Vergangene Woche präsentierte das Observatoire de la santé Zahlen rund um die Gesundheit von Kindern. Der Fokus, der dabei gesetzt wurde, riskiert, dickenfeindliche Ansichten zu reproduzieren.

Süßigkeiten weglassen und schon wird man dünn? (Marco Verch / CC-BY-2.0 / ccnull.de)
„Jedes fünfte Kind wiegt zu viel“, hieß es vergangene Woche in gleich drei Luxemburger Tageszeitungen. Anlass für die Schlagzeile gab ein am 31. Januar vorgestellter Bericht des Observatoire national de la santé (ObSanté). Darin stand allerdings nicht etwa das Gewicht von Kindern, sondern deren Gesundheit insgesamt im Fokus.
Das eigentlich Besorgniserregende an den darin beschriebenen Befunden lässt sich mit dem weit weniger zum Klicken ermunternden Titel „Des enfants inégaux face à la santé“ des Quotidien zusammenfassen: Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status empfinden ihren Gesundheitszustand als schlechter, haben mehr psychische Beschwerden, essen weniger Obst und Gemüse, machen weniger Sport und sind häufiger übergewichtig oder adipös als Kinder aus wohlhabenden Familien.
Schon allein diese Auflistung macht deutlich, dass der Bericht des ObSanté lediglich an der Oberfläche kratzt. Denn jede dieser Feststellungen wirft Dutzende Fragen auf, deren Beantwortung umfangreicher Folgerecherchen bedürfte. Eine der im Bericht geäußerten Empfehlungen geht denn auch in diese Richtung: „Il est nécessaire de combler les lacunes en matière de données et de promouvoir la recherche sur la santé des enfants au Luxembourg, en particulier en ce qui concerne la santé et les comportements de santé des enfants de moins de 11 ans.“ Zusätzliche Daten, so heißt es weiter, könnten dabei helfen, ein ausführlicheres und genaueres Bild des Gesundheitszustands von Kindern zu erhalten und existierende Programme und Interventionsmethoden zu evaluieren. Davon abgesehen stellen sich aber auch bezüglich der Methodik des ObSanté einige Fragen. Nicht nur der quasi synonyme Gebrauch von „übergewichtig“ und „adipös“, auch der gesetzte Fokus muten befremdlich an.
Hinter der aufsehenerregenden Schlagzeile der steigenden Adipositasfälle verbirgt sich ein komplexer Sachverhalt. Adipositas ist eine multifaktoriell bedingte chronische Erkrankung, über die sich ohne nötige Verweise auf Genetik, Epigenetik, die Lebensmittelindustrie und die Lebensrealität von Betroffenen nur allzu simplistisch sprechen lässt. Die Gene beeinflussen nicht nur das Hunger- und Sättigungsgefühl, sondern auch die Art der Lebensmittel, auf die man Lust hat (Genetik); diese genetische Komponente wiederum wird von äußeren Einflüssen beeinflusst (Epigenetik).
Oberflächlich betrachtet lässt sich Adipositas mit denkbar einfachen Mitteln vermeiden: Gesunde Ernährung, Bewegung und Sport sowie ausreichend Schlaf. Ausschlaggebend ist jedoch der uneingeschränkte Zugang zu diesen „comportements sains“, wie sie im Bericht von ObSanté genannt werden. Informationen diesbezüglich sind zwar wichtig, reichen allerdings nicht aus. Im Bericht wird der Verzehr von Obst und Gemüse stellvertretend für „gesunde Ernährung“ angeführt. Wie man auf Nachfrage der woxx präzisiert, wurde der entsprechende Konsum erfragt, um „certaines habitudes alimentaires qui sont souvent associées avec une alimentation saine“ auszumachen. Wie die Forscher*innen jedoch einräumen, reicht der Verzehr von Obst und Gemüse nicht aus, damit die Ernährung als „gesund“ bezeichnet werden kann.
Gemüse ist nicht gleich Gemüse

(www.pickpik.com)
Das zum einen, sei ergänzend hinzugefügt, weil es auf die Gesamtheit der im Laufe eines Tages zu sich genommenen Malzeiten ankommt. Zum anderen spielt aber auch die Zubereitung eine kruziale Rolle: Befindet sich das Gemüse nämlich in einem hochverarbeiteten Fertigprodukt, wie etwa auf einer Tiefkühlpizza, kann von „alimentation saine“ keine Rede sein. Das Problem – und hier kommt die sozioökonomische Dimension ins Spiel: Hochverarbeitete Lebensmittel sind weitaus leichter zugänglich, sowohl logistisch als auch finanziell: Sich selbst und die eigenen Kinder täglich mit unverarbeitetem Gemüse zu versorgen, ist sowohl kosten- als auch zeitaufwändig – Ressourcen, die in unterschiedlichem Maße vorhanden sind, je nachdem welcher sozioökonomischen Schicht man angehört.
