Auch zwei Wochen nach der schweren Flutkatastrophe herrscht in Teilen der spanischen Region Valencia faktisch der Ausnahmezustand. Hilfe kommt nur schleppend an, während das Ausmaß des Versagens der Regionalregierung immer deutlicher wird. Hoffnung für die Menschen vor Ort bringen vor allem die freiwilligen Helfer.
„Es sieht aus wie im Krieg!“ Dieser Satz ist nach dem Hochwasser im südostspanischen Valencia angesichts der Schäden von Bewohnern und Helfern oft zu hören. Auch mehr als zwei Wochen später sind die Zerstörungen unbeschreiblich. Ein sogenannter „Kaltlufttropfen“, ein Wetterphänomen, das von heftigen Windböen und ergiebigen Niederschlägen begleitet ist, hatte dafür gesorgt, dass es am 29. Oktober zu dem Fiasko kam, dessen Folgen überall zu sehen sind.
In vielen Gemeinden und Stadtteilen steht der Schlamm zum Teil immer noch kniehoch in den Straßen. An besagtem Tag gab es binnen acht Stunden zum Teil Niederschläge von mehr als 600 Litern pro Quadratmeter – mehr als sonst im ganzen Jahr. Alle bisherigen Rekorde wurden gebrochen, da mit der Klimaerwärmung die Atmosphäre immer mehr Feuchtigkeit aufnimmt, die einem zu stark erwärmten Mittelmeer entstammt. Regnet es diese ab, kann es sogar zu Tornados kommen, wenn die warme feuchte Luft auf Kaltluft trifft. Solch riesige Kaltluftgebiete, die sich in großer Höhe bewegen, lösen sich nun immer öfter vom Nordpol ab.
In der Gegend um Valencia sind nach wie vor überall Fahrzeug- und Müllberge zu sehen. Überreste dessen, was einst die Einrichtung einer Küche, eines gemütlichem Wohn- oder Schlafzimmers, das Mobiliar einer Bar oder eines Geschäfts war. Nun liegt das alles auf der Straße und wartet auf den Abtransport. An den Rändern der Gemeinden im Katastrophengebiet werden provisorische Sperrmüllhalden und Autoberge aufgetürmt. Über der Region hängt fauliger Gestank, mit der Trockenheit kamen Staubglocken dazu. „Bitte tragen Sie Masken“, tönt es aus Lautsprecherwagen, die durch Straßen wie hier in Catarroja fahren. „Trinken sie nur Wasser aus Flaschen“, wird hier, in einem der Zentren der Katastrophe, empfohlen. Von den bisher 214 registrierten Todesopfern in der Provinz Valencia (217 insgesamt in ganz Spanien), hatte allein die Kleinstadt mindestens 32 zu beklagen. Noch immer werden 23 weitere Menschen in Valencia vermisst.
Inzwischen haben die knapp 30.000 Einwohner der zehn Kilometer von Valencia-Stadt entfernt gelegenen Gemeinde wenigstens wieder Strom, Wasser und Gas. „Bei mir wurde das Gas gestern wieder aufgedreht“, sagt die 65-jährige Anna Piera im Gespräch mit der woxx. Wie viele ihrer Nachbarn ist sie zur Kirche „Maria Madre de la Iglesia“ gekommen, einem der Sammelpunkte im Ort, die Freiwillige errichtet haben. Hier trifft man sich wieder, kommt, um etwas zu essen, Lebensmittel, Wasser oder sonstige Gegenstände für den täglichen Gebrauch zu holen. Geschäfte, Kneipen und Banken, die sich typischerweise im Erdgeschoss befinden, wurden allesamt überflutet. Auch funktionstüchtige Autos, die man nutzen könnte, um anderswo einkaufen zu fahren, gibt es so gut wie nicht. Ohnehin hat die Polizei den Zugang zum Gebiet abgesperrt. Die offizielle Begründung dafür ist, dass die Straßen nicht verstopft werden sollen, um die Aufräumarbeiten nicht zu behindern.
Staatliche Helfer glänzen in Catarroja jedoch vor allem durch Abwesenheit. Hier ist kein Militär zu sehen, auch von deren Nothilfeeinheit UME fehlt jede Spur. Feuerwehrleute und eine Einheit spanisch-portugiesischer Nothelfer sind vor Ort. Ansonsten schuften hier, wie überall, vor allem freiwillige Helferinnen und Helfer. Viele von ihnen haben sich zu Fuß von Valencia nach Catarroja aufgemacht und waren dafür gut zwei Stunden unterwegs.
