NATIONALISMUS: Deconstructing Luxembourg

Das Großherzogtum und seine tausendjährige Geschichte – eine Erfindung? Ein Forschungsteam der Universität Luxemburg kratzt an den Grundfesten der hiesigen Geschichtsschreibung.

Als “Zerstückelung” stellte der Geschichtsschreiber Arthur Herchen 1918 die Umorganisationen des Territoriums dar, auf dem sich das Luxemburg des 20. Jahrhunderts befindet.

Können Sie sich erinnern, im Klassenzimmer mit Johann dem Blinden, dem Putsch von 1856 oder der Abdankung Maria Adelheids konfrontiert worden zu sein? Wer seine Schulzeit in Luxemburg verbrachte, hat aus der Sekundarschulzeit meist nur die farbigen Buchdeckel des vierbändigen „Manuel d’histoire luxembourgeoise“ aus den Siebzigerjahren in Erinnerung. Nach den französischen Königen und der Revolution, dem Ersten und vielleicht noch dem Zweiten Weltkrieg blieb meist keine Zeit mehr für „Le Luxembourg sous l’Ancien Régime“ oder „Le Luxembourg à l’époque contemporaine“.

Wenn es zutrifft, dass das Geschichtsbewusstsein ein wichtiger Faktor des nationalen Zugehörigkeitsgefühls ist, so wären, zumindest bei den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generationen, mehr als schwache Reste dieses Gefühls nicht zu erwarten. Mehr Einfluss gehabt haben müsste dagegen das von dem konservativen Geschichtsschreiber Arthur Herchen herausgegebene „Manuel d’histoire nationale“ ? man beachte die semantische Verschiebung. Das von 1918 bis 1972 Luxemburger Jugendliche in ihrer Schulzeit begleitete, dürfte weit systematischer benutzt worden sein. Das Forschungsteam, das den Band „Inventing Luxembourg“ herausgegeben hat, beschreibt den Luxemburger Nationalisierungs-Prozess als Produktion eines „national ‚do-it-yourself kit‘ (comprising a national history and heroes, monuments and museums, monarchy and constitution, flag and mascot, railways, and even a national airline)“. Zwar räumt man ein, dass der Einfluss von Schulgeschichtsbüchern gerade in Luxemburg schwer zu erfassen ist. Doch das hielt Pit Péporté, Sonja Kmec, Benoit Majerus und Michel Margue nicht davon ab, die „Repräsentationen von Vergangenheit, Raum und Sprache? für das Luxemburg des 19. bis 21. Jahrhunderts auch in Schulbüchern zu erkunden.

Ersichtlich ist bereits im Titel, dass das Buch auf Englisch verfasst ist. Erklärte Absicht war dabei, „to reach the broadest readership possible?. Die meisten Buchkapitel beschäftigen sich jedoch detailreich mit Luxemburger Gegebenheiten, die eine internationale Leserschaft nicht immer inte-ressieren werden. Umgekehrt werden zentrale Aspekte selten komparativ in einen transnationalen Kontext gesetzt. Das Buch wird so vor allem einen einheimischen anglophonen Leserkreis ansprechen, derweil manche interessante Kritik an der Luxemburger Geschichtsschreibung vor Ort vielleicht nicht registriert werden dürfte.

Vergangenheit, Raum, Sprache

„Que faut-il pour faire une nation? Il faut un territoire, une langue et un passé commun, et dans le cas luxembourgeois, un quatrième élément: la bonne volonté des États voisins.? Der Ausspruch des Historikers Gilbert Trausch taucht zwar erst in den Schlussfolgerungen von „Inventing Luxembourg? auf, scheint aber der soeben erschienen Veröffentlichung als Grundlage gedient zu haben.

Eine der zentralen Absichten des Buches und eines seiner Verdienste ist es, den Diskurs der Luxemburger Geschichtsschreibung kritisch zu untersuchen, die sich ab dem 19. Jahrhundert stärker entwickelte. Dabei ist ein wichtiger Aspekt, den von ihr entwickelten Begriff der „Fremdherrschaft? zu entmythisieren. Vor allem im 20. Jahrhundert werden die Epochen habsburgischer, burgundischer, spanischer, französischer und österreichischer Herrschaft nach dem Schema dieses Konzepts behandelt. Der Geschichtsschreiber Arthur Herchen teilt die „Luxemburger“ Geschichte auf in eine „feudale Periode“ der Autonomie, die mit Graf Siegfried beginnt und mit dem Verlust „de no-tre indépendance et de notre nationalité“ endet, eine Zeit der „dominations étrangères depuis la réunion du duché de Luxembourg aux États bourguignons jusqu’à l’avènement de Guillaume Ier d’Orange-Nassau (1443-1815)“ und schließlich eine Periode „nationaler Unabhängigkeit“. Durch diese Darstellung wird dem eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert herausbildenden Staat Luxemburg eine tausendjährige Vergangenheit verschafft.

