Die steigende Bevölkerungszahl macht Angst. Sie könnte aber auch eine Chance für Luxemburg sein, wenn die Politik sich Konzepte für die Zukunftsgestaltung geben würde. Ein woxx-Streitgespräch.
Wie sehr das Thema „700.000 Einwohnerstaat“ weiterhin die Gemüter bewegt, zeigte der voll besetzte Saal in der Kulturfabrik. Wir dokumentieren in gekürzter Form die unterschiedlichen Standpunkte.
Jean-Claude Fandel: „Die CGFP spricht eine Angst aus, die real vorhanden ist.“
Um die Angst vor den Fremden loszuwerden, müssen wir nach Wegen suchen, wie wir mit ihnen vertraut werden können. Die CGFP drückt in Leitartikeln oder Gutachten diese Angst aus, die weit über den öffentlichen Dienst oder die Mitglieder der CGFP hinaus in unserer Bevölkerung zu finden ist. Aber dieselbe CGFP, die diese Angst artikuliert, plädiert auch für eine bessere Integrationspolitik im Rahmen des „Conseil National pour Etrangers“, in dem übrigens einer ihrer Vertreter von ausländischen Mitbürgern als luxemburgisches Vorstandsmitglied hineingewählt worden ist. Au_erdem ist die CGFP auch bereit, zum Beispiel mit einer ASTI zusammenzuarbeiten, um die soziale Kohäsion Wirklichkeit werden zu lassen.
Seit mindestens zwei Jahren ist der öffentliche Dienst – mit Ausnahme verschiedener Bereiche, in denen es um nationale Souveränität oder Sicherheit geht – für Ausländer völlig offen: beispielsweise im Unterrichtswesen. Und Luxemburg ist das einzige Land europaweit, wenn nicht weltweit, das nun auch seine Armee für EU-Ausländer öffnet. Angst kann es einem aber schon werden, wenn man feststellt, dass schon jetzt einfach nicht genug getan wird, um die Ausländer, die zu uns kommen, einzubürgern. Allerdings kommt bei der Vorbereitung des 700.000-Einwohnerstaates das zwischenmenschliche Verständnis lange vor den politischen Rechten, lange vor der doppelten Staatsbürgerschaft und anderen juristischen Konstrukten. Und da spielt die Sprache eine wesentliche Rolle. Wenn Sprache eine Brücke sein soll, weshalb machen die Verantwortlichen dann nicht mehr Ernst damit und bieten verstärkt Sprachkurse an? Weshalb hört man, dass in Luxemburg 5.000 Leute darauf warten, Luxemburgisch lernen zu können?
Romain Hilgert: „Luxemburg, ein Blätterteig, der nach Nationalität und Geschlecht geschichtet ist.“
Die Luxemburger leben in der Angst, dass sie verschwinden, dass ihr Land kein richtiges Land ist, dass ihre Sprache keine richtige Sprache ist, sondern ein Dialekt. Angesichts der neuen Angst vor der steigenden Bevölkerungszahl ist es aber erstaunlich, was in den letzten Wochen und Monaten alles getan wurde, um die Einwohnerzahl zu erhöhen: Herabsetzen der Betriebssteuern, Erhöhung des Kindergelds, Einführung einer Hausfrauenrente … Wenn man wirklich Angst vor einer Überbevölkerung hätte, müsste man vielleicht das Gegenteil tun.
Gefährlich ist, dass immer zwischen Einheimischen und Hinzugezogenen unterschieden wird. Es wird so getan, als ob das Problem dadurch entstünde, dass die Ausländer hierher kommen, als ob in Luxemburg eine Invasion stattfände, die unsere Stra_en und Infrastrukturen belastet. Als ob wir Luxemburger alle ein Menschenrecht darauf hätten, im Einfamilienhaus mit Garten und zwei Garagen zu wohnen. Dieser Diskurs riskiert sogar bis in grüne Milieus hineinzugelangen, mit der Gefahr, dass das in Humanökologie und Naziwissenschaften ausartet.
Die Luxemburger Gesellschaft ist so etwas wie ein Blätterteig, der nach Nationalität und Geschlecht geschichtet ist. Man findet zum Beispiel wenig ältere luxemburgische Männer, die in portugiesischen Haushalten putzen, aber fast nur portugiesische Frauen, die in luxemburgischen Haushalten putzen. Für verschiedene Berufe und damit auch für verschiedene Einkommenskategorien, für verschiedene Ebenen sozialen Prestiges gibt es spezifische Nationalitäten, Geschlechter und Altersschichten. Die Durchlässigkeit zwischen diesen einzelnen Schichten bleibt sehr gering.
Jean-Claude Juncker: „Ich bin für die doppelte Staatsbürgerschaft.“
Ich habe das Thema Bevölkerungswachstum im Rahmen der Pensionsreform aufgeworfen. Und ich habe gefragt, was wir kollektiv tun können, um mit seinen Konsequenzen fertig zu werden. Das ist keine Provokation oder Angstmache, sondern es ist meine Aufgabe, auf eine Entwicklung aufmerksam zu machen, die uns alle hier im Land betrifft, die aber oft nicht benannt wird.