Zum Teil gab es binnen acht Stunden Niederschläge von mehr als 600 Litern pro Quadratmeter – mehr als sonst im ganzen Jahr.
Als erstes wurden die Räume der Kirchengemeine gesäubert. Und Anna Piera hat nun endlich Gummistiefel bekommen, damit sie sich leichter in dem Morast bewegen kann. Mit einem privaten Hilfstransport aus dem Baskenland ist das Schuhwerk hier angelangt. Die Stiefel sind zwar eine Nummer zu groß, aber mit dicken Socken geht das schon. Die Polizei wollte auch diesen Transport abweisen, in eine Zentralstelle am Hafen in Valencia schicken, wo Hilfsgüter gesammelt und verteilt werden sollen. Doch der Fahrer hat die Sperren umfahren. „Ich wäre dabei fast im Schlamm steckengeblieben“, sagt der Mann, der seinen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen will.
Koordiniert werden die Hilfsdienste in der Kirchengemeinde von Joan Magraner. Der ist froh, dass auf diese Weise weitere Lieferungen angekommen sind. Aus der Zentralstelle erhalte man gar nichts. Magraner lebt selbst in Catarroja und ist von der Flut betroffen. „Wir verteilen hier Schaufeln, Besen, Schutzbrillen, Lebensmittel oder Kleidung, die wir von überall her gespendet bekommen“, sagt er. Auch die Arbeit hier werde allein von Freiwilligen geleistet.
Einige bereiten Essen zu, eine andere Helferin verteilt Kaffee an ihrem Stand. „Wir müssen wieder zum Leben zurückfinden und dürfen uns nicht vom Schlamm begraben lassen“, sagt sie. Trotz des erlebten Schreckens müsse man wieder lernen zu lachen. Nebenan hat ein Friseur einen improvisierten Salon aufgebaut und schneidet die Haare umsonst. Einige Helfer lassen sich auf Bänken zu einer Pause nieder, verspeisen angelieferte Essensrationen, die in solidarischen Restaurants wie im „Raro“ in Valencia gekocht werden. Dort spürt man schon die nach der Flutkatastrophe bevorstehende ökonomische Krise. „Es kommen kaum Gäste“, erklärt der dortige Chefkoch Hibai Bengoetxea, der deshalb die Zeitverträge von drei Angestellten nicht verlängern konnte.
In Catarroja geht es nicht zuletzt darum, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Sogar psychologische Hilfe gibt es. Doch die Gefahr von Epidemien durch pathogene Bakterien und einige Arten von Parasiten steigt. Der Schlamm ist mit Fäkalien und Chemikalien durchsetzt, da das Abwassersystem verstopft ist. Der Ort ist mit am schlimmsten betroffen – neben Paiporta, Picanya, Sedaví, Alfafar, Massanassa und dem Stadtteil La Torre in Valencia.
Anna Piera hatte doppeltes Glück. Ihre Wohnung liegt im ersten Stock und die Flutwelle, die in hier auf fast drei Meter anwuchs, drang nicht ein. „Dass ich noch am Leben bin, verdanke ich einem geistesgegenwärtigen Busfahrer.“ Sie war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, als binnen Sekunden das Wasser in den Straßen auf Hüfthöhe anstieg. Der Fahrer war gerade in einen Verkehrskreisel eingebogen, als er die Flut anrollen sah. Geistesgegenwärtig bog er ab und fuhr auf ein Möbelgeschäft zu. Wie die übrigen Fahrgäste konnte sich Piera ins Obergeschoss des Ladens retten, wo rund 200 Menschen dann auch die Nach verbringen mussten. „Wäre er nicht abgebogen, wären auch wir fortgeschwemmt worden.“
Anna Piera erzählt auch, wie man versuchte, Angestellte und Kunden mit Hilfe eines Schlauches, an dem sie sich festhalten sollten, aus dem Untergeschoss des Gebäudes zu retten. Sie bricht in Tränen aus, als die Bilder wiederkehren, wie verzweifelte Menschen vorbeigespült wurden, um ihr Leben kämpften. „Das war unerträglich“, fügt sie an. „Ich habe die letzte Flut 1982 erlebt, aber das war nichts gegenüber dem, was wir jetzt erlitten haben.“
Weniger Glück hatte Susy Alfonso. „Ich bin glücklich“, erklärt sie trotz allem dem erstaunten Journalisten. „Ich bin am Leben!“ Ansonsten hat sie fast alles verloren. „Nur durch ein Wunder ist einer meiner beiden Söhne nicht ertrunken.“ Sie führt durch ihre leere, mittlerweile gesäuberte Parterre-Wohnung und zeigt an der nassen Wand, wie hoch das Wasser an jenem Tag angestiegen ist. Etwa zweieinhalb Meter.
