Lasst tausend Blumen blühen (1): Chancengleichheit in Freiheit und Vielfalt

Offener Brief an das Unterrichtsministerium, die Parlamentarier und alle bildungspolitisch interessierten MitbürgerInnen

In den erregten Diskussionen der letzten Monate über den Gesetzesentwurf zur Finanzierung von Privatschulen wurde oft das Schlagwort Chancengleichheit¬ benutzt, gleichzeitig wurde die drohende Gefahr einer Zweiklassengesellschaft heraufbeschworen, wenn es denn zu diesem Gesetz kommen sollte. Von Totengräbern der öffentlichen Schule¬, von einem nie da gewesenem Dolchsto߬, Sabotage des öffentlichen Schulwesens¬ und von sozialer Ungerechtigkeit¬ war zu lesen, vor allem aber gebetsmühlenartig von der Chancengleichheit, die mit Füßen getreten würde. Die vorgebrachten Argumente, falls man überhaupt von solchen reden kann, sind sachlich nicht zu begründen, vor allem nicht in dieser Pauschalität, und sie werden durch ständiges Wiederholen nicht besser. Es ist daher höchste Zeit, dass mehr Menschen, vor allem auch die betroffenen Lehrer und Eltern, sich zu Wort melden, damit die vorgebrachten Schlagworte und Thesen von vorgestern nicht unwidersprochen im Raum stehen bleiben. Als Mathematiklehrer an einem staatlichen Gymnasium und Vater von drei Kindern an einer privaten, deswegen nicht weniger öffentlichen und (pädagogisch) freien Schule denke ich mir ein Urteil zu einigen Fragen des Schulwesens bilden zu können.

Wahrscheinlich wird niemand das Ideal der (Chancen-) Gleichheit ablehnen wollen, ebenso wenig wie die Ideale von Freiheit und Brüderlichkeit. Viele Menschen haben aber seit längerem erkannt, dass es zu Problemen kommen muss, wenn man auf allen Gebieten des sozialen Zusammenlebens diese Ideale der französischen Revolution gleichzeitig in den Mittelpunkt stellen will. Wie sähe es z.B. im Straßenverkehr aus, wenn jeder auf seine Freiheit pochen würde. Vor der Verkehrsordnung, genauso wie vor den anderen Gesetzen, sind wir nicht frei, aber alle sind wir gleich (hoffentlich). Freiheit vor dem Gesetz würde jedoch die Gesetze aufheben. Die Gleichheit, die also im Rechtsleben verwirklicht werden soll, ist anderswo wiederum fehl am Platz. So z.B. im Wirtschaftsleben, wo die daraus entstandenen totalitären Gesellschaftssysteme größtenteils ihr Fiasko am Ende des 20. Jahrhunderts erlebt haben. So aber auch und vor allem im Bereich der Bildung, der Kunst und der Kultur. Was würden etwa die freischaffenden Künstler, welche den rezenten Appell fir d’öffentlech Schoul¬ mitunterschrieben haben, sagen, wenn der Staat ihnen einheitliche Kunstwerke vorschreiben würde, welche sie zur selben Zeit und auf die selbe Art fertig zu stellen hätten. Auf allen Gebieten, welche mit individuellen Fähigkeiten zusammenhängen, wo Sachverstand verlangt wird, wo Kreativität, persönliche Initiative und Übernahme von Verantwortung gewünscht sind, braucht es einen Geist von Freiheit. Gleichheit hier als Prinzip angewandt tötet jede Innovation. Das gilt genauso für den Bereich der Bildung, besonders heute, wo in einer schwierigen Zeit die gesellschaftlichen Zusammenhänge den Menschen ein größeres Maß an Verantwortung für sich selbst und ihr soziales Umfeld abverlangen, und wo unter Bildung immer mehr Persönlichkeitsbildung zu verstehen ist: Erziehung muss mehr denn je dem Kind dazu verhelfen, seine Individualität in Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung zu entfalten, und dabei seine eigenen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln ( jedes Kind ist eine Minorität¬!). Es bedarf dazu der inneren Freiheit im pädagogischen Prozess (die Begegnung zwischen Schüler und Lehrer), welche nur in einem Bildungswesen wachsen kann, das als Rahmenbedingungen die notwendigen äußeren Freiheiten formal gewährleistet. Viele Pädagogen sprechen mittlerweile von einer Erziehungs- und Unterrichtskunst, welche sich aber in einem Klima der staatlichen Gängelei und Gleichmacherei trotz gutem Willen und lobenswerten Reformen nicht genügend entwickeln kann.

