Suizidprävention: Wenn schon wenige Worte helfen

Was ist der Unterschied zwischen Depressions- und Suizidprävention und wieso ist es wichtig, die ganze Bevölkerung zu sensibilisieren? Wir haben mit der Psychologin Elisabeth Seimetz von der Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale gesprochen.

Elisabeth Seimetz arbeitet seit 2016 im Service information et prévention der Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale. (Foto: Elisabeth Seimetz)

woxx: Vor Kurzem ist Ihre Kampagne „Angscht: Komm mir schwätzen driwwer“ gestartet. Wieso haben Sie den Fokus auf Angststörungen gelegt?


Elisabeth Seimetz: Ungefähr 90 Prozent der Menschen, die sich umgebracht haben, hatten eine psychische Krankheit. Um die 70 Prozent davon litten an Depressionen. In einer ersten Kampagne widmeten wir uns deshalb dem Thema Depression, einer der häufigsten psychischen Krankheiten. Noch verbreiteter sind jedoch Angststörungen. In Luxemburg erfüllt ein Fünftel der Bevölkerung im Laufe seines Lebens die Kriterien einer Angststörung.

Können Angststörungen präventiv verhindert beziehungsweise geheilt werden?


Alle psychischen Krankheiten können präventiv verhindert werden. Es gibt universelle Faktoren, die ein Mensch braucht, um psychisch gesund zu bleiben: gute Beziehungen zu anderen, die Fähigkeit, mit den eigenen Emotionen umzugehen und auf sich zu achten, das Wissen über Methoden, um gesund zu bleiben und sich wohlzufühlen. Trotzdem spielen genetische Faktoren auch immer eine Rolle, bei manchen psychischen Krankheiten wie Manie oder Schizophrenie mehr als bei anderen. Von Heilung sprechen wir nicht so gerne. Bei Angststörungen ist es möglich, irgendwann den eigenen Alltag problemlos meistern zu können. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass gar keine Symptome mehr vorliegen.

Suizidprävention und Suchtprävention haben sicherlich viele Überschneidungspunkte?


Ganz richtig. Deshalb gab es auch bereits Überlegungen, sie zu einer allgemeinen Prävention zusammenzulegen. Bei der Prävention wird zwischen drei verschiedenen Stufen unterschieden. Bei der dritten geht es darum, Betroffene zu betreuen, bei der zweiten stehen psychische Krankheiten im Fokus und bei der ersten geht es darum, die Gesellschaft gesund zu halten. Auf der letztgenannten Ebene sollte auf jeden Fall zusammengearbeitet werden, das tun wir aber zu einem gewissen Teil auch schon. Ein nationaler Aktionsplan für psychische Gesundheit befindet sich gerade in Ausarbeitung.

Werden in Ihrer Kampagne auch Vorurteile angesprochen, die in Bezug auf Suizid oder Suizidprävention herrschen?


Ja, wir sprechen beispielsweise an, dass es nichts bringt, zu einer suizidalen Person zu sagen „Jetzt reiß dich doch mal zusammen“ oder „Ist doch alles gar nicht so schlimm“. Das sind Dinge, die die betroffene Person sich ohnehin immer wieder selbst sagt. Kommen solche Aussagen von anderen hinzu, werden die Selbstzweifel nur noch zusätzlich befeuert. Uns ist es wichtig, dass wissenschaftlich fundiert und sachlich über das Thema informiert wird. Das ist die beste Methode, um langfristig ein gesellschaftliches Bewusstsein aufzubauen. Unsere Kampagne richtet sich deshalb an jeden, nicht nur an Betroffene.

Wie kann man sich Ihre Arbeit in der Praxis vorstellen?


