Das Kulturministerium präsentiert Inklusion und Barrierefreiheit als Prioritäten. Während die Regierung die gesetzliche Messlatte hochlegt, fordert die unabhängige Kulturszene einen schnelleren Fortschritt.

Die Journalistin und Komikerin Jessica Kathryn Bauldry (Bild) hat eine Petition für barrierefreien Zugang zu allen Kulturveranstaltungen gestartet. (Foto: Privat)
Wenn Benny J. sich auf den Abend einer Show vorbereitet, geht es ihm wie den meisten anderen Dichter*innen, Erzähler*innen und Stand-Up-Komiker*innen. Sein Herz schlägt schneller, wenn er an den Moment denkt, bei dem die Scheinwerfer der kleinen Bar-Bühne auf ihn gerichtet werden. Im Kopf geht der gelernte Fotograf nochmal seinen Text durch. Gelingt es ihm, nicht nur mit seinen Bildern, sondern auch mit seinen Worten zu fesseln? Eine weitere Sache ist da aber auch noch, die ihn von den anderen Vortragenden unterscheidet: Benny lebt mit einer seltenen Erkrankung, die ihm immer mehr seiner Mobilität nimmt. Zurzeit bewegt er sich in einem Rollstuhl fort. Für ihn gehört zur Vorbereitung also auch die entscheidende Frage: Komme ich überhaupt in die Bar rein? Und wenn ja, schafft es mein Rollstuhl auch auf die Bühne?
„Es hat mich wirklich schockiert, wie unzugänglich die meisten privaten Kulturorte in Luxemburg-Stadt sind. Während die größeren, staatlich geförderten Einrichtungen wie das Mudam oder die Museen in der Regel die gesetzlichen Standards für Barrierefreiheit erfüllen und hilfreiche Informationen online bereitstellen, versagen fast alle privaten Veranstaltungsorte“, so Bennys Fazit. „Es ist frustrierend und entmutigend. Jeder Ausflug beginnt für mich mit Recherche – ich prüfe, ob der Ort barrierefrei ist, wie ich dorthin komme, ob es Informationen online gibt – und am Ende finde ich oft absolut nichts Nützliches oder Zugängliches.“ Dann ist er auf Hilfe von außen angewiesen.
Initiative gegen Unzugänglichkeit
Das Problem der unzugänglichen Kulturszene kennt Jessica Kathryn Bauldry mittlerweile nur zu gut. 2022 gründete die Journalistin und passionierte Stand-Up-Komikerin den „Frilly Curtains Comedy“ mit dem Ziel, ein niedrigschwelliges und inklusives Angebot zu schaffen für alle, die sich selbst einmal mit „Storytelling“ oder Stand-Up auf der Bühne ausprobieren wollen. „Unser Ziel war es zunächst, mehr Frauen dazu zu ermutigen, ihre Stimme in der Comedy zu finden, ein stärkeres Geschlechtergleichgewicht zu schaffen und einen Raum zu bieten, in dem sie sich sicher fühlen. Doch nach und nach wurde uns klar, dass das nicht die einzige Form mangelnder Inklusion ist“, erzählt Bauldry im Gespräch mit der woxx. „In unserem Publikum sah man kaum Menschen mit sichtbaren Behinderungen, zum Beispiel Rollstuhlnutzer*innen.“
„Und der Grund ist nicht, dass kein Interesse bestünde“, sagt Bauldry. Wie vielen anderen unabhängigen, ehrenamtlichen Kulturinitiativen fehlt Frilly Curtains das Geld, um einen barrierefreien Kultur- oder Privatort für ihre Veranstaltungen zu mieten. Denn barrierefreie Cafés oder Bars würden oft entweder eine Miete oder einen Mindestumsatz für eine Show verlangen. „Das verstehe ich auch“, sagt Bauldry, „Sie müssen selbst Geld verdienen. Aber wir verdienen kein Geld mit den Shows; es läuft alles auf freiwilliger Basis. Deshalb haben wir kein Budget.“ Die Shows sollen möglichst niedrigschwellig sein und sind deshalb für alle Beteiligten kostenlos. Die Orte, an denen sie auftreten könnten, wie das „Blends“ oder „Le Croque Bedaine“, seien nicht für Personen mit Mobilitätseinschränkungen geeignet. Der Grund: Sie befinden sich im Keller oder bieten Toiletten an, die nur über Treppen zugänglich sind. Für den Musiker Adam Davis sind Letztere noch zu schaffen. „Ich kann mich mit meinen Krücken normalerweise zurechtfinden, was bedeutet, dass Treppen oft bewältigbar sind“, so Davis. Doch Rollstuhlfahrer*innen wären in dieser Hinsicht wegen beengter Bauweisen völlig chancenlos. „Natürlich gibt es ein Spektrum von Behinderungen und folglich ein Spektrum von Problemen. Wir wissen, dass viele Orte in der Stadt darunter leiden, dass die ‚Veranstaltungsräume‘ entweder im Keller oder im ersten Stock liegen“, sagt Davis.