In zahlreichen Artikeln, Leserbriefen und nicht zuletzt im Appell fir d’öffentlech Schoul¬ wird mit dem Argument der Chancengleichheit für ein staatlich gelenktes Bildungswesen plädiert, in der eine Einheitspädagogik flächendeckend allen Schülern zugute¬ kommen soll. Diese alleinseligmachende Bildung erinnert mich im ihrem Ansatz an die Planwirtschaft der ehemaligen Ostblockstaaten. Etwas überspitzt formuliert könnte man hinzufügen, dass wir mit unseren Lehrplänen, welche größtenteils aus den auf dem ausländischen Markt gerade vorhandenen Lehrbüchern resultieren, den früher einzuhaltenden wirtschaftlichen Fünfjahresplan meistens noch übertreffen, was die Dauer der Gültigkeit anbelangt, wenn man von kleinen kosmetischen Korrekturen an den Programmen absieht. Gleichzeitig erhofft man sich von diesem politisch verordneten einheitlichen Schulsystem , dass es den wechselnden Bedürfnissen von Schülern und Eltern in einer pluralistischen Gesellschaft gerecht werden kann!? Von den Autoren werden, bewusst oder unbewusst, die Begriffe Chancengleichheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit vermischt, wobei vor allem übersehen wird, dass man den Kindern eben gerade dann nicht gerecht wird, wenn man sie in erzieherischen Fragen als gleich ansieht und dabei ihre unverwechselbare Individualität verkennt. Ganz nebenbei tritt man international anerkannte Rechte und Prinzipien mit Füßen, wenn man z.B. das Zitat aus dem Jahr 1912 eines Abgeordneten bemüht: …. nous ne voulons pas la liberté de l’enseignement, nous ne voulons pas le dualisme¬. Der Zugriff auf die Erziehung der nachfolgenden Generationen ist ein Kennzeichen totalitärer Staaten, und ist gegen geltendes Recht, welches die Erziehung vor allem als die den Eltern obliegende Pflicht ansieht. Dem Staat und damit auch den Parteien fehlt die Legitimation, sich die künftigen Wahlbürger nach ihrem Bilde zu erziehen. In einem freiheitlichen Staat sollte jeder nach seiner pädagogischen Façon selig werden dürfen. Dass Politiker als Privatschulfanatiker beschimpft werden, weil sie unser Unterrichtswesen den fundamentalen Menschenrechten ein gutes Stück näher bringen möchten, ist eine Unverschämtheit. Wo sitzen denn in dieser Frage die ewiggestrigen ideologisch verblendeten Fanatiker?

In mehr als 10 internationalen Texten (Menschenrechte, Rechte des Kindes, Resolution des Europaparlaments vom 14.03.1984, Konvention der UNO vom 22.11.1989 u.a.) wird die Freiheit der Bildung proklamiert beziehungsweise gefordert, verbunden mit dem Recht der Eltern die Art der Bildung und Erziehung ihrer Kinder frei wählen zu dürfen. Das Europäische Forum für Freiheit im Bildungswesen (EFFE) fordert, dass das Menschenrecht auf Bildungsfreiheit in ganz Europa eingebürgert werden soll, weil ein pluralistisches, demokratisches und möglichst selbstverwaltetes Schulwesen als notwendige Bedingung dafür angesehen wird, dass die Vision einer menschenfreundlichen Zukunft in einem Europa ohne Rassismus und Nationalismus, und ohne Unterdrückung ethnischer, religiöser und anderer Minderheiten, verwirklicht werden kann.

