Vor 100 Jahren nahm Luxemburgs Avantgarde regen Anteil an der Novemberrevolution in Deutschland. Die junge Aktivistin Alice Welter, deren Werdegang im ersten Artikel (woxx 1501) dargelegt wurde, erlebte die Ereignisse Ende 1918 in München aus nächster Nähe.
Gegen Kriegsende gab es weltweit pazifistische und revolutionäre Bewegungen. Im neutralen Luxemburg hatte sich eine Avantgarde herausgebildet, zu der auch Alice Welter gehörte, und die unter anderem die Forderung nach einer Republik erheben sollte. Im Kriegsland Deutschland wurde die Auseinandersetzung um ein künftiges Regime viel gewaltsamer ausgetragen.
Hinter dem Rücken der Regierung des Prinzen Max von Baden befahl die kaiserliche Flottenführung am 30. Oktober 1918 ein letztes Auslaufen der gesamten Hochseeflotte um Großbritannien zu einer entscheidenden Seeschlacht herauszufordern. Ein Himmelfahrtskommando ohne Aussicht den Ausgang des Krieges noch entscheidend zu beeinflussen. „Wir verfeuern unsere letzten 2.000 Schuss und wollen mit wehender Flagge untergehen“1, erklärte der Kommandant des Linienschiffes „Thüringen”. „Es ist schade um jeden Blutstropfen, der noch für diese Lumpen vergossen wird“2, meinte hierzu ein meuternder Matrose.
Der Sturm zieht herauf
Die damals herrschende Situation beschrieb der Antimilitarist und Schriftsteller Ernst Toller, der in München zum Kommandant der Revolutionstruppen wurde, wie folgt: „Die Soldaten an der Front, erbittert über das Prassen und Schwelgen der Etappe, über das Elend der Heimat, haben den Krieg satt. Gleiche Löhnung, gleiches Essen, wär‘ der Krieg schon längst vergessen“, singen die Soldaten.3
Die revolutionäre Welle welche sich im Zug des Aufstandes der Matrosen rasant von Wilhelmshaven nach Kiel und dann über ganz Deutschland ausbreitete, führte am 7. November 1918 in München zum Sturz der Wittelsberger-Dynastie und zur Proklamierung des „Freistaates“ Bayern unter Leitung des unabhängigen Sozialisten Kurt Eisner. Dabei liefen die revolutionären Ereignisse, die Deutschland zwischen dem 3. und 10. November 1918 erfassten, größtenteils unblutig und gewaltfrei ab. Der Schriftsteller und gegenrevolutionäre Offizier Ernst Jünger stellte nüchtern fest: „Es war dies ein Gegner, der leider allzu bescheiden war.“ Ein Gegner, der „vor allem etwas nicht wollte, nämlich den Krieg.“4
Als Studentin der Rechtswissenschaften5 war Alice Welter beim Ausbruch der Novemberrevolution in München wohnhaft. Da der luxemburgischen Studentenschaft während des ersten Weltkriegs nur ein Studium in Deutschland möglich war, gab es damals in München eine größere Luxemburger Gemeinde. „Von den Himmelsstürmergedichten des Expressionismus beseelt, schlossen sich einige von ihnen der Novemberrevolution an.“6 Das in den Reihen der Revolutionäre in München kämpfende Luxemburger USPD-Mitglied Nicolas Konert schrieb: „Die deutsche Novemberrevolution musste diese bunte Avant-garde wirr durcheinanderredender und rebellierender Literaten unfehlbar in seinen Wirbel reißen. Sie fegte sie nicht minder unfehlbar auf jene Seite der Barrikade, wo die rote Fahne des Sozialismus wehte.“7
Alice Welter in der Novemberrevolution
Die Novemberrevolution sei, wie Pol Michels schrieb „doch auch wie etwa in München, die Erhebung eines Volkes gewesen, mit schwangeren Müttern, die man mit Füßen getreten habe, mit Bräuten, deren Verlobten mit ausgebrannten Augen zurückgekehrt seien, mit Frauen, deren Männer in Flandern verwesten.“8 Im Escher Tageblatt beschrieb Gust van Werveke, ein anderer Münchener Kampfgefährte Alice Welters, die revolutionären Forderungen von damals: „Mit roten Fahnen die einen, die andern mit rot umränderten Schildern, auf denen zu lesen ist ‚Hoch die Freiheit!‘ ‚Freie Menschen Keine Knechte!‘ ‚Nieder mit den Hohenzollern!‘ ‚Wir wollen den Frieden!‘ ‚Nieder mit der Dynastiewirtschaft!‘9
Als Sekretärin des ersten Präsidenten Kurt Eisner (USPD) war Alice Welter unmittelbar an der Ausarbeitung der Proklamation des Freistaates Bayern beteiligt in der es heißt: „Um nach jahrelanger Vernichtung aufzubauen, hat das Volk die Macht der Zivil- und Militärbehörden gestürzt und die Regierung selbst in die Hand genommen.“
Zur weiteren Rolle Welters in München schrieb Gust van Werveke: „Sie war dabei, mit roter Fahne, in der historischen ersten Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrats im Mathäserkeller. Sie war dabei, während der bangen Stunden, wo noch mit einer Gegenrevolution zu rechnen war, und als in den folgenden Tagen der Aufbau begann, da gönnte sie sich noch keine Ruhe, sondern nahm mit unermüdlicher Ausdauer an der Organisation der verschiedensten Dinge teil. Im Zentralsitz des Soldatenrates beschäftigt, wusste sie sich die Achtung und Liebe all derer zu erwerben, mit denen sie zusammentraf. Nicht mal zum Schlafen verließ sie den Landtag, wo der Soldatenrat tagte, (man hatte ihr dort ein Sofa zur Ruhe zur Verfügung gestellt).“10 Van Werveke weiter: „Als die Auer (Erhard Auer, Anführer der Rechts-Sozialisten, war MSPD-Innenminister im Koalitions-Kabinett unter USPD-Ministerpräsident Kurt Eisner, C.F.) und Genossen bereits konterrevolutionär wirkten – schrie die knallrote Cravatte der Alice Welter noch immer den unentwegten Gedanken der Jugend durch die Hallen des Landtages.“11
München wurde bis zur blutigen Niederschlagung der Räterepublik Anfang Mai 1919 für kurze Zeit zum Experimentierfeld fortschrittlichster Ideen. So schaffte beispielsweise der freiheitliche Sozialist Gustav Landauer als Volksbeauftragter für Volksaufklärung körperliche „Züchtigung“ und Hausaufgaben ab und setzte sich für Bewegung im Unterricht ein, Finanztheoretiker Silvio Gesell führte als Volksbeauftragter für Finanzen ein Freigeld ein. Schriftsteller wie Heinrich Mann und Rainer Maria Rilke gründeten den Rat der geistigen Arbeiter.
