Klingt gut, diese Gemeinwohl-Theorie, aber ist sie mehr als nur ein Wunschtraum? Um das herauszufinden, lassen sich Unternehmen wie Oikopolis an den Maßstäben des Modells messen.
Bio ist gut, oder? Gemeint ist nicht, dass Bio besser – oder einfach nur anders – schmeckt. Bioprodukte tun der Umwelt und den Menschen auf vielerlei Weise gut. Reicht das, um die Welt zu verändern? Im Angesicht der Systemkrise, von der die Finanzkrise nur ein Teil ist, machen viele politische Denker umfassendere Vorschläge. Zum Beispiel Christian Felber, der für eine Gemeinwohl-Ökonomie statt eines auf Profit ausgerichteten Wirtschaftssystems plädiert (woxx 1294). Auch Unternehmen aus der Biobranche, wie etwa Oikopolis, versuchen, über die reinen Umwelt- und Gesundheitskriterien hinauszudenken.
Kein Wunder also, dass die Oikopolis-Gruppe – unter anderem die Naturata-Läden und der Biogros-Großhandel – als erstes Unternehmen in Luxemburg eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt und sie einem Zertifizierungsverfahren unterzogen hat. In einer solchen Bilanz werden nicht nur „Sinn und gesellschaftliche Wirkung“ oder „ökologische Gestaltung“ der Produkte bewertet, sondern auch Aspekte wie „Arbeitsplatzqualität und Gleichstellung“ oder „gesellschaftliche Transparenz und Mitbestimmung“. Damit geht sie weiter als die üblichen Waren- und Verfahrens-Label für Ökoprodukte, fairen Handel oder Nachhaltigkeit im allgemeinen.
Änder Schanck, Geschäftsführer von Oikopolis, berichtet im Gespräch mit der woxx von der Suche nach Bewertungsmethoden für die Nachhaltigkeit: „Wenn wir uns mit ‚normalen` Unternehmen in dieser Hinsicht vergleichen, stellen wir fest, dass wir schon viel weiter sind – bei vielen bedeutet Nachhaltigkeit nichts weiter als auf Recyclingpapier zurückzugreifen.“ Im vergangenen April hat Oikopolis so locker den „Green Team of the Year“-Preis abgestaubt – bildet sich darauf aber nicht wirklich was ein. Bereits 2013 war ein Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht worden, der unter anderem den CO2-Fußabdruck der Gruppe dokumentierte.
Politisch wirtschaften
Patrick Kolbusch, leitender Mitarbeiter bei Biogros, war 2012 eher zufällig bei einem Vortrag Christian Felbers in Deutschland dabei: „Mir hat gleich gefallen, dass er den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Und dass er sowohl unternehmerisch als auch politisch denkt.“ Ein halbes Jahr später wurde der Autor von Oikopolis eingeladen. Der Vortrag war ein Erfolg, allerdings zeigte sich danach, dass die Meinungen zu der Frage, ob man sich weiter mit der Gemeinwohl-Bewegung einlassen solle, auseinandergingen. Innerhalb der Oikopolis-Gremien waren manche durch die zum Teil sehr linke Verortung Felbers abgeschreckt. Dennoch bildete sich eine Gruppe um Patrick Kolbusch und den Praktikanten Clemens Lageder, die die Idee einer Gemeinwohlbilanz vorantrieb.