Wo käme denn in einem solchen Schulwesen, dem wir uns demnächst hoffentlich ein Stück nähern werden, die Chancengleichheit vor ? Genau an diesem Punkt muss nach meiner Ansicht der Staat regulierend eingreifen, um einerseits überall eine Grundversorgung zu gewährleisten (die sollte natürlich auch bestmöglichst gefördert werden, was sich aber nicht allein am Geld festmachen lässt), andererseits um auch wirklich allen Eltern die konkrete Möglichkeit zu geben, ihre Kinder bei sozial verträglichen Kosten auf jene Schule zu schicken, in der sie die beste Entfaltungsmöglichkeit für die individuellen Begabungen ihrer Kinder sehen. Soziale Ungerechtigkeit ist dann gegeben, wenn nicht jeder in dem selben Maße unter der Vielfalt des Angebots seine Wahl treffen kann, also dann, wenn aufgrund von einer zu einseitigen Unterstützung der staatlichen Schulen mit den öffentlichen Geldern aller steuerzahlender Bürger die finanziellen Überlegungen bei der Schulwahl eine zu große Rolle spielen. Dem Staat sollte bei der Ausführung seines Auftrags, Bildung zu garantieren, jedes Kind gleich viel wert sein. Natürlich muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen den Freiheitsräumen, die man den privaten Schulen gewährt, und den Grenzen die dort zu setzen sind, wo die Rechte anderer anfangen und wo möglicherweise Missbräuche auftreten. Die Schulen müssen in ihren Bildungszielen, ihren Lehrplänen und pädagogischen Methoden Transparenz walten lassen, und fundamentales Recht einhalten (etwa die Menschenrechte !); speziell in den höheren Klassen müssen die Lerninhalte so gestaltet sein, dass die jungen Menschen nach ihrer Schulzeit ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Das beinhaltet auch die Vorbereitung auf (staatlich anerkannte) Abschlussprüfungen. Die Art und Weise, wie dahin zu gelangen ist, sollte der Staat den Schulen überlassen. Schulen müssen nicht gleichartig, sondern gleichwertig sein, und legen ihre Lehrziele in freier Selbstbestimmung fest.

Das geplante Gesetz würde unser Land einer Chancengleichheit, wie sie oben beschrieben ist, und einem fairen Qualitätswettbewerb der Schulen ein gutes Stück näher bringen. Es ist daher schwer nachvollziehbar, dass genau dieses Argument benutzt wird, um Stimmung gegen die Privatschulen zu schüren, und es ist auch nur dadurch möglich, dass Tatsachen auf den Kopf gestellt werden. Auf einige der Verdrehungen, Unterstellungen und Widersprüche möchte ich im folgenden eingehen.

Im Appell für die öffentliche Schule wird von einer bevorzugten Behandlung der Privatschulen gesprochen. Meines Erachtens sind 80 % und erst recht 40 % immer noch weniger als 100 % (nicht nur Mathematiklehrer müssten das wissen). Es ist doch merkwürdig, dass eine wachsende Zahl von Eltern ihre Kinder auf anscheinend privilegierte, besser ausgestattete¬ Privatschulen schicken, und das trotz finanzieller Opfer. Dasselbe gilt auch für Schulen, welche materiell deutlich schlechter ausgestattet sind. Das scheint zu bedeuten, dass einerseits Qualität nicht in erster Linie eine Frage des Geldes ist (solange es nicht an die Existenz geht) und auch nicht staatlich verordnet werden kann, und dass andererseits die private Initiative und das Engagement aller Akteure vor Ort manchmal wahre Wunder bewirken können. Als Vater von Kindern an einer freien Privatschule war meine prägendste Erfahrung der letzten Jahre die, dass in einem Klima von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ungeahnte schöpferische Kräfte freigesetzt werden und manche unüberwindlich scheinende Hürden übersprungen werden können. Statt dass man unentwegt über schlechte Bücher, Schüler und Lehrer, über missglückte Reformen, dürftige Ausstattung der Räumlichkeiten oder überfüllte Klassen und Programme lamentiert, dass man darauf hofft und wartet, dass von oben (fast) alles geregelt wird, dass bessere Bücher auf den Markt kommen, oder dass man sich fragt, wo denn die Bildungsoffensive bleibt, wird an dieser Schule von (fast) allen Seiten mit angepackt, um die gewünschten Verbesserungen herbeizuführen: Arbeitskreise (Bau-, Basar-, Öffentlichkeits-, Kantinen-, Secondaire-, Bastel- ……gruppe) werden gegründet, Feste, Basare, Portes ouvertes, Exkursionen, Vorträge uvm organisiert, Klassensääle oder Spielplätze in Ferienaktionen eingerichtet usw., neben den permanenten Aufgaben im Bereich der Selbstverwaltung und der pädagogischen Arbeit in wöchentlichen Konferenzen (Klassen-, Fach- und Gesamtkonferenzen) wo an den Lernmethoden und -inhalten sowie den Entwicklungszielen für die Schüler gearbeitet wird. Zitat eines Lehrers: Ein Lehrer hat immer so viel Arbeit, wie er gerade noch bewältigen kann¬. Niemand wartet auf das globale Konzept¬, welches nicht kommt und (im pädagogischen Bereich) nie kommen sollte, oder darauf, dass die Politik Nägel mit Köpfen macht, sondern man versucht es selbst zu tun. In diesem Sinne sind die staatlich-kommunalen Schulen tatsächlich gegenüber den privaten und besonders den freien im Nachteil, auch weil ihre Freiheit geringer ist, um auf Änderungen der Ansprüche in der Gesellschaft (hier sind nicht die wirtschaftlichen gemeint) kreativ zu reagieren. Pädagogische Freiheit und pädagogischer Wettbewerb sind die Wege zu Vielfalt und Effizienz im Interesse von Schülern unterschiedlicher Herkunft und Begabung. Dieser in der Tat gegebenen Benachteiligung der staatlichen und sogar der konventionierten Schulen würde man entgegen wirken können, indem man auch ihnen eine größere pädagogische Freiheit gewähren würde. Dann wäre unter bestimmten Voraussetzungen (einen Automatismus gibt es nicht, alles muss man sich hart erarbeiten) auch dort an die geforderte Verbesserung der Lern- und Lehrbedingungen zu denken. Wie ist es möglich, dass engagierte Menschen nach reformfreudigen Lehrern rufen und Mitbestimmung fordern, und gleichzeitig ein Gesetz verhindern möchten, welches genau dafür günstigere Bedingungen schaffen wird.

