Der Schweizer Regisseur Milo Rau gilt als neues „enfant terrible“ der internationalen Theaterlandschaft. Heute Abend gibt es die letzte Gelegenheit sein neues Stück „Empire“ in der Abtei Neimünster zu sehen – die woxx hat sich mit ihm unterhalten.
woxx: Wieso sollten sich die Theatergänger*innen „Empire“ nicht entgehen lassen?
Milo Rau: Weil es ein sehr berührendes Stück ist über Flucht und Ankommen, ein paar sehr interessante Geschichten bietet und gleichzeitig der Höhepunkt der Europa-Trilogie ist, die man sich auch als Video-Installation anschauen kann. Ich glaube es ist das emotionalste, und zugleich das berührendste Stück das ich je konzipiert habe. Und es ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Ich versuche auch immer, auch auf kleinen Festivals, wenn Stücke von mir gezeigt werden, dass es ganz sicher dabei ist. Es liegt mir also sehr am Herzen.
Befürchten Sie nicht, dass das Publikum vom Thema „Geflüchtete“ längst übersättigt ist?
Ja das stimmt, das ist tatsächlich eine Problematik. Ich denke persönlich, dass das Thema Flucht – also realpolitisch brauchen wir gar nicht erst anzufangen, es werden Millionen kommen und unsere Gesellschaft wird sich verändern – noch nicht genug präsent ist. Gleichzeitig ist es so, dass ‚Empire‘ keine Geflüchteten zeigt, sondern vor allem sehr gute Schauspieler*innen, die aus verschiedenen Winkeln Europas und außerhalb (Rumänien, Griechenland und Syrien, Anm. der Red.) kommen und aus ihrem Leben erzählen. Flucht spielt eine Rolle, ist aber nicht das Thema. Es sind Menschen mit interessanten Lebensläufen, die ihre Beobachtungen kundtun. Es ist eine Geschichte darüber, was es eigentlich heißt heute in Europa Mensch zu sein.
„Wir sollten wieder von Karaoke zu Kreation kommen“
In Ihren Stücken setzen Sie sehr viel auf Authentizität. Woher kommt dieser Drang etwas Reales auf die Bühne zu stellen und von der Fiktion abzusehen?
Ich glaube dass das Theater, zumindest in Westeuropa, sehr lange vom Abspielen mehr oder weniger der gleichen kleinen Menge von Klassikern bestand. Schauspieler*innen wurden und werden dafür ausgebildet, dass der Regisseur den Shakespeare oder den Tschechow aus dem Regal zieht, um das zu spielen. Und ich dachte mir, versuchen wir doch wieder was selber zu kreieren – was den Ansprüchen von heute genügt. Der Shakespeare hat sich das auch gefragt: Was können wir für die Menschen da draußen machen? Dann hat er sich mit seinen Schauspieler*innen zusammengesetzt und ein Stück geschrieben. Wir sollten also wieder vom Karaoke zur Kreation kommen im Theater. Das ist eigentlich der Grund weshalb ich in die Realität herausgehe. Tschechow macht im Grunde das Gleiche wie die Europa-Trilogie: Das ist sein Leben, das sind seine Freunde, die er verwandelt indem er das Stück aufschreibt. Die Leute sprechen in seinen Stücken genau gleich wie Tschechow auch gesprochen hat. Das ist etwas, was wir verlernt haben, und deshalb glaube ich, dass es sehr wichtig ist zu den Quellen des Theaters zurückzukehren.
Und sind diese Quellen automatisch politisch – so wie Ihr Theater?
Ich denke, dass das Leben, das wir gemeinsam haben, natürlich aus den Entscheidungen besteht, die wir kollektiv treffen. Wenn man das, was durch Klimawandel oder Kriege – die wir mit verursacht haben – passiert Flucht nennt, und es dann als illegal ansieht, ist das natürlich eine politische Entscheidung. Man könnte auch einfach sagen, das ist ein Vorgang der Völkerwanderung, das wird immer stärker werden und dies sind die Lösungen. Aber das sind alles Dinge die wir als Gesellschaft miteinander diskutieren müssen. Die Bühne ist der symbolische Raum in dem solche Diskussionen in einer anderen Radikalität und Offenheit möglich sind. Und auch in einer anderen Länge: Man hört in ‚Empire‘ einfach mal zwei Stunden Leuten zu. Das ist ein großer Kontrast zu den Medien, wo solche Themen in einer Minute behandelt werden müssen. Deshalb ist es wichtig sich diese Zeit und diesen Raum zu geben.