Film: Du sollst keine Karohemden tragen

Superman darf sich demnächst in einen Mann verlieben und die niederländische Prinzessin eine Frau heiraten, wenn sie das möchte. Wie tolerant aber ist das Kino- und Serienpublikum, wenn es darum geht, queere Darsteller*innen in heterosexuellen Rollen zu akzeptieren, und umgekehrt?

In den 1950er-Jahren inszenierten die Hollywoodstudios vermeintliche Idyllen zwischen ihren Stars, hier Tab Hunter mit Nathalie Wood. Im Hintergrund schreibt Klatschreporterin Louella Parsons mit. (Foto: Archiv der Los Angeles Times)

Am 20. Oktober gingen in Los Angeles Angestellte des Netflix-Konzerns auf die Straße und protestierten gegen ein auf der Streamingplattform ausgestrahltes Special des Komikers David Chappelle, in dem er Witze auf Kosten der trans Community macht. Sie waren vor allem empört darüber, dass Netflix die Show überhaupt ausgestrahlt hatte und sich in der anschließenden öffentlichen Debatte nur zögerlich positionierte. Dabei hat der Streamingdienst Diversität sogar zu seinem Geschäftsmodell erklärt. Noch im September erklärte Jimmy Desmarais, der für die französischen Originalproduktionen des Konzerns verantwortlich zeichnet, der Zeitschrift „Têtu“: „Sich zu öffnen befördert das wirtschaftliche Wachstum. Letztlich profitieren alle davon, wenn wir diversen Stimmen Gehör verschaffen.” Außerdem tausche die Plattform sich regelmäßig mit GLAAD (Gay and Lesbian Alliance Against Defamation) aus, um stereotype Darstellungen queerer Figuren zu vermeiden.

Auch die Zahlen, die GLAAD im Sommer veröffentlichte, könnten im Hinblick auf die Diversität eigentlich Mut machen: 2020 kamen in 22,7 Prozent aller Hollywoodfilme queere Figuren vor. 2019 waren es lediglich 18,6 Prozent. Allerdings werden diese Figuren immer noch vorwiegend von heterosexuellen Cis-Darsteller*innen verkörpert. Beispiele dafür gibt es genügend: In der erst kürzlich auf ARD und One ausgestrahlten Serie „All you Need“ dreht sich alles um das Liebesleben von vier schwulen Freunden in Berlin. Obwohl die Produktion sich eigenen Aussagen nach zwar um ein diverses Casting bemühte, gingen am Ende doch alle Hauptrollen an nicht schwule Schauspieler.

Lange störte sich an diesem Zustand niemand. Im Gegenteil. „What did we do to deserve a love story starring Colin Firth and Stanley Tucci?“, fragte die Vanity Fair ganz entzückt, als bekannt wurde, dass beide im Beziehungsdrama „Supernova“ ein schwules Paar verkörpern würden. Zwei der begehrtesten Stars als Liebespaar auf der Leinwand – ja, ist denn schon Weihnachten? Während sich die einen freuten, meldeten sich auch kritische Stimmen zu Wort: Wurde hier nicht wieder einmal eine Chance verpasst, die Sichtbarkeit der wenigen geouteten Schauspieler zu erhöhen? Die öffentliche Entrüstung hielt sich am Ende hauptsächlich deswegen in Grenzen, weil der Film durch eine feinfühlige Darstellung zu überzeugen wusste und die sexuelle Orientierung seiner Figuren nicht problematisierte.

Queer gespielt und Alibis

Es ist eine vergleichsweise neue Entwicklung, dass sich heterosexuelle Schauspieler*innen dafür rechtfertigen müssen, wenn sie queere Rollen annehmen. 2018 erntete Scarlett Johansson heftige Kritik, als sie einen trans Mann verkörpern sollte. Sie gab die Rolle schließlich ab – nur fünf Jahre nachdem Jared Leto für seine Performance als Rayon im „Dallas Buyers Club“ noch mit einem Oscar belohnt wurde und sowohl Felicity Huffmann als auch Glenn Close für ähnliche Rollen 2005 und 2011 wenigstens mit Oscar-Nominierungen belohnt wurden.