Lange Fristen
Dabei gibt es strenge gesetzliche Vorgaben für den Zugang zu öffentlichen Orten. Laut dem Gesetz vom 7. Januar 2022 zur Barrierefreiheit müssen demnach bis 2032 alle Bibliotheken, Museen, Schulen, öffentliche Schwimmbäder und auch Cafés und Bars barrierefrei zugänglich sein. „Wir sind zuversichtlich, dass dieses Gesetz Abhilfe schaffen wird, denn es betrifft nicht nur Neubauten, sondern auch den Bestand“, erzählt Christine Zimmer, Direktorin von „Info-Handicap“, im Gespräch mit der woxx. „Betroffen sind alle“, betont sie. „Gemeinden, Staat, Gewerbe, Cafés – einfach jeder öffentlich zugängliche Ort. Alles, was neu gebaut wird, muss sofort barrierefrei errichtet werden; der Rest muss nachziehen.“
Die zehnjährige Frist von 2022 bis 2032 sieht Zimmer als gerechtfertigt. Denn besonders bei alten, unter Denkmalschutz stehenden Bauten sei ein Umbau aufwändig und teuer, manchmal gar unmöglich. In solchen Fällen sieht das Gesetz Ausnahmen vor. „Dann muss man mit dem Eigentümer schauen, was geht und was nicht. Das alles ist Arbeit, und es wird nicht von heute auf morgen gehen. Wir hoffen, dass die Leute nicht sagen: „Wenn ich es nicht komplett barrierefrei machen kann, mache ich gar nichts.“ Wichtig ist, dass jede*r das umsetzt, was möglich ist“, sagt Zimmer. Info-Handicap stellt im nächsten Jahr eine Mobilisierungskampagne sowie eine nationale Plattform vor, die alle relevanten Informationen zur Barrierefreiheit sammelt. Es sei wichtig, im Voraus mit der Sensibilisierung anzufangen, damit visierte Eigentümer*innen nicht erst kurz vor Ablauf der Frist aktiv werden – zumal bis 2028 eine staatliche Förderung für die Kosten des Umbaus beantragt werden kann. Bis zu 50 Prozent eines Betrags von bis zu 24.000 Euro übernimmt der Staat bis dahin.

(Foto: Chona Kasinger/Disabled And Here)
Die Informationen sind im Privatsektor noch nicht flächendeckend durchgedrungen, wie eine Anfrage an „La Croque Bedaine“ offenbart. Der Veranstaltungsort bietet lokalen Gruppen einen Raum, ohne einen Mindestumsatz oder eine Miete zu fordern. „Da sich unser Veranstaltungsraum im Keller befindet, ist es nicht immer einfach, allen Zugang zu verschaffen. Aber wenn jemand Hilfe braucht, versuchen wir alles möglich zu machen. Mir war nicht bewusst, dass Umbauten dieser Art subventioniert werden. Das ist gut zu wissen“, sagt der Hauptgeschäftsführer Lionel Cardoso. Für ihn wäre der erste Schritt, alle Betroffenen zu einem gemeinsamen Gespräch zusammenzubringen, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. „Das Thema ist für alle Parteien heikel, aber der Dialog zwischen Vertretern des Horesca-, Kultur- und Behindertenbereichs wäre bereits ein Schritt nach vorne.“ Die Horesca, der Dachverband des Gastronomie- und Hotelgewerbes, äußerte sich bis Redaktionsschluss nicht zu der Frage, wie er die Machbarkeit von barrierefreien Umbauten für seine Mitglieder einschätzt. Cardoso erklärt aber, dass die staatliche Subvention für viele kleine und mittlere Unternehmen nicht ausreiche. Neben den Kosten für den reinen Umbau müsse man auch noch den Umsatzausfall miteinrechnen. Wer über keine oder nur begrenzte Reserven verfügt, hat praktisch keine Möglichkeit, die Zeit während der Bauarbeiten zu überbrücken.