Ist der oben angesprochene Wettbewerb im Bildungswesen denn überhaupt wünschenswert? Man darf nicht übersehen, dass der Wettbewerb in Schulen und Hochschulen anders wirkt als der bekannte wirtschaftliche Wettbewerb, den man in der Erziehung nicht haben will. Beim ersteren liegt das Gewicht auf einem Qualitätswettbewerb, beim letzteren auf einem Preiswettbewerb. Die Begriffe Wettbewerb¬ und Markt¬ müssen daher sorgfältig auseinandergehalten werden. Größere Unabhängigkeit vom Staat bedeutet selbst für internationale Bildungsexperten scheinbar notgedrungen eine Entwicklung hin zum Wirtschaftsunternehmen, den Gesetzen der freien Wirtschaft unterliegend. Sie plädieren für das eine und gegen das andere, daher sind sie ziemlich ratlos. Der Staat hätte dafür Sorge zu tragen, dass der Wettbewerb fair ist und nicht durch zu unterschiedliche finanzielle Unterstützung der Schulen zu einem Preiswettbewerb degradiert. Es wäre eine lohnende Aufgabe für Bildungspolitiker, sich in hierfür bereits existierende Modelle und Ansätze einzuarbeiten wie z.B. die Idee des Bildungsgutscheins, oder eigene Ideen zu entwickeln. Wenn die Unterzeichner des Appells für die öffentlichen Schulen richtigerweise der Meinung sind, dass angemessene Bildung keine Ware werden darf, plädieren sie im Grunde genommen für eine gerechte Unterstützung aller Schulen (allerdings hätten sie am liebsten nur eine).

In dem besagten Appell wird die Integrationsfunktion der öffentlichen Schule für den hohen Anteil ausländischer Schüler sowie Kinder aus sozial schwächerem Milieu angesprochen. So weit ich es beurteilen kann, werden in der Tat in diese Richtung lobenswerte Anstrengungen unternommen. Man sollte aber nicht unterstellen, dass den Privatschulen diese Kinder egal wären und dass man sich dort nicht ebenfalls in unterschiedlicher Form um sie bemüht. Von der Schule meiner Kinder weiß ich, dass bei einem Ausländeranteil von 35 % ungefähr 15 Nationalitäten vertreten sind. Außerdem bemüht die Schule sich auch darum die Schüler, welche z.B. aufgrund von Lernschwierigkeiten oder Problemen in einer Sprache im staatlichen Schulwesen auf der Strecke geblieben sind¬, zu integrieren. Diese Kinder stammen übrigens oft aus einem sozial schwachen Milieu. Das angewandte Prinzip der Solidarität besagt aber, dass kein Kind wegen finanzieller Ursachen abgelehnt werden darf.

