Schulabbruch: Wenn der Schulbesuch keine Option mehr ist

Die Anzahl der Schulabbrüche hierzulande ist seit Pandemiebeginn nicht angestiegen. Trotzdem ist die Problematik nicht zu unterschätzen. Kann ein Anheben der Schulpflicht auf 18 Jahre helfen?

Wer in der Schule nicht mitkommt wird oftmals ungerechtfertigerweise als faul und dumm stigmatisiert. (Foto: CC BY 2.0)

Dass sich die Pandemie negativ auf die Schulbildung auswirken würde, stand von Anfang an außer Frage: Der phasenweise eingesetzte Fernunterricht und neue logistische Herausforderungen ließen beziehungsweise lassen weniger Zeit fürs Curriculum. Hinzu kam die psychische Belastung der Kinder durch eingeschränkte soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten.

Anders als in vielen Ländern blieb die Abbruchquote hierzulande im Schuljahr 2019/20 jedoch stabil. Mit acht Prozent befindet sich das Großherzogtum nach wie vor leicht unter dem europäischen Durchschnitt von zehn Prozent. Zahlen zum letzten Schuljahr, die das Bildungsministerium veröffentlicht hat, bestätigen diese Tendenz.

Schulabbruch, und dann?

Zufrieden ist Bildungsminister Claude Meisch (DP) trotzdem nicht, was zuletzt an seiner im September gemachten Ankündigung, die „obligation scolaire“ von 16 auf 18 Jahre anheben zu wollen, deutlich wurde. Auf diese Weise wolle man sicherstellen, hieß es vage im entsprechenden Communiqué, dass jede*r Jugendliche ausreichend Zeit habe, sich auf die immer komplexer werdende Berufswelt vorzubereiten. Von einer „mesure anti-décrochage“ war die Rede, die durch die Schaffung alternativer Bildungsangebote ergänzt werden solle.

Auch wenn die Anzahl der Schulabbrecher*innen durch die Pandemie nicht angestiegen ist, ist die Problematik akuter geworden. Ein vorzeitiger Schulabbruch ist der größte Risikofaktor um in der Folge ein Mensch in einer NEET-Situation (Not in Education, Employment, or Training) zu werden: Laut einer 2017 vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser) veröffentlichten Studie waren 37 Prozent der Schulabbrecher*innen weder in Ausbildung noch in Arbeit. Bei jungen Menschen mit Schulabschluss war dies nur bei 11 Prozent der Fall. Auch wenn diesbezüglich keine rezenten Statistiken vorliegen, so kann man davon ausgehen, dass sie sich zumindest nicht verbessert haben.

Was in letzter Zeit auffallend abgenommen hat, ist die Zahl der Lehrstellensuchenden: Mit einem Minus von neun Prozent ist sie auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. 2020 blieb ein Fünftel aller gemeldeten Lehrstellen unbesetzt. Bei der Vorstellung ihrer Analyse zur Berufsausbildung während der Pandemie im Mai 2021 äußerte die Arbeiternehmer*innenkammer (CSL) diesbezüglich eine Hypothese: Pandemiebedingt hätten sich viele junge Menschen von vornherein gegen einen dualen Ausbildungsweg entschieden. Während die CSL hier von Schüler*innen sprach, die immerhin noch theoretische Kurse besuchten, so verschärft sich das Problem noch um ein Vielfaches, wenn es Schulabbrecher*innen sind, die sich aus Angst vor schwindenden Perspektiven gegen eine praktische Ausbildung entscheiden.

Wer sind die Schulabbrecher*innen?

Wie aus internationalen Studien hervorgeht, verfügen Schulab-
brecher*innen oft über einen niedrigen sozio-ökonomischen Hintergrund und einen alleinerziehenden Elternteil. Auch der Tod naher Familienangehöriger oder die Scheidung der Eltern können den Schulabbruch begünstigen. Doch wie sieht es mit Daten aus, die die spezifische Situation in Luxemburg beleuchten?

