COP27 und Klimagerechtigkeit: Kein Privileg des Globalen Nordens

Klimagerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der internationalen Zusammenarbeit, sondern vor allem der sozialen Gleichheit und der gemeinsamen Verantwortung.

Was bedeutet „Verluste und Schäden“? Philippinen, Dezember 2021, nach dem Supertaifun Odette.

Eine ganze Reihe globaler Krisen bildet den Hintergrund der diesjährigen UN-Klimakonferenz (COP27): Die Auswirkungen von Covid-19 und Russlands Einmarsch in die Ukraine haben die Lebensmittel- und Energiepreise auf ein Rekordhoch getrieben, während beispiellose Klimakatastrophen mit Regen, Hitze, Dürre, Bränden und Stürmen von historischem Ausmaß in fast allen Teilen der Welt verheerende Auswirkungen zeigen.

Die Flutkatastrophe in Pakistan kostete mehr als 1.000 Menschen das Leben und führte zur Vertreibung von mehreren zehn Millionen Menschen. Überschwemmungen und Stürme im südlichen Afrika in der ersten Jahreshälfte 2022 haben Hunderte von Menschen getötet und die Wirtschaftstätigkeit stark beeinträchtigt. Am Horn von Afrika hungern Millionen Menschen aufgrund einer epischen Dürre. Eine schwere Dürre hat Chinas Lebensmittel- und Energieproduktion erschüttert und zu Stromausfällen sowie Wasser- und Stromrationierungen geführt. Und Europa sieht sich mit der schlimmsten Dürre seit 500 Jahren konfrontiert, in Verbindung mit noch nicht dagewesenen Hitzewellen.

Große Herausforderungen

Diese sich zuspitzenden Krisen unterstreichen die dringende Notwendigkeit für die Länder, auf der COP27 zusammenzuarbeiten, um die Klimaschutzmaßnahmen zu beschleunigen und das Vertrauen wiederherzustellen, dass globale, gemeinsame Maßnahmen die größten Herausforderungen der Menschheit lösen können.

Doch was ist dazu nötig? Der Sechste Sachstandsbericht des IPCC (AR6) definiert es folgendermaßen: „Eine klimaresiliente Entwicklung, um die schlimmsten Szenarien zu verhindern, umfasst Fragen der Gerechtigkeit und der Systemübergänge in den Bereichen Land, Ozean und Ökosysteme, städtische und ländliche Infrastruktur, Energie, Industrie und Gesellschaft und beinhaltet Anpassungen für die Gesundheit von Menschen, Ökosystemen und des Planeten (…) und setzt voraus, dass Regierungen, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor integrative Entwicklungsentscheidungen treffen, die Risikominderung, Gleichheit und Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen, und dass Entscheidungsprozesse, Finanzmittel und Maßnahmen über alle Verwaltungsebenen, Sektoren und Zeitrahmen hinweg integriert werden.“

Beide Fotos stammen von der ASTM-Partnerorganisation PDG (Paghidaet sa Kauswagan Development Group).

Die verhandelnden Nationen auf der in zwei Wochen beginnenden COP27 können diese Aufgabe nur einhalten, indem sie die drei Prinzipien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) anwenden: Sie müssen sich des angemessenen Vorsorgeprinzips, der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung (CBDR) und der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten sowie des Rechts aller Nationen auf nachhaltige Entwicklung bewusst sein und sie zur Grundlage aller Entscheidungen machen. Diese drei Prinzipien setzen dabei auf verschiedenen Ebenen an: Die ökonomische Seite bestimmt die „Verteilungsgerechtigkeit“, die die Verteilung von Lasten und Vorteilen zwischen Personen, Nationen und Völkern vorsieht. Die „Verfahrensgerechtigkeit“ bezieht sich auf den demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung und den Zugang beteiligter Personen und Institutionen zur Justiz. Die „Anerkennung“ schließlich ist eine sehr vielfältige Ebene, die eine faire Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturen und Perspektiven beinhaltet und grundlegenden Respekt und ein starkes Engagement dafür einfordert.