Alfonso war zum Glück nicht zu Hause, doch nun hat sie weder Kleidung, noch einen Herd oder sonstige Utensilien, um sich etwas zu Essen zu machen. Wie zehntausende Autos wurde auch der gerade abbezahlte Wagen der Altenpflegerin nun auf einem der Autoberge am Stadtrand aufgestapelt. Auch den Job im Altenheim hat sie verloren, da dieses ebenfalls überflutet wurde. Stattdessen arbeitet sie als freiwillige Helferin, macht Hausbesuche überall dort, wo die älteren Menschen nun privat untergebracht worden sind. Auch die drahtige blonde Frau bricht während des Gesprächs in Tränen aus. Die schrecklichen Ereignisse sind noch frisch, für eine Verarbeitung war bisher keine Zeit.
Für Hoffnung, darin sind sich Alfonso und Piera einig, sorgen allein die freiwilligen Helferinnen und Helfer. „Ohne die würden wir noch immer Scheiße essen“, bringt es Piera drastisch auf den Punkt. Dank der Knochenarbeit der Freiwilligen konnten viele Wohnungen und Straßen schon wieder vom zähen Schlamm befreit werden.
Auch Carme Aguilar berichtet vom Versagen der Autoritäten auf allen Ebenen – lokal, regional und national. Die junge Frau, die ebenfalls in Catarroja wohnt, kann es bis heute nicht fassen, dass es keinerlei behördliche Warnungen gab, obwohl der staatliche Wetterdienst „Aemet“ schon zwei Tage vor der Katastrophe mit „sintflutartigen Regenfällen“ gerechnet hatte. Als die zuständige Regionalregierung Valencias unter dem konservativen Regionalpräsidenten Carlos Mazón (Partido Popular; PP) an jenem Tag nach 20 Uhr schließlich eine SMS-Warnung auf alle Handys schicken ließ, stand Catarroja längst unter Wasser. Mazón war zuvor für Stunden verschwunden und gesellte sich erst gegen 19h30 zum Krisenstab hinzu. Dort traf man bis dahin keinerlei Entscheidung, weil der Präsident nicht erreichbar war. „Erst gegen 20h30 kam hier die SMS an, als wir längst ohne Wasser und Strom waren und die Flutwelle bis zu unserem Balkon im ersten Stock reichte“, empört sich Aguilar.
Deren Familie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits neun Frauen aus der unter ihrer Wohnung gelegenen Apotheke gerettet „Wir haben Bettlaken zusammengeknüpft und sie hochgezogen.“ Danach konnten sie noch vier Frauen aus einer angrenzenden Zahnklinik retten. „Die wurden angeschwemmt und hatten sich über Stunden an den Gittern der Apothekentür festgekrallt.“ Zu 19 Personen habe man die Nacht in der Wohnung verbracht, sagt Aguilar, „unvergessliche und schreckliche Vorgänge“. Wie alle hier meint auch sie: „Den freiwilligen Helfern, die jeden Tag von überall her kommen um zu helfen und dafür sorgen, dass es uns fast an nichts fehlt, sollte man ein Denkmal setzten.“ Dabei betont sie das Engagement der „jungen Leute“.
Einer von ihnen ist der Anwalt Joaquín Rios-Capapé. Mit Studienfreunden aus Valencia ist er sofort am Tag nach der Flut losgezogen, um vor Ort Unterstützung zu leisten. Man habe zusammengelegt und, auch dank Spenden, Dampfstrahler und anderes Material zur Reinigung gekauft. Seither arbeiten er und seine Freunde täglich, wo immer man sie braucht. „Wir müssen so schnell wie möglich zur Normalität zurückfinden“, sagt er, beispielsweise müssten die Kinder rasch wieder zur Schule gehen. Auch er ist über die fehlende Hilfe empört. „Das Wasser können wir nicht kontrollieren, aber mit Prävention das Schlimmste vermeiden.“
Auch er ist sich sicher, dass viele Menschen noch leben würden, wenn frühzeitig eine Warnung erfolgt wäre. Die aktuelle Situation betreffend, kann er zwar verstehen, dass der Verkehr kontrolliert wird. Dennoch fragt er sich, wo die Hilfe mit dem dringend benötigten schweren Gerät bleibt. Das Versagen auf allen Ebenen bestätigt auch Joan Magraner. „Den ersten Lokalpolizisten haben wir in unserer Straße sechs Tage nach der Flut gesichtet.“
Die Gefahr von Epidemien steigt – der Schlamm ist mit Fäkalien und Chemikalien durchsetzt, da das Abwassersystem verstopft ist.