Nachdem Felber im Mai 2014 nochmals in Luxemburg aufgetreten war und dabei diverse Punkte geklärt werden konnten, wurde beschlossen, die Bilanzierung durchzuführen. Einmal für die Idee gewonnen, entschied sich Oikopolis für das volle Programm: Erstellung einer vollwertigen Gemeinwohl-Bilanz, externes Audit und anschließende Veröffentlichung. Gewiss, die Bezeichnung „Kommunist“, die Felber von seinen Gegnern angehängt wird, stimmte die als Vermarktungsinitiative für Biolandwirte entstandene Struktur etwas misstrauisch. Doch eigentlich ist der Ansatz von Oikopolis, vom Produzenten bis zum Konsumenten kooperativ zu wirtschaften, eine ziemlich radikale Absage an das Dschungelgesetz der freien Marktwirtschaft. „Die Landwirtschaft, insbesondere die Biolandwirtschaft, ist gefangen in einer falsch gepolten Wirtschaftsweise“, stellt Änder Schanck fest. „In der gesamten Branche wird überlegt, wie man anders wirtschaften könnte.“
In einer ersten Phase hatte die Gemeinwohl-Gruppe hausintern einen Bericht verfasst und eine Bewertung vorgenommen. Dabei wurde zu 17 verschiedenen Indikatoren eine Einschätzung abgegeben und eine Note zwischen 0 und 100 Prozent erteilt (siehe www.ecogood.org). Die beiden Auditorinnen kamen dann für zwei Tage nach Luxemburg, um die Bewertung zu überprüfen. Gruppenweise wurden Mitarbeiter zu den einzelnen Themen interviewt, bevor die endgültige Benotung erfolgte. „Sie haben uns ganz schön auf den Zahn gefühlt“, erinnert sich Änder Schanck. Am Ende stand dann eine positive Überraschung: In den meisten Bereichen war die externe Bewertung günstiger als die eigene ausgefallen. Die Oikopolis-Gruppe erreichte 633 von 1000 möglichen Punkten und steht damit im internatinalen Vergleich eher gut da. „Normale“ Unternehmen dürften – bedingt durch Punktabzüge für Negativkriterien – um Null liegen, richtig hohe Ergebnisse sind im herrschenden Wirtschaftssystem kaum zu erzielen. Immerhin, mit 633 Punkten käme Oikopolis – bei Anwendung eines Vorschlags von Felber – in den Genuss eines ermäßigten TVA-Satzes von 20 Prozent statt der 60 und mehr Prozent, die bei „gemeinwohl-neutralen“ Firmen anfielen.
Fair für alle Beteiligten
Erwartungsgemäß schneidet die Oikopolis-Gruppe, die dieses Jahr das 25-jährige Jubiläum der Biovermarktung in Luxemburg feiert, beim Indikator „Ökologische Gestaltung der Produkte“ gut ab. Beim „ethischen Beschaffungsmanagement“ wird sogar das höchste Teilergebnis von 80 Prozent erreicht. „Eigentlich sind wir ja nicht angetreten, um möglichst viele Bioläden zu eröffnen, sondern um den Absatz der Produkte von Biobauern abzusichern“, unterstreicht Schanck. Spannender sind die Fragen nach der „ethischen Kundenbeziehung“ und der „Solidarität mit Mitunternehmen“: Hier geht es darum, wie sich Oikopolis zu den Auswüchsen des Konsumwahns und mit ihm verbundenen Phänomenen wie Supermärkten und Werbung positioniert.
„Ganz klar, wir legen mehr Gewicht auf die Information als auf das Marketing“, sagt Schanck. „Wichtig ist, die Wertigkeit der Produkte zu betonen.“ Mit Marketing meint er die Praxis, die Verkaufspreise zu senken, um die Verkaufszahlen zu erhöhen – was dann einen Preisdruck auf den Lieferanten erzeugt. Oikopolis organisiert „Marktgespräche“, bei denen Produzenten, Händler und Konsumenten sich über Produkte, Quantitäten und Preise verständigen. „Ziel ist nicht Gewinnmaximierung, sondern der Erfolg der gesamten Wertschöpfungskette sowie die Erfüllung des Bedürfnisses der Kunden nach hoher Bioqualität“, heißt es im Audit. Betriebsintern werden problematische Kundenwünsche, wie die nach Süßigkeiten oder Convenience-Produkten, nicht automatisch akzeptiert sondern kritisch diskutiert. Was das Geschäftsmodell Supermarkt angeht, so kam seinerzeit, vor 20 Jahren, die Partnerschaft mit der Handelskette Cactus nur zustande, weil diese einen speziellen Fachhandelsvertrag unterschrieb. Dieser garantiert faire Preise für die Produzenten und verhindert mittels fester Stückpreise Dumping-Effekte. „Wir wollen die kleinen Läden schützen“, erklärt Schanck.
Fair sind auch die Löhne: Die innerbetriebliche Bruttoeinkommensspreizung liegt bei eins zu drei – „vorbildlich“ befindet das Audit. Allerdings wird das Teilergebnis unter „gerechte Einkommensverteilung“ durch die mangelnde Transparenz belastet – in Felbers Modell werden die Löhne idealerweise veröffentlicht und sogar gemeinsam festgelegt. Bei der „Gemeinwohl-orientierten Gewinnverteilung“ ergibt sich ein ähnliches Bild: Ein Großteil des Gewinns wird – im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie – an Mitarbeiter ausbezahlt, nur etwa zehn Prozent in Form von Dividenden an externe Aktionäre. Doch dem steht eine negative Bewertung der Höhe der Dividenden gegenüber: Zwar sollen diese offiziell nur dem Inflationsausgleich dienen, doch in der Praxis lagen sie laut Auditorinnen im 5-Jahres-Durchschnitt ein Stück höher.