Der öffentliche Druck könnte also dafür sorgen, dass queere Rollen in Zukunft bevorzugt Darsteller*innen angeboten werden, die LGBTIQA+ sind. Russell T. Davies, der Kopf hinter der 1990er-Kultserie „Queer as Folk“, bestand zum Beispiel darauf, für seine neue, hochgelobte Serie „It’s a Sin” (2021) bei der Besetzung konsequent dieses Prinzip durchzusetzen.

So weit, so gut, aber was ist mit queeren Schauspieler*innen, die im Gegenzug nicht auf die Darstellung queerer Rollen beschränkt werden möchten? Als sich im Frühjahr 2021, 185 Schauspieler*innen aus dem deutschsprachigen Raum (unter ihnen auch die Luxemburger Luc Feit und Max Gindorff) in der Süddeutschen Zeitung als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht binär oder trans outeten, empfanden manche die öffentliche Auseinandersetzung als überflüssig. Nachdem doch schon so viel in Sachen Gleichberechtigung erreicht wurde, ist es da noch unbedingt nötig, seine sexuelle Orientierung publik zu machen?

Ja, betonten die an der Aktion Beteiligten. Denn Schauspieler*innen, die sich outeten, liefen auch heute noch Gefahr, für gewisse Rollen nicht mehr in Betracht gezogen zu werden. Warum scheint es gerade für queere Darsteller*innen so mühsam, Publikum und Filmschaffende davon zu überzeugen, dass sie auch in Rollen schlüpfen können, die überhaupt nichts mit ihrer Sexualität zu tun haben? Warum fantasiert das Onlinemagazin Slate über vermeintliche Kuss-Szenen zwischen Tucci und Firth, während sich Ulrike Folkerts rechtfertigen muss, wenn sie eine Mutter spielen will? Bereits 2007 sagte Maren Kroymann der taz, es benötige Zeit und Aufgeschlossenheit seitens der Produzent*innen, um klarzustellen, dass sie, obwohl sie lesbisch sei, „alles spielen (kann), was sie spielen könnte, wenn es diese Information nicht gäbe“. Fast fünfzehn Jahre später berichtet der Tatort-Star Karin Hanczewski im SZ-Interview, dass ihr lange von einem Coming-out abgeraten wurde. Man habe ihr sogar ans Herz gelegt, als Kommissarin bitte nicht zu häufig Karohemden zu tragen. Es scheint, als habe sich in all der Zeit in Sachen Aufgeschlossenheit erstaunlich wenig getan.

In einem Interview mit der Zeitschrift „Brigitte“ erläuterte Stefan Eiben, der Gründer der Alibi-Agentur, die ihren Kund*innen dabei hilft, ein Doppelleben zu organisieren, dass Homosexualität in seiner Firma „fast jede Woche ein Thema“ sei. Auch er bestätigt: „Da sind wir von Offenheit noch viel weiter entfernt, als wir denken.” Regelmäßig würden sich bei ihm Prominente melden, vorwiegend aus der zweiten Reihe, die um ihre Karriere fürchten, sollte ihre Homosexualität ans Licht kommen. Die Agentur sucht ihnen daraufhin einen Scheinmann oder eine Scheinfrau aus, manchmal kommt es sogar zum „Doppelleben-Matching“, einem verlogenen Pseudo-Happy End bei dem zwei Nicht-Geoutete eine Art arrangierte Partnerschaft eingehen.

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Das erinnert an die 1950er-Jahre, als die mächtigen Hollywoodstudios ihre Publikumsmagneten Rock Hudson, Anthony Perkins oder Tab Hunter mit weiblichen Co-Stars ablichten ließen und vermeintliche Idyllen inszenierten, während ihre Homosexualität hinter den Kulissen längst ein offenes Geheimnis war. Das ehemalige Teenie-Idol Tab Hunter verabschiedete sich übrigens in den 1980er-Jahren auf sehr selbstironische Art aus dem sprichwörtlichen „Closet“. Nachdem er jahrelang fast von der Leinwand verschwunden war, bot ihm John Waters die männliche Hauptrolle an der Seite der Dragqueen Divine an. Waters glaubte nicht wirklich daran, dass die ehemalige Hollywoodgröße zusagen würde, doch Hunter zögerte nicht – und die vermeintliche Kamikaze-Aktion entpuppte sich als Glücksgriff: „Polyester” wurde zum Kultfilm und Hunter fand seinen Weg zurück ins Rampenlicht. Ein Beweis dafür, dass es durchaus lohnend sein kann, Rollenklischees aller Art in Frage zu stellen.

