Adipositas-Forschung: „Der Mentalitätswechsel gestaltet sich sehr schwierig“

Entgegen dem wissenschaftlichen Konsens ist Adipositas hierzulande nicht als Krankheit anerkannt. Die Stigmatisierung von Betroffenen sowie eine paradoxe Gesundheitspolitik sind die Folge davon. Die woxx hat mit einer Forscherin des Luxembourg Institute of Health darüber gesprochen.

Wer über einen hohen Körperfettanteil verfügt, kann entweder kerngesund sein, oder aber an einer chronischen Krankheit leiden. Allein am Körper sieht man einer Person das nicht ab. (Copyright: CC BY-NC-ND 2.0 by Barattini Stefano)

woxx: Übergewichtsstigma scheint heutzutage noch das einzige gesellschaftlich akzeptierte Stigma zu sein. Wie ist das zu erklären?


Hanen Samouda: In vielen Ländern gilt Adipositas als persönliche Lifestyle-Entscheidung. Das führt dazu, dass man Betroffene für ihr hohes Gewicht verantwortlich macht. Wissenschaftliche Erkenntnisse legen jedoch nahe, dass es sich dabei um eine chronische, rezidivierende Erkrankung handelt. Rezidivierend bedeutet, dass sie nach einer Phase der Besserung in der Regel wiederkehrt. Es ist zudem eine multifaktorielle Krankheit. Einerseits spielen die Gene eine große Rolle, andererseits auch die Umwelt. Wenn Menschen, die über eine genetische Prädisposition für Adipositas verfügen, großen Mengen an Fastfood-Marketing ausgesetzt sind, verlieren sie die Kontrolle über ihr Hunger- und Sättigungsgefühl. Das liegt an einer Fehlfunktion, der dafür verantwortlichen Hormone. Das ist ein komplexer neuro-physiologischer Ablauf, an dem eine Person mit Adipositas aus eigener Kraft heraus nichts ändern kann. Vielen ist das nicht bewusst, nicht einmal medizinischen Fachkräften. Zum Teil wollen sie es auch einfach nicht wahrhaben.

Wie erklären Sie sich das?


Auf Medizinhochschulen wird kein Wissen über Adipositas als Krankheit vermittelt.

Wie definieren Sie Adipositas?


Gewöhnlich wird Adipositas durch den BMI (Body Mass Index; Anm. von der Red.) definiert. Dieser ist jedoch umstritten, da er Faktoren wie Muskelmasse und Knochendichte nicht berücksichtigt. Die „Canadian Adult Obesity Clinical Practice Guidelines“ empfehlen eine Methode, um Adipositas zu definieren und seine Schwere festzustellen, die mittlerweile in vielen europäischen Ländern und von der European Association for the Study of Obesity anerkannt ist. Das EOSS (Edmonton Obesity Staging System; Anm. von der Red.) definiert vier verschiedene Komplikationsstufen. Eine Person mit hohem BMI kann auf der untersten oder ersten Stufe des EOSS sein, wenn sie keine metabolischen, körperlichen, psychologischen Probleme aufweist, und über eine gute Lebensqualität verfügt. In dem Moment verfügt die Person über ein hohes Level an Fett, ohne aber krank zu sein. Weist die Person Komplikationen auf, wird sie je nach Schwere einer der drei anderen Stufen zugeordnet und hat Anrecht auf eine angemessene Behandlung. In Irland veröffentlichte die HSE, die irische Verwaltung des Gesundheitsdienstes, am Montag Empfehlungen zur Behandlung von Adipositas als Krankheit. Diese wurden von der Association for the Study of Obesity on the Island of Ireland ausgearbeitet und sind die ersten dieser Art in Europa. Sie basieren auf dem EOSS und erlauben eine individuell angepasste Behandlung von Adipositas. Anfang 2022 hat die Europäische Union ein Arzneimittel namens Semaglutid zugelassen. Es reguliert den Blutzuckerspiegel und wirkt auf Hirnregionen, die den Appetit steuern.

Das EOSS definiert vier verschiedene Komplikationsstufen. (Grafik: www.futurelearn.com)

„Wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass es sich bei Adipositas um eine chronische Erkrankung handelt.“

Wie kann sich das von Ihnen beschriebene Stigma auf Menschen, die mit Adipositas leben, auswirken?