Einige Male wurden die Pisa-Studie und das Paradebeispiel¬ Finnland mit seinen nur 3% Schülern an Privatschulen bemüht, um die Vorzüge des propagierten staatlichen Schulwesens zu belegen. Mit dieser etwas überstrapazierten Studie lässt sich ähnlich wie mit Statistiken fast alles und dessen Gegenteil beweisen. In diesem Fall sehe ich aber stärkere Argumente für das Gegenteil : Das Schulwesen in Finnland ist von dem unserigen total verschieden und weist vielmehr manche Gemeinsamkeiten mit Unterrichtsformen auf, wie sie bevorzugt an verschiedenen freien Privatschulen angewandt werden; man praktiziert ein offenes System, das man anderswo als Kuschelpädagogik¬ diffamiert: Entwicklung und Förderung individueller Fähigkeiten der Schüler (konkret praktiziert) anstatt reine Wissensvermittlung, altershomogene Klassen (ohne Sitzen bleiben¬, frühzeitige Auslese in weiterführende Schulen und ohne Differenzierung bis ungefähr zur 9. Klasse), ein Klassenlehrer bis zur 6. Klasse, Einschulung erst mit 7 Jahren, kaum Hausaufgaben, keine Noten bis zur 8. Klasse (in Schweden), kaum Nachhilfeunterricht, eine umfassende Schulbildung von 12-13 Jahren für fast alle Schüler, keine soziale Segregation, eine relativ große Autonomie, Träger der Schulen sind meistens die Kommunen (nicht der Staat). Übrigens sind die Lehrer weit schlechter als bei uns bezahlt, sie sind nicht verbeamtet und genießen dennoch ein höheres gesellschaftliches Ansehen als bei uns. Der sozialistischen Vision einer Schule, wo in denselben Schulbänken die Kinder von Ministern und Arbeitern, von Großbesitzern und kleinen Bauern nebeneinander sitzen und Kameraden für das Leben bleiben, kommt man in Finnland und an manchen Privatschulen wohl näher als in unserem staatlichen Schulwesen, welches ähnlich wie das deutsche und das französische eine scharfe Auslese betreibt und die jungen Menschen viel zu früh in unterschiedliche Bildungslaufbahnen verteilt. Gegen diesen edukativen Darwinismus¬, welcher nicht einmal die Guten¬ fördert und rund einem Drittel der Schüler bedrückende Misserfolgserlebnisse und gebrochene Schulkarrieren beschert, sollten die Leute protestieren, wenn sie denn wirklich für Gleichheit der Bildungschancen und gegen soziale Ungerechtigkeit eintreten möchten. Ich kann mir vorstellen, dass in Finnland bei Bildungsdebatten Wörter wie Wirtschaftsstandort, Wissenschaftsgesellschaft, Humankapital für die wirtschaftliche Entwicklung, Wettbewerb der Völker usw. kaum genannt werden. Die Sprachverelendung, die sich in diesem Vokabular und der Art der damit verbundenen Argumentation andeutet, ist bereits ein Zeichen der sozialen Auslese und der Hörigkeit gegenüber der Wirtschaft, die mit selektierenden¬ Schulsystemen einhergeht.

Es wird gesagt, dass die Privatschulen bei weitem nicht dieselben finanziellen Aufwendungen aufbringen müssen wie öffentlichen¬ Schulen, vor allem wegen der zum Teil niedrigeren Gehälter. Zusammen mit den Elternbeiträgen würde sich also das Betreiben von Privatschulen zum lohnenden Geschäft entwickeln, und neue Schulen würden wie Pilze aus dem Boden schießen (das wäre zu schön)! Vornehm ausgedrückt ist es verwunderlich, dies von dem Vertreter einer Partei zu hören, die für soziale Gerechtigkeit eintritt. Ist er sich bewusst, dass diese Elternbeiträge bedeuten, dass Eltern zweimal für die Bildung ihrer Kinder bezahlen, und dass derzeit nur die Schulgelder und die niedrigeren Gehälter, zusammen mit dem Engagement aller Beteiligten, das Überleben dieser Schulen garantieren. Die Schule, der ich meine Kinder anvertraut habe, bezahlt aus der Not heraus Gehälter, welche sich stärker am Mindestlohn als am Gehälterniveau der luxemburgischen Lehrer orientieren, und das bei einem in der Regel weit größeren Arbeitsaufwand. Dennoch müssen die Eltern bedeutende finanzielle Opfer bringen, und in der Tat würde beim Zugang zu dieser Schule die Chancengleichheit nicht gewährleistet werden können, wenn nicht das Prinzip der Solidarität spielen würde. Schüler und Eltern der privaten Schulen verlangen keine bevorzugte Behandlung, sondern eine faire¬ gesetzliche Regelung. Fairness bitte auch in der öffentlichen Diskussion und keine undifferenzierten populistischen Argumente¬ wie z.B. öffentliches Geld für öffentliche Schulen¬ oder wer eine Extrawurst haben will soll schauen wie er zurecht kommt¬.