Loss and Damage

Für Sunita Narain, Direktorin des Centre for Science and Environment in Indien, ist gerade das Recht auf nachhaltige Entwicklung für rund 70 Prozent der Weltbevölkerung jedoch immer noch eine Utopie – obwohl die Welt ihr Kohlenstoffbudget mehr als ausgeschöpft habe. „Wir müssen aufhören, Katastrophen zu zählen, wir brauchen vielmehr Zahlen zu den Verlusten und Schäden“, schrieb Narain im Juli dieses Jahres in ihrem Blog und wies auf die Bedeutung des Glasgow-Dialogs hin. Für die EU könne dieser Dialog die Möglichkeit sein, die globale Führungsrolle zu demonstrieren, die sie im europäischen Green Deal postuliert. Das Institute for Sustainable Development and International Relations (IDDRI) bringt es auf den Punkt: „Fortschritte bei den Klimaverpflichtungen der EU sind von grundlegender Bedeutung, um die Glaubwürdigkeit der EU im Bereich des Klimaschutzes aufrechtzuerhalten und das Vertrauen (…) in die multilaterale Klimapolitik zu stärken.“

Eine enge Zusammenarbeit mit den Partnern in den gefährdeten Ländern des Globalen Südens ist dabei entscheidend für einen ausgewogenen Ansatz zur Abschwächung und Anpassung im Rahmen einer multilateralen Klimagovernance. Bei der Vorbereitung der COP27 müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten deshalb die kollektiven Ambitionen in Bezug auf Politik und Finanzierung verstärken, indem sie die Anpassung und den Umgang mit Verlusten und Schäden ganz oben auf die Tagesordnung setzen.

Wie ist es überhaupt noch zu rechtfertigen, dass der Klimawandel nicht ständig Schlagzeilen macht? Warum geben wir den Krisen um uns herum keine Gesichter? Wir hören die katastrophalen Nachrichten über Überschwemmungen und Dürren, während wir gemütlich in unseren perfekt temperierten Häusern sitzen und uns immer wieder aufs Neue an die Krisen um uns herum gewöhnen, ganz gleich, ob es sich um Klima-, Biodiversitäts- oder Energiekrisen handelt. Wir schließen die Augen vor der Tatsache, dass mit jeder Katastrophe betroffene Menschen mehr von ihrer Fähigkeit verlieren, mit solchen Situationen fertigzuwerden. Wie soll man neu anfangen, wenn die Lebensgrundlage verloren gegangen ist? Es gibt im schlimmsten Fall keine andere Möglichkeit, als einen anderen Ort, eine neue Heimat, zu finden – die vielleicht weniger der menschengemachten Naturgewalt ausgesetzt ist, aber vielleicht auch nicht.

Countries of the world by their position on the ND-Gain Country Index. (gain.nd.edu)

Wie die Notre Dame Global Adaptation Initiative (ND-Gain) zeigt, wird es bald kaum noch einen sicheren Ort geben, an den man flüchten kann: Ihr Länderindex (ND-Gain-Index) setzt sich aus der Gefährdung eines Landes gegenüber dem Klimawandel und anderen globalen Herausforderungen in Kombination mit seiner Fähigkeit, sich an die negativen Auswirkungen des Klimawandels anzupassen, zusammen. ND-Gain misst die Gesamtanfälligkeit eines Landes unter Berücksichtigung von sechs lebenswichtigen Sektoren – Nahrung, Wasser, Gesundheit, Ökosystem-Dienstleistungen, menschlicher Lebensraum und Infrastruktur. Mit einem Verwundbarkeitsgrad von 8 und einer Anpassungsfähigkeit von 17 liegt Luxemburg mit einer Gesamtpunktzahl von 68,6 auf Rang 12, was auch erklärt, weshalb wir dem Klimawandel immer noch nicht die notwendige Bedeutung zukommen lassen. Burkina Faso dagegen beispielsweise besetzt Rang 161. Hier bekommt der Klimawandel täglich ein Gesicht: Die hohe Verwundbarkeit und gleichzeitige geringe Anpassungsfähigkeit machen dort jeden Tag zum Überlebenskampf.