Auf vielen Ebenen. Einerseits auf der psychologischen und emotionalen. Anderseits trauen Betroffene sich weniger, einen Arzt aufzusuchen, als Menschen, die nicht an Adipositas leiden. Die European Coalition for People Living with Obesity organisiert jedes Jahr ein Event zu einem bestimmten Thema. Dieses Jahr standen Jugendliche mit Adipositas im Fokus. Laut Befragungen, die in diesem Rahmen durchgeführt wurden, trauen sich nur 30 Prozent der Betroffenen mit einer medizinischen Fachkraft über ihr Gewicht zu reden. Das wirkt sich notgedrungen negativ auf ihre Gesundheit aus. Eine andere Frage lautete: „Wie informieren sich Jugendliche über gesunde Lebensführung, Gewichtsreduktion und Gewichtsmanagement?“ Die überwiegende Mehrheit gab als Antwort „Social Media“ an. Nur rund 19 Prozent reden mit einem Ernährungsspezialisten darüber, 24 Prozent informieren sich bei ihrem Arzt. Auch das ist nicht gut. Das Stigma betrifft aber natürlich auch die soziale Ebene: Kinder werden in der Schule gemobbt, Erwachsene auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Eine andere Diskriminierungsebene betrifft die Sprache. Genau wie man „Person mit Schizophrenie“ statt „schizophrene Person“ sagt, sollte man auch „Person mit Adipositas“ sagen. Eine Person hat eine Krankheit, sie ist nicht die Krankheit.

Denken Sie, es ist möglich, eine ausgewogene Ernährung und regelmäßigen Sport zu bewerben, ohne Menschen mit Adipositas zu stigmatisieren?


Sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Wissenschaft ist man sich einig, dass sich Adipositas weder mit körperlicher Anstrengung noch durch die Ernährung behandeln lässt. Es gibt drei anerkannte Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Adipositas: kognitive Verhaltenstherapie, Medikamente und Operationen. Dazu zählen etwa der Magenbypass und die metabolische Operation. Medikamente wirken sich auf die Regionen des Gehirns aus, die den Hunger kontrollieren. Bewegung und ausgewogene Ernährung können lediglich dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern. Das gilt aber für die gesamte Bevölkerung, nicht nur für Menschen mit Adipositas.

„Der Ansatz der Regierung ist in mehreren Hinsichten kritikwürdig.“

CC BY-NC-ND 2.0 by Matt Love, Maura Murphy

Die Strategie der luxemburgischen Regierung ist eine völlig andere. Diese stellt in ihren Gesundheitskampagnen nämlich kontinuierlich einen Zusammenhang zwischen Adipositas-Bekämpfung und ausgewogener Ernährung her.


Absolut. Das ist einer der Punkte, über den wir mit nationalen Akteuren sprechen müssen. Die Regierung macht zum Beispiel auch viel Präventionsarbeit in puncto Adipositas. Zahlreiche Studien weisen jedoch darauf hin, dass Ernährung und körperliche Anstrengung als Präventionsmaßnahmen ungeeignet sind. Immerhin nimmt die Zahl an Menschen mit Adipositas kontinuierlich zu. Eine wichtigere Rolle spielt die Umwelt: Die Bewerbung und das Angebot von Fastfood und Junkfood etwa. Oder ein Alltag, in dem Bewegungsarmut priorisiert wird. Lohnarbeit, Schulunterricht und der motorisierte Transport tragen maßgeblich dazu bei. Aus Studien geht hervor, dass das problematischer ist als ein Mangel an sportlicher Aktivität. Es ist also dort, wo die Adipositas-Prävention von Regierungen überall auf der Welt ansetzen müsste. Keine leichte Aufgabe, Verbote von Fast-Food-Werbung etwa werden vehement von entsprechenden Lobbys bekämpft, wie es kürzlich in Großbritannien der Fall war. Was die Behandlung angeht, ist die Lage in Luxemburg besonders paradox: Adipositas-Chirurgie wird von der Krankenkasse rückerstattet, obwohl Adipositas auf legaler Ebene nicht als Krankheit anerkannt ist. In Spanien, den Niederlanden und Portugal wurde Adipositas kürzlich als Krankheit anerkannt, und zwar auch weil Organisationen, die die Interessen von Menschen mit Übergewicht vertreten, mit ihren entsprechenden Forderungen nicht lockerließen.

Es überrascht, dass dieses Umdenken hierzulande noch nicht stattgefunden hat. Immerhin ist es nicht so, als ob die ernährungsbezogenen Anstrengungen, um Menschen mit Übergewicht zu helfen, Früchte tragen würden. 


Der Mentalitätswechsel gestaltet sich sehr schwierig.

Copyright: Hanen Samouda

Die klinische Anthropologin und Epidemiologin Hanen Samouda hat im Jahr 2007 an der Universität Aix-Marseille zum Thema „Anthropology of health status: obesity, biometry and perceptions“ promoviert. Seit 2005 arbeitet sie am Luxembourg Institute of Health im Bereich Adipositas und Körperzusammensetzung. Ihren Fokus setzt ­Samouda auf die Entwicklung einfach benutzbarer Diagnosetools für Adipositas und von Adipositas-Management-Programmen.


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