Kunstkritik und Digitalisierung: Alle dürfen mitreden

Wieso sollte irgendjemand auf euch hören, fragen professionelle Kritiker*innen und Lai*innen sich gegenseitig. Es ist ein alter Konflikt, der in der digitalen Gegenwartskultur eine neue Eskalationsstufe erreicht hat.

Im Internet können heute potenziell alle Werteurteile zu Kunstwerken abgeben. (CC0 Public Domain by Mohammed hassan www.pxhere.com)

Es ist ein immer wiederkehrendes Szenario: In den sozialen Medien wird ein Buch, ein Film, eine Ausstellung oder eine Performance heiß diskutiert. Anlass dafür ist die Frage, ob das diskutierte Kunstwerk rassistische, antisemitische oder anderswie diskriminierende Stereotype reproduziert und wie damit umzugehen ist. Die für die Veröffentlichung zuständige Kulturinstitution nimmt sich der Frage ebenfalls an und kommt entweder zum Schluss: Ja, solch negative Stereotype werden in der Tat bedient. Oder aber: Die Kritik ist ungerechtfertigt. Wird das Buch aus dem Sortiment genommen oder der*die Künstler*in wieder ausgeladen, schreibt die Boulevardpresse, der*die Künstler*in sei dem „Woke-Wahnsinn“ zum Opfer gefallen. Dieses Narrativ greifen auch andere Medien auf, in den sozialen Netzwerken entwickelt sich ein gegen den „woken Puritanismus“ gerichteter Shitstorm.

Von diversen Medien befeuerte Scheindebatten wie diese entstehen immer wieder. Zuletzt als der Ravensburger Verlag bekannt gab, zwei neue Winnetou-Romane zurückzuziehen. Noch erstaunlicher als die Aggressivität, mit welcher solche Debatten geführt werden, ist die Vielfalt an Menschen, die sich an der Empörungswelle beteiligen.

Neben den üblichen Verdächtigen aus der breiten Bevölkerung, die ihre heißgeliebte Kinderliteratur verteidigen, mischen auch Vertreter*innen aus Politik, Kultur und Wissenschaft kräftig mit. Sie steigen mit einer solchen Leidenschaft in die Debatte ein, als hätten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich erneut über die wild um sich greifende „Cancel Culture“ aufzuregen.

Genauso vorhersehbar wie die dabei bedienten Argumente ist die verwendete Ausdrucksweise: Formulierungen wie „Meinungsdiktatur“, „Tugendwächter“, „Sprachpolizei“ und „Zensur“ werden unkritisch von Querdenker*innen und der Boulevardpresse übernommen. Das Anti-Woke-Bashing wird ungehindert aller Tatsachen betrieben. Immerhin würde ein minimaler Rechercheaufwand ausreichen, um die Desinformation, die Bild und Co. etwa im Fall Winnetou betrieben, zu entlarven: Es gab nie eine Kampagne, die das Verbot dieser Bücher forderte, und überhaupt ging es bei den Büchern nicht um jene von Karl May, sondern um Spin-offs.

Zu argumentieren, dass die Schimpfenden mit ihrem offensichtlichen Desinteresse an überprüfbaren Fakten in solchen Momenten nur ihr wahres Gesicht offenbarten, wäre aber verfehlt. Wer nämlich analysiert, was sich hinter der Angst vor einer „neuen, linken, totalitären Meinungsdiktatur“ versteckt, wird feststellen, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht.

Wer darf Kunst kritisieren?

Über die Frage, was relevante Kunst ist, wird längst nicht mehr nur im gehobenen Feuilleton oder auf prestigeträchtigen Preisverleihungen geurteilt. In den sozialen Medien, auf Blogs, in Kommentarspalten und Internetforen kann sich heutzutage potenziell jede*r zu allem äußern. Auf Goodreads, Lovelybooks oder Letterboxd etwa tauschen sich Lai*innen darüber aus, ob Bücher beziehungsweise Filme die Beachtung wert sind, ob sie die Preise, mit denen sie honoriert wurden, auch wirklich verdienen und ob die im Hochfeuilleton vertretene Meinung geteilt wird.