Global handeln

Hier kommt wieder die Frage der globalen Solidarität und Zusammenarbeit ins Spiel. Nur mit ganzheitlichen Ansätzen, die auf der Verantwortung und der Anpassungsfähigkeit der einzelnen Länder basieren, lässt sich die globale Bedrohung durch den Klimawandel bewältigen. Klimagerechtigkeit ist kein Privileg des Globalen Nordens – es ist höchste Zeit, unsere Klimaschuld einzulösen und eine Lebensgrundlage für alle zu schaffen, die auf Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit beruht. Solange die „Common but Differentiated Responsibilities“ (CBDR) von gefährdeten Ländern mit geringen Pro-Kopf-Emissionen verlangen, ihre Entwicklungsfähigkeit einzuschränken, um das Pariser Abkommen einzuhalten, ist der Globale Norden noch weit davon entfernt, die Grundprinzipien von Demokratie, nachhaltiger Entwicklung und Klimagerechtigkeit zu verstehen. Es bedarf sowohl einer Antwort auf UN-Ebene, die über den Verhandlungstisch einer Weltklimakonferenz hinausgeht wie auch konzertierter Maßnahmen auf lokaler Ebene.

Ein Beispiel dafür, wie sich beides kombinieren lässt, ist der Fall Vanuatu: Um die derzeit völlig unzureichenden Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft gegen den Klimawandel voranzutreiben, kündigte die Regierung der südpazifischen Nation Vanuatu im September 2021 ihre Absicht an, den Internationalen Gerichtshof (IGH) um ein Gutachten zu Klimawandel und Menschenrechten zu ersuchen, ein „Gutachten zu den Rechten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen, um vor den negativen Folgen des Klimawandels geschützt zu werden“. Vanuatu hat alle UN-Mitgliedsstaaten aufgerufen, diesen Antrag zu unterstützen, da nur dann der IGH tätig werden kann. Auch die lokale Ebene kann diese Kampagne unterstützen, indem sie sich an ihre jeweiligen Regierungen wendet, damit diese im UN-Plenum für den Antrag stimmen. Eine Entscheidung der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist bis Januar 2023 zu erwarten.

Fragen an die COP

Bis dahin muss die COP Antworten zu den dringendsten Fragen gefunden haben: Wie können die Unterschiede zwischen den Verlusten und Schäden im Globalen Norden und im Globalen Süden angegangen werden, einschließlich eines Ausgleichsmechanismus? Welche Instrumente können für das globale Anpassungsziel verwendet werden? Wie können das neue kollektive, überprüfbare Ziel und die langfristige Finanzierung erreicht werden? Wenn die Länder nicht in der Lage sind, ihre Treibhausgasemissionen zu senken und die Erwärmung gemäß dem Pariser Abkommen auf weniger als 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, werden vier globale Kipp-Punkte wahrscheinlich und fünf möglich, so das „DownToEarth“ Magazin.

Die COP27 findet vom 6. bis 18. November 2022 in Sharm el Sheikh, Ägypten, statt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die verhandelnden Nationen bei sechs Schlüsselaufgaben Fortschritte erzielen, um die internationalen Klimaschutzmaßnahmen voranzutreiben. In der übernächsten Ausgabe der woxx werden diese sechs Kernthemen der COP27 aus Sicht der Zivilgesellschaft analysiert.

Birgit Engel arbeitet für die Action Solidarité Tiers Monde (ASTM) und die Nord-Süd-Koordination des Klima-Bündnis Lëtzebuerg.

Quellen und Links:

Sechster Sachstandsbericht des IPCC, https://www.ipcc.ch/assessment-report/ar6/

Down to earth, 12.09.2022: Tipping Points – Was passiert, wenn wir sie überschreiten? https://www.youtube.com/watch?v=JzZZhDqF1-4

https://climatenetwork.org/wp-content/uploads/2022/08/Fair-Shares.-Lessons-from-Practice-Thoughts-on-Strategy_CAN-CERP.pdf

https://www.downtoearth.org.in/blog/natural-disasters/are-we-inured-to-weather-crises–83643?

https://www.downtoearth.org.in/blog/climate-change/need-of-the-hour-reinvent-economic-growth-model-84269?

https://gain.nd.edu/our-work/country-index/rankings/

https://www.iddri.org/sites/default/files/PDF/Publications/Catalogue%20Iddri/Propositions/202206-PB0522-loss%20damage%20EU.pdf

https://www.teriin.org/https://www.wri.org/insights/current-state-play-financing-loss-and-damagehttps://www.wri.org/insights/loss-damage-climate-change

Der Beitrag basiert auf einem ebenfalls von Birgit Engel verfassten Artikel, Anfang Oktober erschienen in der Zeitschrift Brennpunkt Drëtt Welt (Ausgabe 318): COP27 needs to leave the ivory tower


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