Wir beraten zum Beispiel Gemeinden, um ihnen zu helfen, soziale Isolation bei älteren Menschen zu reduzieren. Wenn ein junger Mensch sich das Leben nimmt, hat das eine große soziale und emotionale Wirkung. Das Suizidrisiko steigt allerdings mit dem Alter. Und alleine sein ist ein wesentlicher Risikofaktor. Wir bieten aber auch auf Anfrage Workshops in Schulklassen an. Letztes Jahr im Oktober haben wir zusammen mit dem CNA [Centre national de l’audiovisuel; Anm. d. Red] eine Konferenz veranstaltet, bei der mit Schülern über die Netflix-Serie „Thirteen Reasons Why“ gesprochen wurde. Ausgehend von einigen Ausschnitten wurden die Schüler danach gefragt, wie sie sich in diesen Situationen verhalten und was sie anders gemacht hätten. Leider sind unsere Ressourcen recht eingeschränkt, wir können nicht so viel tun, wie wir gerne möchten. Genauso wichtig ist es, Erzieher und Lehrkräfte umfassend in der Suizidprävention zu schulen. Entsprechende Weiterbildungen über das Ifen [Institut de formation de l‘éducation nationale; Anm. d. Red.] sind zu empfehlen. Dazu fehlt es uns zurzeit aber an Personal.

„Es wäre wünschenswert, dass genauso viele Gelder in die Prävention fließen wie in die Betreuung.“

Ist dieser Ressourcenmangel auf fehlendes politisches Bewusstsein für die Problematik zurückzuführen?


Das Bewusstsein ist sicherlich höher als in Ländern, die nicht über einen Suizidpräventionsplan verfügen. Dennoch wird längst nicht so viel in Prävention investiert, wie nötig wäre. Es wäre wünschenswert, dass genauso viele Gelder in die Prävention fließen wie in die Betreuung. Dass das nicht passiert, liegt unter anderem daran, dass die Auswirkungen präventiver Maßnahmen schwer greifbar sind. Dieses Problem besteht allerdings auf internationaler Ebene, nicht nur in Luxemburg.

Foto: Malgorzata Tomczak/Pixabay

Sie haben gerade den Nationalen Suizidpräventionsplan erwähnt, der 2015 verabschiedet wurde. Durch den Titel dieses Plans wird ganz klar die Suizidprävention in den Vordergrund gerückt und nicht etwa die Prävention von Depressionen oder Angststörungen. Wieso eigentlich?


Zum einen ist es leichter, die Bevölkerung mit einem Thema wie Suizid zu mobilisieren als etwa mit Depressionen. Zum anderen hat Suizid tendenziell stärkere Konsequenzen für die Gesellschaft als Depressionen. Suizid wirkt sich nicht nur auf Betroffene aus – das Umfeld ist in der Folge psychisch und emotional stark belastet. Davon abgesehen ist Depressionsprävention nur ein Teil von Suizidprävention. Ein wichtiges Element von Suizidprävention umfasst die Berichterstattung in den Medien. Ein Artikel über einen Suizidfall sollte keine Informationen über die Ursachen beinhalten. Diese sind nämlich oft sehr komplex. Wichtiger ist es, über Hilfestellen zu informieren. Suizid resultiert in vielen Fällen aus einer Krisensituation. Erhält der betroffene Mensch in dem Moment die notwendige Hilfe, wird die Wahrscheinlichkeit, dass er sich umbringt, wesentlich reduziert.

„La prévention du suicide est l’affaire de nous tous“ ist auf einem Ihrem Flyer zu lesen. Wo liegt die Grenze zwischen Sensibilisierung und Schuldzuweisung?


Uns geht es darum, auf das Gefühl der Hilflosigkeit zu reagieren, das viele in Bezug auf Suizid empfinden. Fragen bezüglich Verantwortung und Schuld schwingen zwar immer mit. Prinzipiell ist es aber schlimmer für Menschen, nicht in der Lage gewesen zu sein, offensichtliche Anzeichen wie etwa Interessensverlust, Rückgang des Selbstwertgefühls oder Essstörungen zu erkennen. Weiß man jedoch um die Symptome, dann kann man auch entsprechend handeln und versuchen, Betroffene dazu zu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch wenn der Betroffene nicht darauf eingeht, weiß man zumindest, dass man getan hat, was man kann. Viele Menschen haben Hemmungen, andere danach zu fragen, ob sie Suizidgedanken haben. Sie fürchten, die Person auf entsprechende Gedanken zu bringen. Doch das stimmt nicht: Bei einer suizidgefährdeten Person ist der Gedanke sowieso schon da. Spreche ich das an, hat es eher eine entlastende Wirkung. Dadurch, dass man über etwas spricht, erhält man eine gewisse emotionale Distanz dazu und das psychische Leiden wird reduziert.

Mehr Informationen unter: 
prevention-suicide.lu

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