SOZIALVERSICHERUNG: Wer büßt für die Lücken?

Der forsche Umgang der Regierung mit den Finanzen von Pflege- und Krankenversicherung sorgt für Unmut. Finanzierungslücken führen dazu, dass das Solidarprinzip in Frage gestellt wird.

Mal zu viel, mal zu wenig Geld in der Kasse, beides schafft Probleme für Pflegeversicherung und Krankenversicherung. Und beides droht dem zuständigen Minister Carlo Wagner zum Verhängnis zu werden. Bei der Pflegeversicherung übersteigen die angesammelten Reserven die im Gesetz vorgesehene Höchstgrenze. Was tun mit dem Geld? Man hätte es an die ArbeitnehmerInnen zurückgeben können – an der Finanzierung der Pflegeversicherung sind nur Staat und Versicherte, nicht aber die Betriebe beteiligt. Noch vor dem Sommer hatte der Minister auf eine parlamentarische Anfrage geantwortet, es komme nicht in Frage, die Beitragssätze zu senken. Die Regierung plane, die Obergrenze für die Reserven abzuschaffen, weil das Geld in den kommenden Jahren sowieso gebraucht werde.

Schindluder

Die Überraschung folgte dann Anfang vergangener Woche: Carlo Wagner erklärte, die Regierung wolle angesichts des Überschusses in der Pflegekasse ihren Beitrag zeitweilig senken. Das Geld, das für zukünftige Pflegeausgaben gebraucht wird, scheint noch viel dringender für das Stopfen der Löcher des Staatshaushaltes 2004 benötigt zu werden. Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen. Für die LSAP-Opposition sei das Regierungsvorhaben eine Steilvorlage, so ein Kommentar im Luxemburger Wort.

Die Probleme der Krankenkassen sind anderer Natur. Es war kein Geheimnis, dass ihre Finanzierung auf mittlere Sicht nicht abgesichert war. Nun aber bedroht die Finanzierungslücke bereits den Haushalt 2004, der im November verabschiedet werden soll – also noch vor den Wahlen. Richtig Auftrieb bekommen hat die Diskussion im Vorfeld der Generalversammlung der „Union des caisses de maladie“ (UCM), als die Handwerkerföderation Anfang des Monats den hohen Krankenstand bei den Arbeitern als Grund für das Defizit ausmachte. Die Arbeiterkasse ist davon direkt betroffen, weil sie die Lohnfortzahlung vom ersten Krankheitstag an übernimmt, während die Privatbeamtenkasse erst ab dem vierten Monat einspringt.

Das Krankengeld sei eine der Ursachen für das Defizit, bestätigt Robert Kieffer, Präsident der UCM im Gespräch mit der woxx. Analysen hätten eine dramatische Steigerung der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen 1999 und 2002 gezeigt. Zum einen würden, wie während der Krise nach 1974, immer mehr Arbeitnehmer in die Invalidenrente gedrängt. Zum anderen würden immer weniger Invalidenrenten zuerkannt, und die Betroffenen blieben „im Krankengeld hängen“.

Pierre Bley, Generalsekretär der „Union des entreprises luxembourgeoises“ (UEL), spricht gegenüber der woxx von einer Explosion beim „Absentéisme“. Neben der Problematik der Invalidenrenten handle es sich vor allem um kurze Krankmeldungen von jungen Arbeitnehmern – da werde Schindluder mit der Krankenversicherung getrieben. Pierre Bley fordert, diesen Missbrauch zu thematisieren und schärfer zu kontrollieren. Robert Kieffer sieht das ähnlich. Er verweist auf einen von ihm verfassten Bericht: „Ich habe geschrieben, wo es keine Kontrolle gebe, werde das ungerechtfertigte Krankschreiben zur Normalität.“ Zwar verfüge die UCM nicht über die Informationen, welche Ärzte wie viel krankschrieben, doch die Arbeiterkasse könne dies nachvollziehen.

Wagners Liste

Das scheint sie mittlerweile zu tun. René Pizzaferri, Mitglied des OGBL-Exekutivkomitees, berichtet von einem Brief des Ministeriums, der die Kontrollbehörde anweise, die von zwölf ausgesuchten Medizinern vorgenommenen Krankschreibungen ins Visier zu nehmen. Der Gewerkschafter bezeichnet dies als „Hexenjagd“. Von der Maßnahme seien nur die Krankmeldungen der Arbeiter betroffen, und sie richte sich nur gegen die Patienten. „Sanktionen für Ärzte gibt es nicht, selbst in Fällen, in denen die Kontrollbehörde Krankenscheine für ungültig erklärt“, so René Pizzaferri. Dass es bisher keine Kontrollen gegeben habe, sei falsch – bei 340.000 Krankmeldungen im Jahr ermittle die Behörde in etwa 15.000 Fällen. Auch bei den Privatbeamten, so der Gewerkschafter, steige die Zahl der Krankmeldungen – das liege am sich verschlechternden Betriebsklima. Was das Invaliden-Krankengeld angeht, so ist er optimistisch: Wenn die neue Regelung erst greife, sei mit einem Rückgang der lang andauernden Krankmeldungen zu rechnen.