Alle Jugendlichen, die das Bildungssystem ohne Abschlussdiplom verlassen haben (beziehungsweise deren Eltern, falls es sich um Minderjährige handelt), werden per Post aufgefordert, sich mit dem Service national de la jeunesse (SNJ) in Verbindung zu setzen. Erfolgt keine Reaktion, versucht der SNJ bis zu fünfmal auf unterschiedlichem Weg den Kontakt herzustellen. Das Angebot des SNJ setzt sich aus drei Aspekten zusammen: Die Jugendlichen erhalten eine individuelle Beratung, ihnen wird dabei geholfen, ihre Schullaufbahn wieder aufzunehmen, und sie werden über Weiterbildungsangebote informiert.

Durch diesen Kontakt erhält das SNJ einen Einblick in die Risikofaktoren: Im Jahr 2021 veröffentlichten Daten zufolge haben 90 Prozent der Schulabbrecher*innen einen schulischen Rückstand von mindestens zwei Jahren, 60 Prozent sind männlichen Geschlechts. Die meisten Betroffenen waren zudem zum Zeitpunkt des Abbruchs dabei, ein Diplôme d‘aptitude professionnelle (DAP) zu erwerben. Dieses bescheinigt den erfolgreichen Abschluss einer Berufsausbildung.

Über die genaueren Beweggründe für die Schulabbrüche ist der SNJ nur mangelhaft informiert. Der Grund: In weniger als einem Drittel der Fälle erhalten die beratenden Mitarbeiter von den Betroffenen eine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Die Daten, die dem SNJ diesbezüglich vorliegen, sind weder sehr aussagekräftig, noch gehen sie besonders in die Tiefe. Die häufigsten Gründe sind demzufolge einerseits die Abwesenheit eines Ausbildungsvertrags und andererseits das fehlende Interesse an dem gewählten Ausbildungsweg.

Um Genaueres über die demografische Gruppe der Schulabgänger*innen in Erfahrung zu bringen, arbeitete das Liser eine entsprechende Studie aus. Dazu führten die Forscher*innen Gespräche mit 22 jungen Menschen, die im Alter von 16 beziehungsweise 17 Jahren die Schule verlassen hatten. Die Ergebnisse wurden im Oktober 2021 veröffentlicht. Die Gründe, die hier für Schulabbrüche ausgemacht werden: mangelnde Unterstützung durch das soziale Umfeld, Probleme mit dem Schulsystem und mangelnde Vorbereitung auf den Berufseinstieg.

Die schulischen Probleme sind zum einen sprachlicher Natur: Schulabbrecher*innen mit Luxemburgisch als Erstsprache taten sich mit dem Französischlernen schwer, bei den frankophonen Erstsprachler*innen stellten dagegen das Deutsche und das Luxemburgische eine Hürde dar. Vor allem jene, die erst als Kinder oder Jugendliche nach Luxemburg immigrierten, klagten über sprachliche Schwierigkeiten, die zum Teil nicht durch Angebote wie „classes d‘accueils“ und kostenlose Nachhilfe behoben werden konnten. Für private Nachhilfekurse fehlte in manchen Fällen das nötige Geld.

Bei manchen Jugendlichen wirkte sich die Orientierung ins „Modulaire“ negativ auf ihre Motivation aus, unter anderem deshalb, weil sie sich durch ihr soziales Umfeld stigmatisiert fühlten. Andere erzählten davon, gemobbt worden zu sein und sich im Stich gelassen gefühlt zu haben. „C’est vrai, parce que moi je trouve que le Luxembourg en fait, eux, ils abandonnent vite pour les élèves“, wird eine*r der Befragten zitiert.

