Besser als gar nichts sagen die einen, eine Niederlage für das Europa-Parlament die andern. Reach fasst 40 bisherige Rechtstexte in einer Verordnung zusammen und lässt der Industrie viel Spielraum.
Am Ende stimmten 529 dafür, 96 dagegen und 24 enthielten sich. Als am Mittwoch vor einer Woche das Europaparlament über die Reach-Verordnung für Chemikalien abstimmte, ging ein jahrelanger zäher Kampf zu Ende. Tausende von Änderungsanträgen wurden verfasst, seitdem die Kommission das Regelpaket der Reach-Verordnung (Registration, Evaluation, Autorisation of Chemicals) vor drei Jahren präsentierte. Die Verordnung sieht vor, dass alle Substanzen, von denen pro Jahr mehr als eine Tonne produziert oder importiert werden, in einer zentralen Datenbank registriert werden. Künftig muss die Industrie und nicht wie bislang die Behörden den Nachweis über ihre gesundheitlichen Folgen liefern. Eine europäische Chemie-Agentur soll die Daten verwalten und ebenfalls für Bewertungen und Genehmigungen zuständig sein.
Heftiger Streit
Im Ministerrat hatte sich vor allem Deutschland bei der Ausarbeitung strenger Kriterien quergestellt. Nun habe sich auch das Parlament der Lobby der Chemieindustrie gebeugt, so das enttäuschte Fazit der Fraktion der Europäischen Grünen, die zusammen mit der Fraktion der Vereinigten Linken gegen das Projekt stimmt. Ihr Hauptkritikpunkt deckt sich mit dem der Umweltschutzverbände. Der Kompromiss, der vor zwei Wochen zwischen den beiden großen Fraktionen des Parlaments, der Kommission und dem Ministerrat ausgehandelt wurde, sei „eine Schande“, kommentiert etwa der World Wide Fonds for Nature das nun vorliegende Gesetz. Der Wille, gefährliche Stoffe konsequent durch andere zu ersetzen, sei nicht vorhanden. Tatsächlich gilt das Ersatzprinzip nur für Chemikalien, die persistent in der Umwelt sind, also dort nicht abgebaut werden. Die Bestimmungen für andere krebserregende und erbgutgefährdende Stoffe sind weniger strikt. Diese dürfen immer noch zugelassen werden, wenn die Hersteller eine „adequate Kontrolle“ mittels einer Risikobewertung nachweisen können. Das heißt, dass Wissenschaftler bestätigen, dass die Stoffe, so lange sie einen gewissen „Schwellwert“ nicht überschreiten, keine Gefahr für die Gesundheit darstellen. Dass dies selbst dann gilt, wenn Alternativen vorhanden sind, stößt auf Unverständnis. In diesem Fall müssen die Unternehmen lediglich einen Substitutionsplan vorlegen, die Frist wird für jede Substanz individuell festgelegt.
Praktische Auswirkungen unklar
„Eines der fortschrittlichsten Chemikaliengesetze der Welt“, hatte einst Umweltkommissarin Margot Wallström gejubelt, als die Kommission im Oktober 2003 die Verordnung vorlegte. Auch der damalige Industriekommissar stand hinter der Gesetzesvorlage: Reach sei ein „tragfähiger Kompromiss zwischen Gesundheits- und Umweltschutz einerseits und Wachstum und Beschäftigung andererseits“, so damals Erkki Liikanens optimistische Prognose. Doch die radikale Reform des Umgangs mit chemischen Substanzen löste einen der heftigsten Streits aus, die es jemals um die Neu-Definition einer politischen Richtung in der Europäischen Union gegeben hat. Im Zuge der Verhandlungen wurden die Bestimmungen zunehmend verwässert und die Einigkeit zwischen Umwelt- und Industriekommission schwand dahin. Doch statt den Konflikt offen auszutragen, schwieg sich die Kommission darüber aus. Um wirklich auf dem Gipfel des Berges zu stehen, unterstrich Umweltkommissar Stavros Dimas während der Parlamentsdebatte, hätte er manche Punkte gerne strikter im Kompromiss verankert gesehen.
„Wir haben zweifellos etwas Wasser in unseren Wein schütten müssen“, kommentiert auch Berichterstatter Guido Sacconi den Kompromiss. „Das Wichtigste ist jedoch, dass wir nun eine Regelung haben“, so der italienische Sozialdemokrat am Dienstag vor einer Woche in Straßburg. Auch Greenpeace zieht eine zumindest teilweise positive Bilanz: Immerhin seien die Unternehmen nun gezwungen, die Sicherheit ihrer Substanzen nachzuweisen, bevor sie diese auf den Markt bringen. Doch die Lücken in den Nachweisverfahren sehen neben Greenpeace auch konservative EU-ParlamentarierInnen. Es sei zu bedauern, betonte etwa die Luxemburgische CSV-Abgeordnete Erna Hennicot-Schoepges, dass für die 17.000 Stoffe, die in einer Quantität von einer bis zehn Tonnen produziert werden, keinerlei Sicherheitsnachweis von der Industrie geliefert werden muss. Zugeständnisse gab es bei der Frist für die Veröffentlichung der Zusammensetzung neuer Chemikalien, die in größeren Mengen produziert werden: Sie wurde von ursprünglich drei auf sechs Jahre verlängert.
Die Lobbyarbeit der Chemieindustrie in Brüssel und Straßburg war aufwendig. Kein Wunder, der Einsatz ist hoch: Europäische Unternehmen produzieren 31 Prozent der Chemikalien auf dem Weltmarkt, das sind drei Prozent mehr als die USA. Sie beschäftigen 1,7 Millionen Menschen. Diese Zahl sowie die weiteren drei Millionen Jobs, die von der Branche abhängen, brachten die Konzerne gerne ins Gespräch, wenn sie ihre Kritik am Reformvorschlag der Kommission zur aktuellen Gesetzgebung für chemische Substanzen äußerten. Reach sei zu bürokratisch und führe dazu, dass die europäischen Unternehmen im internationalen Konkurrenzkampf geschwächt werden. Gestritten wurde vor allem über die Kosten für die Umsetzung der Verordnung. Der Kommission nach werden sie sich auf 2,8 bis 5,2 Milliarden Euro belaufen. Die Industrie gab ihrerseits Studien in Auftrag, denen zufolge weitaus höhere Ausgaben auf sie zukommen würden.
Wie sich Reach in der Praxis auswirken wird, ist bislang auch den Experten noch unklar. „Es ist durchaus möglich“, so der Industriekommissar Günther Verheugen im Europaparlament, „dass der größere Teil der Schwierigkeiten noch vor uns liegt“. Dies sei ein Gesetz, „das in seiner Anwendung noch sehr viel Aufmerksamkeit, Kreativität und Energie erfordern wird“. Vieles wird davon abhängen, wie schnell und effektiv die künftig zuständige Chemikalien-Agentur in Helsinki arbeitsfähig sein wird. Reach betrifft etwa 30.000 chemische Substanzen, die Verordnung wird voraussichtlich ab dem 1. Juni 2007 in Kraft treten.