CSV-FRAKTION: Das Ende einer Volkspartei

Die Ernennung des ehemaligen Bankenlobbyisten Lucien Thiel zum Fraktionschef beendet eine Epoche christlich-sozialen Selbstverständnisses.

Lucien Thiel

Als Lucien Thiel zur Überraschung vieler 2004 für die CSV in die Wahlen zog, gab er er sich ganz bescheiden und beteuerte, sich nur auf Drängen Jean-Claude Junckers der neuen Herausforderung gestellt zu haben. Eigene politische Gelüste hätten ihn, den ehemaligen Journalisten und späteren ABBL-Direktor, nicht geplagt. Nun steigt aber niemand mit 62 Jahren in die Politik ein, um als Hinterbänkler stundenlang die Tagespresse nach Bildern mit dem eigenen Antlitz zu durchforsten. Nein, Thiels Job war klar – nämlich dem liberalen Banker-Milieu deutlich zu machen, in welcher Partei die Wirtschafts- und vor allem Finanzkompetenz sich bündelt. Außerdem galt es, im harten parlamentarischen Tagesgeschäft die vielen geplanten Gesetze, die den Finanzplatz gegen die mannigfachen Attacken der neidischen Konkurrenz abschirmen sollten, möglichst reibungslos durchzubringen. Die Liste der von Lucien Thiel wenn nicht verfassten, so doch erläuterten Kommissionsberichte zu den verschiedenen Finanzgesetzen ist lang. Und dass er in der relativ kurzen Zeit seiner Parlamentszugehörigkeit schon zweimal als Budgetberichterstatter fungierte, macht deutlich, dass er es nicht darauf anlegt hatte, eine ruhige Kugel zu schieben.

Junckers Rechnung bei dem Coup von 2004 ging voll auf: Die DP wurde dezimiert, was die Rückkehr des „natürlichen“ Koalitionspartners LSAP gestattete. Doch auch wenn es für die CSV nicht ungewöhnlich ist, dass als fähig eingeschätzte Leute gezielte Förderung erfahren, statt zur Ochsentour durch die Parteinstanzen und die Bierzelte gezwungen zu werden, so war der Quereinstieg von Thiel doch ungewöhnlich. Es ging hier nicht um den Beginn einer vielversprechenden Karriere, sondern um ihren krönenden Abschluss. Und: Der Kandidat musste sich nicht erst einem Streamlining aussetzen, um parteikompatibel zu werden. Das war bei seinem Vorgänger im Amt, Jean-Louis Schiltz, noch anders. Obwohl Schiltz als Parteigeneralsekretär viel für die interne Organisation und für den Wahlkampf gearbeitet hatte, wäre ihm 2004 der politische Zug fast davongefahren, weil ihn seine Sektion erst gar nicht aufstellen wollte. Im letzten Moment hievte ihn die Parteiführung doch noch auf die CSV-Liste. Ähnlich wie seinerzeit Jean-Claude Juncker landete er nach gewonnener Wahl sofort im Kabinett und ersparte sich so die parlamentarische Zwischenetappe. Zumindest für eine Legislaturperiode, wie wir inzwischen wissen.

Dass Thiel jetzt aus seiner Sonderstellung heraus „par acclamation“ zum Fraktionschef ernannt wird, bedeutet in mehrfacher Sicht einen Bruch mit der CSV-Tradition. Er kommt, wie erwähnt, nicht aus dem Apparat und hat auch kaum an der Basis Dienst tun müssen. Zwar betreibt er mittlerweile auch Gemeindepolitik, doch hält sich seine Begeisterung für die Oppositionsarbeit im hauptstädtischen Gemeinderat in Grenzen. Als Spitzenkandidat für den Bürgermeisterposten steht er jetzt ohnehin nicht mehr zur Verfügung.

Paradoxerweise kommt dem jetzt 68-Jährigen die Aufgabe des Erneuerers zu. Auch wenn er selber beteuert, seine Rolle in der des Vermittlers zwischen dem Gewerkschafts- und dem Wirtschaftsliberalen-Flügel der Partei zu sehen, so hat sich die Dramaturgie doch gewandelt. Es geht nicht mehr darum, die Interessen der beiden Flügel per Konsens unter einen Hut zu bringen, sondern den nunmehr klaren Wirtschaftskurs der CSV bis in den linken Flügel hinein zu stabilisieren. Thiel ist keiner, der ein Blatt vor den Mund nimmt. Und wenn die haushaltspolitischen Appelle, die er in den letzten Jahren immer wieder in der Abgeordnetenkammer vom Stapel ließ, mehr als bloße Rhetorik waren, dann wird er in den nächsten Monaten sicherlich in nur eine Richtung „vermitteln“. Jean-Louis Schiltz war wohl an der widerspruchsvollen und zudem unfreiwilligen Vermittlungsaufgabe gescheitert – Thiel dürfte ein weniger komplexes Verständnis von seinem Auftrag haben.


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