Auch das Bild der progressiven „Zerstückelung“ eines einst großen Territoriums passt in dieses lineare Konzept. Die drei sukzessiven „Démembrements“ sind denn auch in den Geschichtsschreibungen ein immer wiederkehrendes Thema. Die Analyse lässt jedoch das narrative Pendant, den „Aufstieg“ Luxemburgs von der Grafschaft zum Großherzogtum, außer Acht.

Neben Herchen werden nachfolgende bzw. alternative Geschichtsdarstellungen unter die Lupe genommen. Auch die zunächst deutliche Distanzierung Gilbert Trauschs, des einflussreichsten Historikers der letzten Jahrzehnte, vom Konzept der Fremdherrschaft, die er wegen seiner tragenden Rolle bei den 150-Jahrfeiern 1989 allerdings wieder abschwächte, kommt zur Sprache  ebenso wie Trauschs Wertung des Jahres 1839 als entscheidender Zäsur im Prozess des „nation building“. Allerdings liegt der Fokus von „Inventing Luxembourg“ sehr stark auf breit angelegter, „nationaler“ Geschichtsschreibung. Sozialgeschichtliche Arbeiten, wie etwa jene von Fayot und Scuto zur Arbeiterbewegung, bleiben unberücksichtigt. Auf diese Weise wird nicht nur das Bild einer konservativen und elitären, auf die Monarchie ausgerichteten Luxemburger Geschichtsschreibung hervorgehoben, der Beitrag der sozialen Bewegungen zum nation building wird ausgeklammert.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der Darstellung des Luxemburger Territoriums als „Heimat-“ und „Vaterland“. Neben Schulbüchern zur Luxemburger Geographie und Heimatkunde wird auch die sogenannte Volkskunde der Zwischenkriegszeit kritisch unter die Lupe genommen. War sie „a patriotic reaction against the notion of a pan-Germanic `Volkstum‘ or […] a parallel development, based on similar ideological grounds to the National Socialist connection of blood and soil“? Konzepte, die durchaus noch in rezenten Veröffentlichungen kursieren, wie jenes der „Fremdherrschaft“ oder das eines Luxemburger „Partikularismus“, der sozusagen die Vorstufe zur nationalen Identität bildet, werden kritisch betrachtet, ebenso wie das modernere Konstrukt der Großregion: Hier scheint die heutige Historiografie eine kritischere Position gegenüber den Versuchen der Politik einzunehmen, eine gemeinsame, großregionale Vergangenheit herbeizureden.

„It is not language that creates national unity, but the nation that creates a unifying language as an expression of its identity.“ Mit dieser Prämisse beginnt das dritte Kapitel des Buches, das die Rolle der Luxemburger Sprache in der Konstruktion des Nationalstaates untersucht. Von „unserem Deutsch“, wie Luxemburgisch im 19. Jahrhundert hieß, bis zur Erhebung zur Nationalsprache im Gesetz von 1984 wird der Gebrauch des Luxemburgischen untersucht: die Entwicklung einer luxemburgischen Nationalliteratur, die Entstehung einer Sprachforschung sowie der Einsatz des Luxemburgischen in der politischen Arena werden analysiert. Seltsamerweise suchen die VerfasserInnen die Gründe für den Einzug des Luxemburgischen ins Parlament nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bei der Sprachkompetenz der Abgeordneten, sondern ausschließlich in politisch-strategischen Beweggründen.

Den AutorInnen ist sicher darin beizupflichten, dass die luxemburgische Sprache heutzutage von Staat und Politik weit stärker gefördert und instrumentalisiert wird als ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein. Leider endet die Beschreibung der Rolle der Sprache in der rezenten Immigrationspolitik bei Jean-Claude Junckers Regierungserklärung von 2004, derweil andere Buchkapitel bis 2008 reichen. So wird die Reform des Naturalisierungsgesetzes und des Integrationsgesetzes von 2008, die nicht nur Sprach-, sondern auch Geschichtskurse vorsehen, nicht mehr mit einbezogen.

Nationale Identität?

Dass der Begriff der Nation vielschichtig und seine Definition in der Forschung nicht einheitlich ist, wird in der Publikation von vorneherein klargestellt. Wenn man sich trotzdem auf die Dreifaltigkeit von Vergangenheit, Territorium und Sprache verständigt hat, so mag dies auf begrenzte Ressourcen und spezifische Interessensgebiete der ForscherInnen zurückzuführen sein. Damit ist aber eine Grundschwäche des informationsreichen und kritischen Bandes benannt: Denn auch andere, im Buch aber eher am Rande erwähnte Faktoren spielen oft eine wichtige Rolle, wie Religion, Medien, militärische Wehrhaftigkeit oder das Versprechen politischer Partizipation, rechtlicher Emanzipation bzw. sozialer Fürsorge bei der Nationenbildung.