Menschen mit Adipositas können sich hierzulande ein „traitement diététique“ zu einem Großteil von der Krankenkasse rückerstatten lassen. Das eben angeführte Beispiel zeigt jedoch die Grenzen eines solchen, auf Ernährungsberatung beschränkten Ansatzes auf. Die Vorstellung, dass es ausreiche, Menschen mit Adipositas zu erklären, was gesunde Ernährung ist, geht an der Lebensrealität der Betroffenen vorbei und reproduziert die Mär, durch schiere Willenskraft und Disziplin langfristig abnehmen zu können.
Gesellschaftliche Herausforderung
Im Bericht des ObSanté stolpert man denn auch über die vage formulierte Empfehlung, dem Anstieg an Übergewicht und Adipositas entgegenwirken und Kinder zu einem gesünderen Lebensstil ermuntern zu müssen. Nicht, dass die angestrebten Ziele verwerflich wären. Doch verschleiert die Aussage die Herausforderungen, die sich daraus für die Politik, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft insgesamt ergeben. Das Ausmaß dieser Herausforderung wird im Bericht an anderer Stelle zumindest angedeutet: „Un alignement stratégique de ces efforts est requis, au-delà du système de santé, pour s’attaquer aux différents déterminants de la santé de l’enfant, notamment les facteurs socio-économiques, démographiques, commerciaux et environnementaux, de manière conjointe dans les foyers, les écoles et les 169 municipalités“.
Dass das ObSanté sich der Komplexität der Problematik bewusst ist, steht außer Frage. Umso erstaunlicher ist der limitierte, auf stigmatisierenden Mythen basierende Fokus der von ihnen erhobenen Daten. Sie fragten danach, wieviel Obst und Gemüse gegessen und wie viel Sport gemacht wurde. Sie hätten aber auch Fragen stellen können, die weniger die Eigenverantwortung und stattdessen die Lebensbedingungen in den Vordergrund rücken. So etwa: Ist deine Schule über einen Radweg erreichbar? Befindet sich ein Spielplatz in Fußnähe zu deinem Zuhause? Interessant gewesen wären auch luxemburgspezifische Daten zu der Frage, inwiefern sich die gesellschaftliche Dickenfeindlichkeit auf die psychische Verfassung von Kindern auswirkt. Aus internationalen Studien weiß man, dass Kinder mit Adipositas sowohl in der Schule als auch zuhause gemobbt werden, ihre Leistungen schlechter bewertet werden, sie in erhöhtem Maße unter Einsamkeitsgefühlen und Depressionen leiden. Auf Nachfrage der woxx können die Forscher*innen zudem keine Einschätzung dazu geben, wieso ein niedriger sozioökonomischer Status sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirkt. Die Frage sprengt wohl die Reichweite ihrer Studie, doch wieso mit Fragen nach Gemüseverzehr und Sportaktivitäten in genau die gegenteilige Richtung zielen, weg vom Strukturellen, hin zum Individuellen? Wird diese Fokussetzung dann auch noch gepaart mit unkritischem Journalismus, sind Publikationen wie der Leitartikel, der am gestrigen Donnerstag im Wort erschien, die Folge, in dem eine chronische Erkrankung mit einer Lebensstilentscheidung gleichgesetzt wird.
Mit welchen Mitteln versucht wird, Menschen mit Adipositas zu helfen, ist eine hochpolitische Frage. Dass die Forscher*innen vom ObSanté dies mit der Aussage „le développement d’une stratégie gouvernementale d’action conjointe n’est pas dépendante d’une orientation idéologique“ zu relativieren versuchen, ändert daran nichts. Die Aussage erfolgte auf Nachfrage der woxx, ob in den Empfehlungen des ObSanté eine implizite Neoliberalismuskritik herauszulesen sei.
Doch wie anders ist die Forderung zu verstehen, „comportements sains“ allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen zugänglich zu machen und Adipositasbekämpfung nicht auf eine Frage der Eigenverantwortung zu reduzieren? Wer die Forderung konsequent umsetzen will, kommt nicht daran vorbei, über Aspekte wie Mindestlohnerhöhung, erschwinglichen Wohnraum, Verbot von Junk-Food-Werbung, eine radikale Verkehrswende und strukturelle Missstände nachzudenken.
Die langfristige Bekämpfung sozialer Unterschiede und eines auf Bewegungsarmut ausgerichteten Lebensalltags hilft Betroffenen im Hier und Jetzt allerdings kaum. Expert*innen raten deshalb zunehmend zu drastischeren Methoden wie Abnehm-Medikamenten oder bariatrischer Chirurgie. Dies allerdings erst bei älteren Kindern. Für die Unter-12-Jährigen empfehlen Instanzen wie etwa die American Academy of Pediatrics die sogenannte „Intensive behavioral and lifestyle treatment“, eine intensive Form der kognitiven Verhaltenstherapie.
Wie das Gesundheitsministerium auf die Befunde und Empfehlungen des ObSanté zu reagieren gedenkt, bleibt abzuwarten. Bei Redaktionsschluss hatte die woxx noch keine Antwort auf ihre Fragen erhalten.