcus. Mit dessen Hilfe versuchte Alex in der Folge die Erinnerung an sein bisheriges Leben zu rekonstruieren. Er verließ sich blind darauf, was sein Bruder ihm erzählte, nur um später festzustellen, dass dieser wichtige Teile ausgelassen und beschönigt hatte.

Auch wenn die Motive des Vergessens und der Erinnerung in „Tell Me Who I Am“ eine zentrale Rolle spielen, so handelt der Film doch in erster Linie von sexuellem Missbrauch. Die Art und Weise wie Regisseur Ed Perkins entschieden hat, diese Geschichte zu erzählen ist zwar fesselnd, doch wundert es, welche Aspekte der Film unergründet lässt. Wer waren die Männer, die sich an den Zwillingen vergriffen? Wie konnte das Umfeld der Familie nicht mitbekommen, wie Marcus und Alex von ihren Eltern behandelt wurden? An einer Stelle wird thematisiert, dass die Zwillinge nach dem Tod ihrer Eltern dutzende nicht ausgepackte Geschenke im Keller fanden. Zwar wird kurz die Frage aufgeworfen, weshalb ihre Mutter diese vor ihnen versteckte, doch von wem die Geschenke geschickt wurden und in welchem Verhältnis die Brüder zu den Versender*innen stehen, kommt nicht zur Sprache. An einer anderen Stelle wird angedeutet, dass die Zwillinge nie mit ihren Eltern in Urlaub fuhren. Die Frage, wer sonst aber die Fotos von ihnen als Kinder am Strand gemacht hat, wird nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Weniger wichtig, aber dennoch nicht uninteressant ist die Frage, wie ein Mensch, der mit 18 Jahren in seinem Lernprozess praktisch bei Null anfing, einige Jahre später seine eigene Firma gründen konnte.

Die größte Schwäche des Films ist jedoch wie mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs umgegangen wird. Wo ein Film wie „Leaving Neverland“ im Detail über die Art aufklärte, wie Opfer von sexuellem Missbrauch unter den Folgen leiden und wie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch belastet werden, bleibt es dem Publikum von „Tell Me Who I Am“ selbst überlassen die Lücken zu füllen. Da diese psychologischen Aspekte jedoch in den Hintergrund rücken, wird der Film streckenweise auf eine Enthüllungsgeschichte reduziert – in Anbetracht der Thematik eine geschmacklose Schwerpunktsetzung.


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