Die Nation als „imaginierte Gemeinschaft“, wie sie von Benedict Anderson bezeichnet wurde, basiert aber zudem, so etwa die schweizerische Wissenschaftlerin Regula Argast, auf „Vorstellungen des antagonistischen ‚Außen‘. Exklusions- und Abgrenzungsmechanismen, besonders Xenophobie und Antisemitismus, werden aber in „Inventing Luxembourg“ unzureichend behandelt und vor allem nicht als bestimmende Faktoren des Nationalisierungsprozesses gewürdigt.

Drei Zeitabschnitte, in denen sich die Luxemburger „Nationalisierungsprozesse“ intensivierten, hat die Forschungsgruppe ausgemacht: das Ende des „langen? 19. Jahrhunderts, die Dreißiger- und Vierzigerjahre sowie das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, mit einer Klimax in den Achtzigerjahren. Diese drei Phasen werden in Verbindung gebracht mit den europäischen Phänomenen bzw. Ereignissen des Nationalismus, des Zweiten Weltkriegs und des europäischen Integrationsprozesses. Die erneute Intensivierung der Sprachendebatte, die wir derzeit erleben, wird angedeutet, aber nicht zu deuten versucht.

Viktimisierung

Ein wichtiger, von der Forschungsgruppe herausgearbeiteter Aspekt ist das Phänomen der kollektiven Selbst-Viktimisierung, das in der Luxemburger Geschichtsschreibung konstant vorhanden ist. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bildet sich das Phänomen markant aus. Natürlich ist die Selbstdarstellung als Opfer übermächtiger äußerer Kräfte bei einem kleinen Land nachvollziehbar, das seinen Nationalisierungsprozess seit 1815 als fragile, immer wieder gefährdete Entwicklung erlebt. Trotzdem ist das Opfernarrativ nur eines von mehreren möglichen. Es gibt auch das des glorreichen Kampfs gegen fremde Mächte oder der tatkräftigen Befreiung von einem Unterdrücker. Auch dekontextualisiert die Selbstdarstellung als Opfer, so hebt „Inventing Luxembourg“ hervor, das eigene Schicksal, während das Leiden verfolgter Minderheiten im eigenen Land, der Bevölkerung in anderen Ländern oder gar der Holocaust ausgeblendet werden. Die Wiederaufrichtung des Denkmals der Gëlle Fra 1985 wie auch die Aufregung um die schwangere Lady Rosa hätte hier Erwähnung finden können.

Ein Vergleich mit der Entwicklung anderer europäischer Nationalstaaten wäre nicht nur in Hinsicht auf den Gesichtspunkt der Viktimisierung interessant. Die komparative Methode wird aber leider nur punktuell benutzt, etwa beim Vergleich patriotischer Vereinigungen zur heimatlichen Geschichts- und Literaturförderung. Wird in der Einleitung noch gefragt: „Has the Luxocentric viewpoint given way to a Eurocentric outlook“?, so werden neue Gedankenanstöße, wie Michel Paulys „Plaidoyer pour une perspective trans- ou metanationale de l’histoire luxembourgeoise“ nicht weiter verfolgt.

Die Forschungsgruppe betont einerseits, ihre Arbeit sei „firmly embedded in the constructivist paradigm“. Andererseits scheint sie aber, wie bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches Anfang April deutlich wurde, doch an die Existenz einer nationalen Identität zu glauben. In der Einleitung wird betont: „In this study, we seek to avoid the term ‚identity‘, as we do not want to de-fine its content. Indeed, we think that it is impossible to define what Luxembourgers ‚are‘ […].? Wird Identität in diesem Sinn für konstruiert erklärt, so wird ihre Existenz doch nicht in Frage gestellt. Es wird lediglich, was früher als gegeben galt, nun als Ergebnis einer eventuell strategisch gesteuerten Entwicklung betrachtet. Der weiter gehende Schritt, das Konzept nationaler Identität – wie auch anderer kollektiver Identitäten – zu hinterfragen, geschieht dagegen nicht. In diesem Fall wäre es allerdings auch notwendig, im Sprachgebrauch nicht mehr affirmativ von nationaler Identität zu sprechen, sondern von Identitäts- oder Zugehörigkeitsgefühl bzw. von Identifizierung.

Péporté, Pit / Kmec, Sonja / Majerus, Benoît / Margue, Michel: Inventing Luxembourg. Representations of the past, space and language from the nineteenth to the twenty-first century. Leiden : Boston, 2010. ISBN 978-90-04-18176-2.

„Kommt hier aus Frankreich, Belgie, Preisen, …?. Iwwer d’national Identitéit zu Lëtzebuerg an hir Konstruktioun. Konferenzzyklus mam Sonja Kmec,
Benoît Majerus a Pit Péporté.
E Mëttwoch, den 2., 9., a 16. Juni 2010 ëmmer vun 20.00 bis 21.30 Auer.
An der ErwuesseBildung, 5, avenue Marie-Thérèse, L-2132 Luxemburg.


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