Theoretisch könnten sich beide Bewertungskulturen konstruktiv ergänzen. Immerhin erfüllen sie völlig unterschiedliche Zwecke. Die etablierte Kritik analysiert nach institutionell anerkannten Kriterien den artistischen und gesellschaftlichen Wert des Kunstwerks. Lai*innen- und Kund*innenrezensionen dagegen haben einen subjektiven, emotionalen Charakter und richten sich an Gleichgesinnte. Dazu regen die Plattformen zum Teil selbst an. „Tell your friends what’s good“ fordert etwa Letterboxd potenzielle User*innen auf seiner Startseite auf. Wer also mit dem gehobenen Feuilleton nichts anfangen kann, dem hilft möglicherweise die eine oder andere Lai*innenrezension weiter – und umgekehrt.

Zu sagen, dass die klassische Kritik und die nicht-professionelle Rezensionskultur friedlich koexistierten, wäre allerdings zu optimistisch. Das wird immer dann deutlich, wenn die Lai*innen- und die Expert*innenmeinung weit auseinanderliegen und wenig Verständnis für die jeweils andere Position besteht. Diese Diskrepanz ist kein neues Phänomen, mit dem Internet hat sie jedoch neue Ausmaße und Sichtbarkeit erreicht.

Ein rezentes Beispiel einer solchen Diskrepanz ist die Serie „The Lord of the Rings: The Rings of Power“. Während sie von professionellen Kritiker*innen gute beziehungsweise sehr gute Bewertungen erhielt, wurde sie auf Rezensionsplattformen wie Metacritic Opfer einer sogenannten „review bomb“: Der Durchschnitt der kritischen Bewertung wurde durch massenhafte Negativbewertungen gewollt heruntergezogen. Auf IMDB etwa wurde die Serie 35.500-mal mit nur einem Stern bewertet. Auf Rotten Tomatoes werden die vielen Ein-Stern-Bewertungen, wenn überhaupt, mit der erlebten Enttäuschung begründet: Darüber, dass die Protagonistin unsympathisch wirke, dass nicht alle Elben weißer Hautfarbe sind, dass die Serie von Amazon ist oder noch darüber, dass „Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson nicht bei dieser Produktion mitwirkte.

Umgekehrt kam es auch schon vor, dass ein Kunstwerk von den Institutionen der ästhetischen Meinungsbildung sehr viel schlechter bewertet wurde als von den Fans. Das war etwa 2018 bei „Bohemian Rhapsody“ der Fall. In den großen Zeitungen wurde der Film fast ohne Ausnahme verrissen. Weder das Drehbuch noch der Schnitt konnten professionelle Kritiker*innen überzeugen. „A baroque blend of gibberish, mysticism and melodrama, the film seems engineered to be as unmemorable as possible (…)“, schrieb die New York Times damals. Abseits der Feuilletons schien der Film allerdings hervorragend anzukommen: Auf Letterboxd, Metacritic und IMDB sind die Nutzer*innen-Bewertungen größtenteils positiv. Trotz schlechter Kritiken war der Film ein Kassenerfolg und wurde 2019 sogar mit vier Oscars ausgezeichnet, unter anderem auch als bester Film.

Die Digitalisierung der Rezensionskultur hat nicht nur zu einer größeren Beteiligung geführt. Auch die Machtverhältnisse haben sich verändert. Im Gegensatz zu professionellen Kritiker*innen verfügen einzelne Fans über wenig Autorität. Durch die Leichtigkeit, in den sozialen Medien Gleichgesinnte zu finden, hat die Lai*innenposition mittlerweile jedoch deutlich mehr Gewicht im Diskurs.