Ein wesentliches Problem ist das der Mobilität. Ich habe vor den Wahlen keinen Hehl daraus gemacht, dass ich ein Anhänger des BTB bin. In meiner Partei sind die meisten Leute auch dieser Meinung. Es gibt Parteien, die im Wahlkampf das Gegenteil vertreten und dabei nicht schlecht abgeschnitten haben. Und es gibt welche, die heute sagen, sie hätten schrecklich dafür gekämpft. Das war nicht der Fall: In der sozialistischen Partei gab es gro_e BTB-Anhänger und es gab andere, die bremsten. Aber wie ich sehe, bewegt sich nun doch etwas.
Was politische Rechte anbelangt, hat die Regierung jetzt vorgeschlagen, dass bei den Gemeindewahlen alle, also auch Nicht-EU-Bürger, wählen dürfen. Wenn demnächst noch mehr Nicht-Luxemburger hier leben, kann es nicht so sein, dass die Luxemburger allein darüber entscheiden, wie hier im Land die Weichen gestellt werden. Ich persönlich bin für die doppelte Staatsbürgerschaft, und ich kämpfe auch in meiner Partei dafür. Für mich kann man problemlos die Luxemburger Nationalität bekommen und gleichzeitig jene behalten, die man vorher hatte. Das erlaubt einem, ein guter Luxemburger Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten zu werden, die die Staatsbürgerschaft beinhaltet. Und es erlaubt einem, das, was man von au_en mitbringt, gewinnbringend für uns alle einzubringen.
Blanche Weber: „Statt Leserbriefe brauchen wir objektive Fakten.“
Die Diskussion um das Bevölkerungswachstum, die nicht erst durch die Rentenfrage ausgelöst wurde, bietet die Chance, über die Zukunftsgestaltung nachzudenken. Mich erschrecken natürlich eine Reihe von Aussagen, wie sie zum Beispiel in Leserbriefen auftauchen. Als Mouvement écologique stehen wir dazu, dass Luxemburg ein Immigrationsland ist. Wir glauben, dass ein begrenztes Wachstum von der Bevölkerung auch Chancen für ein Land bieten kann. Wir wissen aber auch, dass das Thema berechtigte Ängste auslöst, zum Beispiel die vor der Zerschneidung und Zersiedlung der Landschaft. Wenn die politisch Verantwortlichen heute schon nicht mit diesen Problemen klar kommen, wie sollen sie dann Entwicklungen antizipieren?
Langfristiges Denken setzt voraus, dass eine Bereitschaft besteht, bei politischen Entscheidungen Prioritäten zu setzen. Es jedem gerecht machen zu wollen, klappt dann nicht mehr: Dann kann die derzeitige Transportpolitik nicht weitergeführt werden, dann brauchen wir klare Prioritäten für den öffentlichen Transport.
Es wäre sinnvoller, wenn wir statt Leserbriefen objektive Fakten auf dem Tisch liegen hätten: zum Beispiel darüber, wie in zehn Jahren die Verkehrsproblematik in Luxemburg aussehen sollte oder wie wir in zehn Jahren den Wohnungsbau in den Griff bekommen wollen. Hierüber sollte in öffentlichen Foren zwischen Politikern, Fachleuten und der Zivilgesellschaft diskutiert und Schlussfolgerungen gezogen werden.
Entwicklungsbedürftig ist auch die Immigrationspolitik, in der es heute schon Probleme gibt. Nicht Luxemburgisch sprechende Leute haben es beispielsweise heute schwer, Zugang zum Mouvement écologique zu finden. Integration hei_t deshalb, Anstrengungen auf der Ebene der Zivilgesellschaft, in den Gemeinden, in den beratenden Kommissionen der Gemeinderäte, in den Vereinen zu machen. Es verlangt aber auch Unterstützung auf nationaler Ebene: Müsste der Staat nicht Übersetzungen bei Versammlungen oder zweisprachige Publikationen finanziell unterstützen? Es sind diese alltäglichen Dinge, die ein gro_es Gewicht haben können.
Laura Zuccoli: „Soziale Kohäsion bedeutet Mitspracherecht im Alltag.“
Wir sollten Nationalitäten nicht gegeneinander ausspielen, sondern auf Werte wie Toleranz, Humanismus, Verständnis setzen. Diesen Basiskonsens können auch die Ausländer, die hier in Luxemburg leben, mittragen. Aber soziale Kohäsion bedeutet in einem Land mit so hohem Ausländeranteil wie Luxemburg auch konkretes Mitspracherecht im Alltag. Um eine gemeinsame Identität herzustellen, dürfen wir nicht auf das Luxemburg von morgen warten, sondern müssen heute schon dafür sorgen, dass Ausländer mitreden können. Es genügt nicht, Ausländer nur als Element einer Arbeitsmarktpolitik zu betrachten. Es muss eine Politik in puncto Integration und Kohäsion geführt werden, die auch den sozialen Aufstieg, den Ausländer hier anstreben, möglich macht.
Auch die Ausländer werden sich immer bewusster, wie wichtig sie für die Wirtschaft sind. Viele von ihnen wohnen schon sehr lange hier, und es ist selbstverständlich, dass sie mehr Rechte wollen. Besonders die jungen Leute, die hier gro_ geworden sind und den gleichen Weg gemacht haben wie die Luxemburger, wollen nicht nur das Wahlrecht, sondern zum Beispiel auch den Zugang zu schulischer Qualifikation, zu besser bezahlten Berufen, zum Staatsdienst.
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