Alle Privatschulen und sogar die, welche sich nicht an das öffentliche Lehrprogramm halten, sollen in Zukunft stärker unterstützt werden. Dieser Punkt wird besonders stark attackiert. Zur Begründung heißt es, die Qualitätskontrolle des Unterrichts (!) würde entfallen sowie der Einblick in die vermittelten Inhalte. Auch seien ideologiefreie pädagogische Ansätze nicht mehr sichergestellt.

Zum einen ist gerade an freien Schulen die Qualitätskontrolle bereits durch die beitragszahlenden Eltern sichergestellt, und ein nicht engagierter oder inkompetenter Lehrer ist auf Dauer nicht tragbar. Die ständige selbstorganisierte Qualitätskontrolle ist lebensnotwendig für die Schulen in freier Trägerschaft.

Andererseits sind die Lehrpläne, zumindest was die Schule meiner Kinder anbelangt, für jeden interessierten Menschen und insbesondere das Unterrichtsministerium und den Schulinspektor einsehbar. Mittlerweile dienen diese Lehrpläne und mehr noch die damit verbundenen Unterrichtsmethoden vielerorts als Inspiration für Neuerungen und Reformansätze. Freiheit in der Auswahl der Lerninhalte bedeutet keine Beliebigkeit, sondern die einzelne Schule muss auf einem pädagogischen Konsens ihrer Lehrer und Eltern gründen, ein Konsens, der jedoch nicht verordnet werden kann und verschieden ist von einer Einheitspädagogik für alle Schulen.

Schließlich frage ich mich auch, ob man nicht ideologiefrei sagt und wertfrei meint. Eine Erziehung, welche versucht wertneutral zu sein (sie ist es eigentlich nie ganz) mündet meiner Meinung nach bevorzugt im Materialismus und im Egoismus, und es scheint gerade der Wunsch nach einem wertorientierten Unterricht zu sein, welcher übrigens alle Fächer, sogar Mathematik und Naturwissenschaften, durchdringen kann und soll, der viele Eltern zu anderen als den staatlichen Schulen führt. Nur eine Vielfalt im Bildungsangebot kann deswegen den diesbezüglich verschiedenen Ansprüchen in der Gesellschaft gerecht werden.

In einem vereinheitlichten Schulwesen kann immer nur ein Konzept verwirklicht werden. Woher soll es kommen ? Das geistige Vakuum, welches durch das Herbeiführen einer Wertneutralität oder sogar -freiheit im Schulwesen entsteht, bleibt auf die Dauer nicht bestehen, sondern in dieses Vakuum strömen immer stärker Kräfte, Einflüsse und Interessen, die dort nicht hingehören, und die vor allem im Wirtschaftsleben beheimatet sind. Ein paar Stichworte sind: Konkurrenzdenken (unter Schülern), Leistungsdruck, Notendruck, Zeitmangel, Frühlernen, Standardisierung, globale Normierung, Zentralabitur, globales Konzept, Schulzeitverkürzung, rationalistisch-materialistische Denkweise. Kaum eine bildungspolitische Debatte, wo nicht Sätze und Schlagworte wie z.B. Bildung unser wichtigstes Kapital¬, Standortvorteil¬, Bedeutung der Bildungspolitik aus wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischer Sicht¬, persönliche Entfaltung …. für die Wirtschaftsentwicklung¬ zu hören sind (Tageblatt vom 15.1.2003). Das Primat der Wirtschaft hat in fast alle Lebensbereiche Einzug gehalten, das setzt sich in unserer Ausdrucksweise und in unserem Denken fort. Es wird nur gefragt: Was hat der Mensch zu wissen für die soziale Ordnung ?¬, anstatt dass die Ausgangsfrage wäre: Was ist im Menschen veranlagt, und wie kann das entwickelt werden ?¬ Auch das Ranglistendenken (Abstiegsgefahr !) beim Vermitteln der Pisa-Ergebnisse ist bezeichnend. Es droht eine permanente weltweite Beeinflussung des Bildungssystems. Pisa wurde von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit durchgeführt. Die OECD berät die nationalen Regierungen mit ihren Informationen, die für eine nationale Politik in allen wichtigen Fragen der Wirtschaft hilfreich sind¬. In der Pisa-Studie geht es auch um die menschlichen Ressourcen einer zukünftigen Konjunktur, um richtig konditionierte Arbeitnehmer und Konsumenten. Leider schaffen es nicht einmal alle Privatschulen, sich von diesen Einflüssen frei zu halten und die Erkenntnis der menschlichen Person und seiner Entwicklung in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik zu stellen. Wenn man sieht dass in den meisten öffentlichen Diskussionen zur Bildung Argumente aus der Wirtschaft hineinragen und vom zentralen Punkt jeder Pädagogik, dem Kind, nur am Rande gesprochen wird, dann kann man in der Tat befürchten, dass die Gewährleistung ideologiefreier pädagogischer Ansätze nicht mehr sichergestellt ist¬.