Neues Machtverhältnis

Diese Emanzipation der Konsu-
ment*innen wird zum Teil auch von Entwicklungen in der Kulturindustrie begünstigt. Etablierte Verlagshäuser arbeiten mit Influencer*innen zusammen; Künstler*innen sind selbst in den sozialen Medien präsent und tauschen sich dort nicht nur mit ihren Fans aus, sondern geben zudem ihren Kritiker*innen Kontra. Immer wieder kommt es vor, dass Bücher Bestseller sind, noch bevor das Hochfeuilleton auch nur einen Text dazu verfasst hat – ganz einfach, weil die Künstler*innen schon lange Social-Media-Stars sind. Auch Selfpublishing ist mittlerweile keine Seltenheit mehr, sei es auf Social Media, sei es auf Plattformen wie CreateSpace. Auf der Publikationsplattform Wattpad können Texte sogar noch während des Entstehungsprozesses gelesen, besprochen oder weitergeschrieben werden.

CC BY 4.0 by FREE-VECTORS.NET

Als „popkulturelle Dehierarchisierung der Kultur“ bezeichnet der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer diese Entwicklung in seinem Buch „Lesen im digitalen Zeitalter“. Er ist überzeugt, dass die digitalen Umwälzungen den Kunstbetrieb zwar fundamental verändert haben, jedoch nicht auf eine schädliche Weise.

In akademischen und journalistischen Kreisen teilen aber längst nicht alle Lauers Begeisterung über diese Entwicklung. Egal ob es um „Bohemian Rhapsody“ oder Winnetou-Bücher geht: Auf das Totschlagargument, dass die sich auf Social Media äußernden Lai*innen doch eh keine Ahnung von Literatur oder Filmen haben, wird nur ungern verzichtet. Auch hier gilt wieder: Publikumsbeschimpfung ist kein neues Phänomen, durch das Internet hat sie jedoch an Sichtbarkeit gewonnen.

Es ist nachvollziehbar, weshalb Verteidiger*innen des Literaturkanons im Rahmen von Cancel-Culture-Debatten fragen: Worin begründen sie – also die Lai*innen – ihre Richtkompetenz? Wer autorisiert sie? Dahinter steckt die Annahme, dass einzig die etablierte Kritik dazu befähigt ist, Werturteile über Kunstwerke zu fällen und damit nachhaltig auf den Diskurs einzuwirken. Wer so denkt, tut sich zwangsläufig schwer mit der neuen Flut an nicht-professionellen Stimmen. Er oder sie muss sich aber auch zurückfragen lassen, wieso die alten Wertungsinstitutionen weiterhin eine Autoritätsposition genießen sollten.

Wir befinden uns mitten in einem kulturellen Aushandlungsprozess, der auch, aber nicht nur entlang von Generationengrenzen ausgetragen wird. Dem klassischen Rezensionswesen pauschal Abgehobenheit vorzuwerfen, ist ebenso unfair, wie Laienkritiker*innen als unqualifizierten Mob zu diskreditieren.

Sich darüber zu wundern, dass Lai*innen in den sozialen Medien selbstbewusst Kritik an einem Winnetou-Spin-off äußern und darin von einer Institution wie dem Ravensburger Verlag ernst genommen werden, kommt einem Eingeständnis gleich, den kulturellen Wandel nicht wahrhaben zu wollen. Täte man das, würde es nämlich nicht überraschen, dass der Verlag die Kritik der Lai*innen weder ignorierte noch mit den üblichen Totschlagargumenten diskreditierte. Beides wäre dem Verlag ein Leichtes gewesen. Und beides hätte ihm zugestanden. Stattdessen entschied Ravensburger, den Kritik übenden Lai*innen auf Augenhöhe zu begegnen und zuzugeben, einen Fehler gemacht und daraus gelernt zu haben. Der Verlag ist nicht „eingeknickt“, er war nur bereit einen Teil der Macht, die er bisher als Gatekeeperstruktur innehatte, abzugeben.


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