Eine zentrale Rolle bei der Lernmotivation spielte die Beziehung zu den Lehrkräften. Danach gefragt, welche Charakteristiken für sie eine gute Lehrkraft haben sollte, gaben die Befragten unter anderem ein gutes Verhältnis zu den Eltern, ein respektvoller Umgang sowie Empathiefähigkeit an. Ein schlechtes Verhältnis zu den Lehrkräften wiederum war ein großer Risikofaktor für einen Schulabbruch.

Wie die Studie zeigte, wendeten sich die meisten Jugendlichen bei der Informationssuche über ihre Orientierungsmöglichkeiten an ihre Familien, Gleichaltrige oder das Internet. Die spezifisch dafür vorgesehenen Beratungsstellen, wie etwa der Sepas (Service psycho-social et d’accompagnement scolaires), wurden nur in sehr seltenen Fällen aufgesucht. Was die von der Schule gelieferten Informationen betraf, so fühlten sich manche von diesen überfordert. Andere wiederum fühlten sich nicht ausreichend informiert.

Auch Orientierungspraktika in Betrieben wurden von den Befragten sehr unterschiedlich erlebt: Während manche sie als hilfreich empfanden, wurden andere durch negative Erfahrungen im Praktikum dazu angeregt, ihren Berufswunsch aufzugeben. In einigen Fällen wurde die Praktikumsdauer als zu kurz empfunden, um einen guten Einblick in den Berufsalltag zu gewinnen.

Interessante Befunde ergab die Studie auch zum Thema Berufsausbildung. So überwog bei den Befragten diesbezüglich ein negatives Bild: Viele verbanden damit die Einschränkung der anschließend zur Verfügung stehenden Optionen. Manche fühlten sich nicht bereit dazu, schon im jungen Alter eine derart wichtige Lebensentscheidung zu treffen. „Avec un apprentissage, il y a seulement dans le secteur étudié où on peut trouver un emploi. (…) On n’a pas la même liberté car on apprend que pour ce seul métier et on ne peut donc pas travailler dans tous les domaines“, so eine*r der Befragten. Auch die Auswahl an Praktikumsplätzen wurde von einigen bemängelt: Je nach Sparte und Wohnort sei diese sehr beschränkt. Im ländlichen Raum gebe es zum Beispiel zu wenige Lehrstellen in Friseursalons.

Wenn es darum ging, nach dem Abbruch die Schullaufbahn wieder aufzunehmen, spielte vor allem ein Faktor eine wichtige Rolle: sich der Wichtigkeit eines Schulabschlusses bewusst zu werden. In vielen Fällen war die Wiederaufnahme aufgrund eines zu hohen Alters oder mangelnder Plätze unmöglich. Bei manchen stellte sich aufgrund einer Kombination aus mangelndem Selbstbewusstsein, überfordernden Informationen und schwindender Optionen irgendwann ein Gefühl der Ausweglosigkeit ein.

Ihre Ergebnisse veranlassen die Forscher*innen dazu, die Erhöhung der Schulpflicht zu befürworten. „Leur sortie de l’école est souvent involontaire. Ils ne rejettent pas l’idée de l’école mais ont plutôt le sentiment que c’est l’école qui les rejette“, heißt es dazu begründend im Abschlusskapitel. Zusätzlich sei es jedoch wichtig, die individuellen Bedürfnisse der Jugendlichen durch gezielte Maßnahmen stärker zu berücksichtigen.

Die Studie zeigt, dass die Sachlage zu komplex ist, als dass sie mit der alleinigen Anhebung der Schulpflicht in den Griff zu bekommen wäre. Damit Jugendliche die Schule nicht mehr ohne Abchluss verlassen, weil sie desillusioniert oder schlecht informiert waren oder kein Schuljahr mehr wiederholen dürfen, müssen Präventionsmaßnahmen möglichst früh einsetzen und alle, ungeachtet ihrer Herkunft, Erstsprache, des Wohnorts oder der finanziellen Situation erreichen.

Dennoch gilt: Mit dem Verlassen des Schulsystems ist das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen. Worauf es ankommt, ist, was danach passiert.


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