Das geplante Gesetz ist jedenfalls ein großer und mutiger Schritt in die richtige Richtung. Die Ideen von der Freiheit der Pädagogik und der Förderung des Individuums haben auch Einzug in Regierungskreise gehalten und sollen im Gesetz weit stärker als bisher ihren Niederschlag finden. Ich glaube, dass auch dort und vielleicht gerade dort erkannt wurde, dass unsere moderne Gesellschaft einen neuen Geist fordert, der vor allen Dingen in das Erziehungswesen hineingetragen werden muss. Die Gesellschaft muss über die Erziehung reformiert werden, indem ihr durch die heranwachsende Generation neue Kräfte zugeführt werden, dadurch dass jeder Erzieher ständig darum bemüht ist aus seinem wichtigsten Lehrbuch zu lernen: dem Kind.

Es sind nicht alle Schulen gleich. Reglementierungen reichen nicht mehr aus, gefragt ist Tatkraft an der Basis. Die Autonomie entsteht nicht durch Gesetze (Anm: aber ein paar Gesetze schaffen erst die dazu nötige Grundlage). An die Eltern und Lehrer geht die Botschaft: Man darf aktiv sein, man kann etwas verändern.¬ Diese Botschaft aus dem Unterrichtsministerium habe ich anlässlich einer öffentlichen Diskussionsrunde (Okt.2001) wohl vernommen, genauso wie das Schlusswort der Ministerin für Bildung im Hochschulbereich: Es ist an der Zeit, dass wir das Wunder des Individuums neu entdecken. Jedes Kind ist etwas Einmaliges, ein Wunder……… Man muss den Schülern (Anm: aber nicht nur ihnen) Freiheit geben, ihnen andere Freuden schenken als nur gute Noten…….¬ Anlässlich dieser Rundtischgespräche, welche von LYCOPA organisiert waren, waren internationale Bildungsexperten mehrheitlich der Meinung, dass vom Staat geschaffene Strukturen den Wünschen nach Autonomie nicht gerecht werden, dass entbürokratisiert und dezentralisiert werden muss, dass die Schule im Hinblick auf die Motivation der Lehrer aus sich selbst heraus organisiert werden soll, und dass pädagogische Fragen von Pädagogen behandelt werden müssten.

So erfreulich es einerseits ist, dass wir an der Spitze unseres Landes idealistisch gesinnte MinisterInnen haben mit Visionen für eine bessere Zukunft und dem Mut, gegen voraussehbare Widerstände Schritte in diese Richtung zu gehen, umso bedauerlicher ist es gerade deshalb, dass man an einem entscheidenden Punkt offensichtlich Angst vor der eigenen Courage bekommen hat, und zwar an dem Punkt, wo es um die staatliche Kontrolle bezüglich der pädagogischen Inhalte geht. Richtet sich die Kritik aus den hauptsächlich sozialistischen Kreisen dagegen, dass sogar (!) solche Schulen, die sich nicht an das öffentliche Lehrprogramm halten, mit öffentlichen Geldern unterstützt werden, so geht meine Kritik zum selben Punkt des geplanten Gesetzes in die entgegensetzte Richtung. Die freien Schulen mit ihren eigenen pädagogischen Konzepten kämen im Bereich der Schulkosten auf eine maximale Unterstützung von 40 %, gegenüber 90 % für die konventionierten Privatschulen, bezogen auf den Betrag, den der Staat im Durchschnitt für einen Schüler an einer staatlichen Schule aufbringen muss. Es stimmt zwar, dass die Diskriminierung der Privatschulen und besonders der freien Privatschulen sich dadurch deutlich verringert, gleichzeitig wird aber die Zweiklassengesellschaft innerhalb der privaten Schulen festzementiert , und das ohne sachliche Begründung und gegen alle Prinzipien der vom Staat zu garantierenden Bildungsfreiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Fairness, so wie ich sie in meinem Beitrag versuche darzulegen. Es sind gerade die Schulen mit innovativen, eigenen pädagogischen Konzepten, die mit ihrem Ideenreservoir befruchtend auf die ganze Schulgemeinschaft wirken können, und welche in einer fortschrittlichen, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft am meisten gebraucht werden.