Das Lauffeuer greift auf Luxemburg über
Die Novemberrevolution machte auch vor Luxemburgs Landesgrenzen nicht halt. So berichtet Feldwebel Émile Eiffes, der Ende Dezember 1918 den Aufstand der Freiwilligenkompanie leitete: „Seit dem 9. November regierte unter den in der Hauptstadt liegenden Mannschaften, sowie bei dem Siegburger Landsturmbataillon zu Esch a.d. Alz., ein Soldatenrat. Neu ankommenden Soldaten wurden am Bahnhof zu Luxemburg die Achselklappen abgeschnitten oder umgedreht und ein rotes Abzeichen angesteckt.“12.
In der Hauptstadt formierte sich am 10. November ein „„Arbeiter-, und Bauernrat“ und forderte eine Luxemburger Volksrepublik. „Das Beispiel des Münchner Arbeiter- und Bauernrates war hier wahrscheinlich federführend. (…) Die Republikaner des 10. November bekämpften die Großherzogin, aber nicht nur sie. Marie-Adelheid warfen sie vor allem vor, dass sie in der Innenpolitik Partei ergriffen hatte. Sie war die Großherzogin der Klerikalen und blieb für die andere Hälfte des Volkes stets eine Stiefmutter. Ihre Haltung den Deutschen gegenüber unterschied sich nicht von der Haltung der gesamten Führungsschicht des Landes. (…) Der Arbeiter- und Bauernrat lehnte sich nicht nur gegen das monarchische Herrschaftsprinzip von Gottesgnaden auf, sondern auch gegen die Unternehmerwillkür und die allmächtige Verfügungsgewalt im Namen des Privatbesitzes.“13
Am folgenden Tag brachte eine Massendemonstration in Luxemburg-Stadt die Forderung nach der Absetzung der Nassau-Braganza-Dynastie auf die Straßen. Unter dem Motto „Der Friede kommt und mit ihm der Sieg der schaffenden Klassen“ fanden in den folgenden Tagen weitere Kundgebungen der Arbeiterräte im Süden des Landes statt.
„Du bist und wirst sein“
Wie das Presseorgan der sozialdemokratischen Partei „die Schmiede“ berichtete, fand am 20. November 1918 in München eine Todesfeier zu Ehren der am 17. November an der spanischen Grippe verstorbenen Alice Welter statt, „Die fast vollzählige Luxemburger Kolonie, daneben eine stattliche Vertretung des Münchener Arbeiter- und Soldatenrates, und verschiedene deutsche Sozialistinnen hatten sich vor dem unter Blumen und Kränzen verschwindenden Sarge versammelt. Zuerst hob der Münchener Arbeiterführer Kräpelin, als Vertreter des Arbeiterrates, in warmen und rührenden Worten die seltenen Charaktereigenschaften der jungen Kämpferin hervor, pries sie als die große Heldin der Münchener Revolution und brachte die Beileidserklärung und die Anerkennung des bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner zum Ausdruck.“14
Die Beisetzung von Alice Welters sterblichen Überresten fand am 24. November 1918 im Nikloskierfecht in Luxemburg statt, nachdem ein mit roten Fahnen geschmückter Sonderzug der Münchener Räterepublik den Leichnam bis nach Luxemburg transportiert hatte. Die Grabrede wurde von Marguerite „Meisy“ Mongenast-Servais gehalten. In einem Nachruf würdigte Pol Michels die Verstorbene wie folgt: „In München hast Du die Auferstehung der mühselig Beladenen gefeiert, die menschheitlichen Wunder, die Dich zerbrachen. Unbeholfen lächelten die armen Leute, die Arbeiter und Soldaten, wenn ihnen Deine flatternde knallrote Krawatte zujubelte. Symbol Du einer jungen Revolution, die man bald morden und schon wieder einsargen wird, Kamerad!“15
Auch anlässlich der 1.-Mai-Feier 1919 in Luxemburg-Stadt wurde an Alice Welter erinnert: „Genossin Mongenast (…) schilderte den hohen Opfermut der Dahingegangenen. (…) Unter dem roten Revolutionsbanner lag sie gebettet bis sie die Reise nach der Heimat antrat. So hatte es der nunmehr gemordete Held Eisner selbst befohlen.“16 Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits ultra-nationalistische Freikorps-Soldaten den weißen Terror der Konterrevolution entfaltet, der alleine in München bis zu 2.000 Opfer 17 fordern und zur Geburtsstunde der Ordnungszelle Bayern und des deutschen Faschismus werden sollte.