Beifall oder Buhrufe?

Die Mentalitäten verändern sich zweifellos, wenn auch nicht im gleichen Tempo, was manchmal zu Missverständnissen führt. Obwohl Homosexualität zumindest in Teilen der Welt gesellschaftlich akzeptiert ist und die Grenzen zwischen den Geschlechtern fluider werden, scheint die Übereinkunft zwischen Darsteller*innen und Publikum so wenig eindeutig wie zu Hollywoods Glanzzeiten. Damals war es die Traumfabrik, die eine Illusion kreierte, heute übernehmen dies die Stars größtenteils selbst, indem sie in den sozialen Medien bis ins Detail kalibrierte Inszenierungen ihres Selbst anbieten, die nur wenig Raum für Widersprüche oder Nuancen lassen.

Der britische Schauspieler Taron Egerton fand sich 2019 inmitten eines bizarren Internet-Gefechts wieder. Bekannt wurde Egerton durch die Rolle des Eggsy in Matthew Vaughns „Kingsman: The Secret Service” (2015). Der Film kokettiert durchaus mit einer gewissen Zweideutigkeit in der Beziehung zwischen dem Nachwuchsspion Eggsy und seinem Mentor Harry Hart alias Colin Firth – schon wieder. Im Netz entstanden daraufhin Unmengen sehr expliziter Fanart und über Egertons Sexualität wurde wild spekuliert, besonders als er anschließend im Biopic „Rocketman“ den Part des Elton John übernahm.

Ein unglücklich formulierter Post auf Instagram wurde als Outing interpretiert und als Egerton dementierte, erhielt er prompt Schelte von jenen, die ihm vorwarfen, seine Fans bewusst in die Irre geführt zu haben. Bei manchen war die Enttäuschung demnach eher groß, als sich der vermeintliche Schwarm als nicht schwul outete. In einem Interview mit dem Magazin GQ warf Egerton die Frage auf, wie es ihm als heterosexuellem Mann gelingen könne, sich von einer bestimmten heteronormativen Darstellung zu distanzieren, ohne gleich in Verdacht zu geraten, Queerbaiting zu betreiben: „Bei der LGBTQ-Gemeinschaft ging es doch schon immer um Inklusion, oder? Nicht um ein Gefühl des ‚Wir sind hier’ und ‚Du bist da’. Jede*r, die oder der dazugehören möchte, kann dazugehören.“

Auch Elliot Page wurde nach seinem Outing als trans Mann teilweise vorgeworfen, die Interessen der lesbischen Gemeinschaft zu verraten und sich lediglich den Standards einer heteronormativen Gesellschaft anzupassen.

Für die Filmschaffenden geht es also vorwiegend darum, die Woke-Generation nicht vor den Kopf zu stoßen und gleichzeitig ein vermeintlich weniger aufgeschlossenes Mainstream-Publikum in die Kinos zu locken. Gleichermaßen wird aber auch die Grundvoraussetzung der darstellenden Kunst in Frage gestellt: der unausgesprochene Pakt zwischen Schaffenden und Publikum, dass man auf der Bühne nur so tut als ob und jene vor der Bühne oder dem Schirm gewillt sind — wenn auch nur für einen kurzen Moment — an die vorgegaukelte Wirklichkeit zu glauben.

Tipps: 
„Visible: Out on Television“, Miniserie von Ryan White, 2020 (zu sehen auf Apple TV
„Tab Hunter Confidential“, Dokumentarfilm von Jeffrey Schwarz, 2015
„The Celluloid Closet“, Dokumentarfilm von Rob Epstein und Jeffrey Friedman, 1995

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