Doch nicht nur beim Krankengeld, auch bei den Sachleistungen wie Medikamente, Arztbesuche und Spitalaufenthalte öffnet sich die Schere zwischen dem Beitragsaufkommen und den Kosten. „Das Loch in der Kasse wäre schon längst größer, doch es wurde durch den Zuwachs an Grenzgängern kaschiert“, erklärt Robert Kieffer. „Deren Beitragsvolumen steigt schneller als ihre Ausgaben, die ja von der Gesundheitspolitik in den Nachbarländern mitbestimmt werden. Durch die Krise profitieren wir heute weniger stark von diesem Grenzgänger-Bonus.“

Hinzu komme der Ausbau im Spitalwesen. Dabei tragen die Krankenkassen 20 Prozent der Investitionskosten und die Gesamtheit der Folgekosten. „Neue Kliniken, sechs Magnetresonanz-Tomografen statt wie bisher nur einer, mehr Personal – das kostet Geld. Dafür soll die Leistung besser werden, hoffentlich“, sagt Robert Kieffer. Schließlich stiegen auch die Arzneimittelpreise für bessere, aber viel teurere Produkte und die Arzttarife – unter anderem als Ergebnis der Verhandlungen zwischen Ärztevereinigung und Gesundheitsministerium. Minister Carlo Wagner, dessen Standpunkt in dieser und anderen Fragen die woxx gerne dargelegt hätte, hatte bis Redaktionsschluss auf unsere Anfrage nicht reagiert.

Die Kritik seiner Partei an der Regierung dürfe nicht missverstanden werden, warnt der LSAP-Abgeordnete Mars di Bartolomeo. Maßnahmen, die zu einer Verbesserung der Versorgung führten, seien begrüßenswert, doch man solle vorher über ihre Finanzierung nachdenken. Alle paar Jahre werde sonst erneut festgestellt, dass Geld fehle. „Dann wird vorgeschlagen, Spareffekte durch Leistungsverschlechterungen zu erzielen. Dabei ist die Bevölkerung durchaus bereit, mehr zu zahlen für bessere Leistungen.“

Solidaritäten

Dass man auf mittlere Sicht die Gesundheitsausgaben einfrieren könnte, glaubt Robert Kieffer nicht: „Qualität und Kosten werden weiter steigen.“ Mehr Eigenbeteiligung der Patienten könne, in kleinen Dosen, helfen, das Solidaritätsprinzip ins Bewusstsein zu rufen. „Was aber alle Studien zeigen, ist, dass der Effekt auf das Konsumverhalten gering ist. Schlimmer noch, wenn sozial Schwächere wegen der hohen Eigenbeteiligung nicht mehr zum Arzt gehen, hat das desaströse Spätfolgen für ihre Gesundheit und damit für die Krankenkassen“, warnt Robert Kieffer.

Der Unternehmervertreter Pierre Bley sieht das anders: Eine Eigenbeteiligung sei unvermeidbar. Zur Gegenfinanzierung des Krankengeldes verlangt er die Einführung von Karenztagen oder von Abschlägen bei der Lohnfortzahlung. Aber auch bei den Sachleistungen müssten neben dem Staat die Beitragszahler zur Deckung des Defizits beitragen. Beitragserhöhungen dagegen, die zur Hälfte von den Betrieben bezahlt werden, kommen für Pierre Bley nicht in Frage. Die Tripartite habe das ausgeschlossen. „Die Wirtschaft ist bereits jetzt überbelastet. Der Standort Luxemburg muss attraktiv bleiben. Bevor Geld verteilt werden kann, muss es erwirtschaftet werden. Es sind die Betriebe, die den Reichtum schaffen.“

„Falsch“, sagt René Pizzaferri, „es ist vor allem das soziale Netz und die Kaufkraft, die den Wohlstand aufrecht erhalten.“ Sowieso seien die Sozialbeiträge in Luxemburg viel niedriger als in den Nachbarländern. Wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichten, müsse man statt Leistungsminderungen Beitragserhöhungen ins Auge fassen – die gehorchten nämlich dem Solidarprinzip. Dabei hätten die Betriebe ihren 50-Prozent-Anteil zu erbringen. „Es war Jean-Claude Juncker, nicht aber die Gewerkschaftsvertreter, der in der Tripartite Mehrkosten für die Betriebe ausgeschlossen hat.“

Mars di Bartolomeo sieht das gelassener: „Eine 50-zu-50-Parität gibt es sowieso nicht, wenn man die teilweise recht hohen Eigenbeteiligungen einbezieht. Wenn den Betrieben die Luft ausgeht, wird man andere Finanzierungsmittel suchen müssen, zum Beispiel die Erhöhung der Tabaksteuer.“ Wenn andere Maßnahmen nicht ausreichten, müsse man die Beiträge erhöhen, mit oder ohne Parität. „Aber nur, wenn damit sichtbare Leistungsverbesserungen einhergehen. Die Absicherung der Zahnmedizin zum Beispiel ist unzureichend. Wer ein Gebiss benötigt und kein Geld hat, wird mit ‚hölzernen‘ Zähnen abgefertigt – eine regelrechte Zweiklassenmedizin. Da gibt es noch viel Spielraum.“


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