Ein für manche Eltern schwieriger Schritt in der Erziehung ihrer Kinder bedeutet das Loslassen¬ zu dem Zeitpunkt, wo die Kinder mündig geworden sind. Auch der Staat sollte den Mut haben loszulassen¬ , es sei denn er vertraut nicht auf die Mündigkeit seiner Bürger und speziell den vor Ort tätigen engagierten Pädagogen in den Fragen der Bildung und Erziehung. Die Bildung braucht neue Ideen, und es gibt in der Gesellschaft einen großen Reichtum an pädagogischen Reformvorschlägen, welcher jedoch ungenutzt bleibt, wenn er nur in einem einzigen Konzept verwirklicht werden kann. Es braucht daher eine neue Reformstrategie. Ein einziger pädagogischer Konsens in einer Einheitspädagogik zusammengefasst lässt sich in einer unüberschaubar gewordenen Gesellschaft nicht mehr finden und sollte auch nicht verordnet werden. Mehrheitsentscheidungen helfen auch nicht weiter, sondern nur die Vielfalt der Verwirklichungen. Die Mitbestimmung aller muss sich auf die Fragen beschränken, zu denen jeder mündige Bürger in gleicher Weise seine Ansichten einbringen kann. Pädagogische Fragen wie z.B. die des geeigneten Lehrplans oder der besten¬ Schulrhythmen sind jedoch Sachfragen und können nur vom Sachverstand der Pädagogen entschieden werden. Es ist tragisch, dass Menschen, welche mit Bildung mehrheitlich nichts zu tun haben, darüber mitentscheiden, dass z.B. junge Menschen nie die Gedanken auch nur eines einzigen Philosophen kennen lernen dürfen, bloß weil sie in der 7. Klasse schwach in Mathematik waren, oder darüber dass man den Schülern ab der 7. Klasse immer mehr Wege versperrt anstatt derer so viel wie möglich und so lange wie möglich offen zu halten. Viele Beispiele beweisen, dass die Bürger zu einem selbstständigen pädagogischen Urteil und zur Selbstgestaltung ihrer Schule fähig sind. Daher sollten Bildungspolitiker aufhören, miteinander über pädagogische Konzepte zu streiten und danach Lehrer und Eltern zu bevormunden. Die Problematik ist ungeheuer komplex, und oft schaffen es nicht einmal die Lehrer, über pädagogische Konzepte sachlich zu diskutieren, besonders dann nicht, wenn sie nur ein Konzept kennen gelernt haben. Bildungspolitik sollte sich vom Streben nach Einheitlichkeit und staatlicher Lenkung des Schulwesens verabschieden und versuchen, Effizienz durch wachsende Vielfalt und Qualitätswettbewerb zu erreichen, und sich dabei selbst mehr in die Richtung einer liberalen Ordnungspolitik entwickeln. Zukünftige Schulgesetze sollten vor allem Nichtverhinderungsgesetze¬ sein, welche nicht wie bisher verhindern, dass wachsen kann was in unsere Bildungslandschaft gehört.

Von der Natur mit ihrem faszinierenden Artenreichtum sollten wir auch in dieser Frage lernen. In der Landwirtschaft hat man zunehmend erfahren, dass Vielfalt, Fruchtfolge und Mischkultur auf die Dauer bessere Erfolge bringen als die aus wirtschaftlichen Gründen forcierte Monokultur. Manche früher als Unkraut verschmähte Pflanze wurde plötzlich wiederentdeckt und gilt heute als sehr wertvoll. Nachhaltigkeit in der Erziehung genau wie in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen ! Lasst tausend Blumen blühen¬, sagt ein chinesisches Sprichwort. Die Chinesen haben dieses Motto meines Wissens nach leider nur im Tischtennis angewandt, und mit dieser Philosophie wurde den anderen ihre erdrückende Übermacht in dieser Sportart erklärt. Dieses Motto sollten sich alle Bildungspolitiker zu Herzen nehmen und die Luxemburger Schullandschaft zu einem blühenden Garten gedeihen lassen, in welchem sie so wie ein verantwortungsvoller Gärtner es tun sollte für alle Pflanzen¬ dieselben Vorraussetzungen für ein gesundes Wachstum schaffen.

Ja zur richtig verstandenen Chancengleichheit im Bildungswesen für die Schulen, die Schüler und die Eltern, in wachsender Vielfalt und in pädagogischer Freiheit.


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