Konstruktiv kontrovers
Obwohl, wie Änder Schanck betont, die Gemeinwohl-Bilanz dem Oikopolis-Leitbild am nächsten kommt, gibt es in bestimmten Punkten „abweichende Überlegungen“. So wird bemängelt, dass das Kriterium „Beitrag zum Gemeinwesen“ zwischen Wirtschaft und Gemeinwohl trennt statt das tägliche gesellschaftliche Wirken von Firmen wie Oikopolis zu valorisieren. Schanck gibt sich entschieden: „Wir wollen nicht, wie andere, den Gewinn auf Kosten der Bauern optimieren und uns danach einen ‚Ablass` kaufen, also mittels Spenden für soziale Zwecke unser Image verbessern.“ Das von Rudolf Steiners Theorien inspirierte Leitbild der Oikopolis-Gruppe beinhaltet assoziatives Wirtschaften, um „unternehmerische Initiative mit solidarischem Handeln zu vereinen“.
In puncto innerbetriebliche Demokratie setzt Oikopolis auf eine „ausgeprägte Gesprächs- und Versammlungskultur“ sowie Mitarbeitergespräche und Fortbildungen. Aber: „Der Begriff Entscheidungsbeteiligung bedeutet für uns nicht, dass die Entscheidungen demokratisch durch Abstimmung herbeigeführt werden, sondern, ähnlich wie in den Assoziationsgedanken Steiners, stehen Bewusstseinsbildung über die jeweiligen Bedürfnisse und Konsensbildung im Vordergrund.“ Man könne das Recht auf Mitbestimmung nicht von der Bereitschaft trennen, Verantwortung zu übernehmen, so das Argument.
Entscheidungen wie die über Öffnungszeiten, die von der woxx angesprochen wurden, werden in den Läden selber getroffen. Auch das Ansuchen eines Großkunden, die Bäckerei sonntags zu betreiben, sei an die betroffene Struktur weitergeleitet worden. „Für die Direktion war das nicht mehr als eine Option, wir mussten das nicht machen“, versichert Änder Schanck. Und: „Wenn es da Beanstandungen gegeben hätte, wüssten wir’s.“
Diese Herangehensweise mag manchen als eine Art „partizipativer Paternalismus“ erscheinen. Im Oikopolis-Nachhaltigkeitsbericht heißt es, „einseitiges gewerkschaftliches Denken und eine nur davon geleitete Mitarbeitervertretung [führe] eher zu einer Polarisierung vermeintlich opponierender ‚Parteien` als zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit“. Klar ist in der Tat, dass eine neue Form des Wirtschaftens auch die Frage der Regelung sozialer Konflikte neu stellen muss – Unternehmen als reine Lohn-Erwirtschaftungsmaschinen zu sehen, ist sicher nicht im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie. Allerdings geht Felbers Modell von der Würde des einzelnen Menschen und dem Gleichheits-Prinzip aus, weshalb man beim Erstellen der Gemeinwohl-Bilanz Basisdemokratie und gewerkschaftliche Mitbestimmung wohl nicht so einfach vom Tisch wischen kann.
Was war das Interessanteste am Bilanz-Ergebnis? „Eigentlich war es gerade nicht das Ergebnis“, meint Patrick Kolbusch, „am wichtigsten waren der Prozess der Bilanzierung und die spannenden Diskussionen, wie wir arbeiten, Entscheidungen treffen und mit unseren Partnern umgehen.“ Natürlich soll das Ergebnis in Form einer Broschüre veröffentlicht werden, was nicht zuletzt auch helfen soll, das Gemeinwohl-Modell zu verbreiten. Zuerst aber feiert die Unternehmensgruppe sich selbst am kommenden Dienstag in Mamer mit einer „Séance académique“ mit Ministerreden, musikalischen Intermezzi und Buffet. Dabei wird, neben der guten Gemeinwohl-Punktzahl, das Gefühl, sich immer noch weiterentwickeln zu können, das Selbstbewusstsein von Oikopolis-Führung und -Belegschaft stärken.