Auch das Kulturministerium hat sich seit einiger Zeit auf die Fahnen geschrieben, Barrieren abbauen zu wollen. „Der Zugang zur Kultur darf keine Frage der Bildung, des sozialen Backgrounds, des Geldbeutels, der Religion oder anderer Faktoren sein“, sagte Kulturminister Eric Thill (DP) Mitte letzten Jahres bei einer Veranstaltung, in der es um die Zielgruppen der Kultur in Luxemburg ging (woxx 1794). Und auch Mitte dieses Jahres stand bei den „Assises culturelles“ in Ettelbrück wieder die Frage im Mittelpunkt, wie Kultur für alle zugänglich gestaltet werden kann (woxx 1844). Ein Teil dieser Arbeit hat das Familienministerium bereits im Gesetz von 2022 geleistet, jetzt muss das Kulturministerium für seinen Bereich nachziehen. Hierzu wurde ein nationaler Aktionsplan „Zugang zur Kultur“ angekündigt. Dieser soll Mitte nächsten Jahres veröffentlicht werden, wie das Ministerium auf Nachfrage der woxx mitteilt. Der Plan solle die bereits gefassten Maßnahmen des Familienministeriums „ergänzen und spezifische Initiativen für den Kulturbereich enthalten, um den Zugang zu kulturellen Angeboten umgehend zu verbessern. Konkrete Details hierzu werden mit der offiziellen Veröffentlichung des Aktionsplans kommuniziert.“
Zugang für alle
Bis 2032 will Jessica Bauldry nicht warten – vor allem, weil sie damit rechnet, dass es am Ende viele Ausnahmen und nicht gesetzeskonforme öffentliche Orte geben wird. Deshalb hat sie eine Petition (Pétition publique n°3786) eingereicht, um für die Zwischenzeit und darüber hinaus Lösungen zu finden. Weil Kultur jedem gehöre und fehlende Barrierefreiheit „uns alle“ betreffe, sagt sie. „Wir sprechen von über 15 Prozent der Bevölkerung“, erinnert auch Christine Zimmer von Info-Handicap. „Ich denke, jeder mit einer körperlichen Behinderung ist betroffen“, so Bauldry. Aber auch Menschen mit Kinderwagen, ältere Personen oder jene deren Mobilität wegen eines Unfalls beeinträchtigt ist …“ Zusätzlich gibt es auch viele Menschen, die mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel chronischen Erkrankungen, Autismus, ADHS und psychischen Störungen leben.
„Bei unsichtbaren Beeinträchtigungen ist die Sensibilisierung entscheidend. Wir möchten, dass die Öffentlichkeit das Erkennungszeichen – die Sonnenblume auf grünem Hintergrund – kennt“, sagt Zimmer (siehe Kasten). Auch Frilly Curtains setzt auf Sensibilisierung: Ohrstöpsel gehören für ihre Shows ins Repertoire sowie der Hinweis auf Plakaten und bei der Online-Werbung, dass sie für zusätzliche Bedürfnisse jederzeit ansprechbar sind. In ihrer Petition beschreibt Bauldry verschiedene Lösungsmöglichkeiten für das Problem „Kulturbarrieren“. Zentral ist die Forderung, dass öffentliche Räume – etwa Gemeindesäle, Bibliotheken oder Schul-Auditorien – als vollständig barrierefreie Kulturorte geöffnet werden sollen, damit kleine Formate nicht länger an Treppen oder Mietpreisen scheitern. Ebenso schlägt sie vor, private Veranstaltungsorte, „die in Barrierefreiheit investieren und bereit sind, Gemeinschaftsveranstaltungen ohne Aufpreis aufzunehmen“, zusätzlich finanziell zu unterstützen. Bislang hat die Petition 343 Unterschriften der nötigen 5.000 erreicht. Sie läuft noch dreizehn Tage lang. Bauldry macht sich nichts vor: „Ich glaube nicht, dass wir die Unterschriften zusammenbekommen. Das ist in Ordnung. Wir wollen vor allem ein Gespräch anstoßen und einen Ort finden, an dem wir unsere Shows machen können, wo Menschen mit allen möglichen Fähigkeiten und Beeinträchtigungen zusammenkommen können.“
Gegenüber der woxx verspricht das Kulturministerium immerhin: „Unabhängig vom Ausgang der genannten Petition wird das Ministerium das Gespräch mit den Initiatorinnen und Initiatoren suchen, um ihre Anliegen konstruktiv in den weiteren Prozess einfließen zu lassen.“


Seit Mai dieses Jahres ist Luxemburg Teil der internationalen „Hidden Disabilities Sunflower-Initiative“. Die Sonnenblume dient als diskretes, aber leicht erkennbares Motiv für Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen wie etwa chronischen Erkrankungen (Morbus Crohn, Long Covid), neurologischen oder psychischen Erkrankungen (Autismus, ADHS, Angststörungen), Herz- und Lungenerkrankungen, Fatigue-Syndromen oder kognitiven Einschränkungen. Wer das Symbol trägt, signalisiert: „Ich brauche möglicherweise mehr Zeit, Unterstützung oder Verständnis.“ Eine Erklärung der individuellen Situation ist dabei nicht nötig. Die Sonnenblume ist als tragbares Halsband mit Anhänger etwa im Flughafen Findel oder bei Info-Handicap erhältlich. Das Symbol wird inzwischen in 16 Ländern genutzt und ist vor allem in Flughäfen weit verbreitet.