EU-KRISE: Strukturreformen, gewusst wie

Eine Folge der Krise ist, dass nicht der Markt, sondern der Staat an Einfluss verliert. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen die Staaten in die Lage versetzt werden, zu investieren, folgert Peter Bofinger.

„Die Krise war ein globales Phänomen und sie ist ein Problem der Bankenaufsicht. Sie ist aber auch ein Problem der Wirtschaftswissenschaft: In den Standardlehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften haben die Banken oft nur eine reine Durchleitungsfunktion; dass sie aber im großen Stil Kredite schaffen und damit riesige Blasenprozesse in Gang setzen, kommt nicht vor“, so Peter Bofinger, Mitglied im Rat der Wirtschaftsweisen der Bundesregierung. Er gilt als der führende Vertreter einer nachfrageorientierten Wirtschaftswissenschaft in Deutschland und vertritt damit eine Minderheitenposition. Eingeladen hatten ihn in dieser Woche der Europaabgeordnete Claude Turmes und Déi Gréng zu einer Konferenz mit dem Titel „Der Euro am Scheideweg! Wie kann der Euroraum vor dem deutschen Sparkurs gerettet werden?“. Im Anschluss gab es eine Diskussion mit Jean-Jacques Rommes, Vorsitzender der Bankenvereinigung ABBL, Jean-Claude Reding, Präsident des OGBL und François Bausch, Abgeordneter der Grünen.

Seit Juni 2012 stabilisiere sich die Finanzsituation in der EU, so Bofinger. Ein Beleg hierfür sei der Rückgang der Kapitalflucht in den Krisenländern. Dennoch sei die Krise mit ihren drei Komponenten – der Banken-, der Staatsschulden- und der makroökonomischen Krise – längst nicht überwunden. Die derzeitige Rezession erschwere das Bankgeschäft, die Einkünfte der Staaten seien gering, es würden kaum Kredite gewährt und Investitionen getätigt, die Arbeitslosigkeit sei gestiegen. Zudem sehe die OCDE keine positiven Veränderungen auf makroökonomischer Ebene voraus.

Nicht einverstanden ist Peter Bofinger mit der erzwungenen Reduktion der Staatsdefizite. Diese Herangehensweise erinnere an die Sparmaßnahmen der Weimarer Republik unter Reichskanzler Heinrich Brüning, die letztlich zu Preisverfall, einem Schrumpfen des Bruttoinlandprodukts und zu der Explosion der Arbeitslosigkeit der 1930er Jahre geführt hätten. Um aus der jetzigen Krise herauszukommen, müssten die Privaten mehr investieren und die Staaten ihre Einnahmen erhöhen, die Europäische Zentralbank (EZB) müsse aktiver werden und mehr Wertpapiere kaufen. „Statt die Löhne herabzusetzen müssen die Krisenstaaten stärker investieren“, fordert Bofinger.

Allerdings setze hier die Wirkung der ökonomischen Bremse ein, die den Staaten durch den budgetären Pakt aufgezwungen wurde. Auch für die Finanzierung der Renten habe das katastrophale Folgen, da die Ersparnisse und die Rentenreserven nicht investiert werden könnten. Die Inflation zerstöre den Wert der Ersparnisse, und das Geld werde außerhalb Europas investiert. Lebensversicherungen oder andere private Vorsorgemodelle würfen immer weniger ab, da die meisten dieser Anlagen letztlich vom Vorhandensein sicherer Staatsanleihen abhingen – und dieses Angebot eben in den vergangenen Jahren dramatisch geschrumpft sei. Beispiel: Eine Person, die eine Million Euro fürs Alter zurückgelegt hat, habe bisher geglaubt, auf diesen Betrag vier Prozent Zinsen zu bekommen, also 40.000 Euro im Jahr. Jetzt müsse sie feststellen, dass es in zehn Jahren vielleicht nur noch 15.000 Euro sind. „Und was macht diese Person? Sie spart noch mehr. Das ist ein Teufelskreis“, so Bofinger. „Statt dass Unternehmen und Verbraucher mehr Geld investieren und konsumieren, wird verschärft gespart.“ Letztlich werde die Krise des Marktes nicht dazu führen, diesen einer stärkeren Kon-trolle durch den Staat zu unterwerfen. „Das, was in den Ländern unter dem Titel Strukturreform gemacht wird, ist letztlich nichts anderes, als die Arbeitnehmerrechte massiv zu reduzieren“, so Bofinger. Strukturreform bedeute, den Kündigungsschutz und die Arbeitslosenversicherung zu beschneiden, die Allgemeinverbindlichkeit von Tariflöhnen zu schwächen und die Mindestlöhne abzusenken. „Strukturreform heisst, den Staat, wo es geht, zurückzudrängen“, so der Wirtschaftsexperte.


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