Anders als der junge Anwalt Rios-Capapé und seine Freunde, nahm Magraner allerdings nicht an der Großdemonstration am vergangenen Samstag teil. Dort wurde der Rücktritt der Regionalregierung gefordert. „Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick“, sagt Magraner. Auch er erwartet politische Konsequenzen. Zunächst jedoch will er alle Kraft dafür einsetzen, um die Kommune wieder zum Funktionieren zu bringen. Ansonsten befürchtet er ein ökonomisches Desaster. „Die Rechnungen laufen weiter, die Hypotheken müssen bezahlt werden.“
„Rücktritt Mazón“ schallte es vier Tage nach der Katastrophe aus 130.000 Kehlen in den Straßen Valencias. Anfangs hatte der Stuhl des Regionalpräsidenten tatsächlich gewackelt, doch seine Partei stellte sich hinter ihn. Sie macht stattdessen den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez von der sozialistischen „Partido Socialista Obrero Español“ (PSOE) für die Fehler verantwortlich, obwohl die Kompetenzen und die administrative Verantwortung in den Händen von Mazón lagen. Seit dem Amtsantritt von Sánchez arbeitet die Rechte und Ultrarechte an dessen Sturz und versucht nun auch, die Flutkatastrophe dafür zu nutzen.
Währenddessen wurde klar, dass Mazón Lügen und Halbwahrheiten verbreitet hat. Lange war unbekannt, wo er sich in den entscheidenden Stunden aufgehalten hatte. Nicht nur weiß niemand, auf welcher Grundlage er am betreffenden Tag gegen 13 Uhr – wenige Stunden vor der Katastrophe also – Entwarnung gab und erklärte, das Unwetter werde um 18 Uhr nachlassen und abziehen. Vielmehr musste er schließlich einräumen, während der entscheidenden Stunden mit einer Journalistin drei Stunden lang zu Abend gegessen zu haben. Die wollte er, entgegen dem üblichen Auswahlverfahren, auf den Chefposten des Regionalfernsehen heben. Zuvor hatte er behauptet, sich mit einem Vertreter einer Unternehmensvereinigung getroffen zu haben. Der dementierte dies. Statt im Krisenstab lebensrettende Entscheidungen zu treffen, war Mazón unerreichbar. Am Dienstag kam heraus, dass ihm Sánchez noch am Unglückstag selbst per „WhatsApp“ alle mögliche Hilfe angeboten hatte, obwohl der Regierungschef zu diesem Zeitpunkt auf einem Staatsbesuch in Indien war. Der Regionalpräsident lehnte dankend ab. Er behauptete, alles sei unter Kontrolle. Das ist aber auch zwei Wochen später noch nicht der Fall.
Dass Sánchez allerdings nicht den Notstand erklärte, was ihm nicht nur die Anforderung internationaler Hilfe, sondern auch die Übernahme der Kompetenzen in der Region ermöglicht hätte, schürt die Wut im Katastrophengebiet. Er hätte dann beispielsweise massiv Militär entsenden können, statt darauf zu warten, dass Mazón diese nach und nach beantragt.
Als König Felipe gemeinsam mit Mazón die Region besuchte, wurden die beiden von wütenden Flutopfern mit Schlamm beworfen. Sánchez erging es noch schlimmer: er wurde auch körperlich angegangen, dabei verletzt und sein Auto trotz Personenschutz stark beschädigt. Dahinter stehen rechtsextreme Gruppen, die in das Krisengebiet mobilisiert hatten und seither mit Fake-News die Stimmung weiter anzuheizen versuchen.
Während die Menschen hier misstrauisch auf jede neu aufziehende Wolkenformation blicken, hat der König die Region inzwischen erneut besucht. Unter die Bevölkerung hat er sich allerdings nicht mehr getraut. Als Chef des Militärs besuchte er stattdessen Einrichtungen der Truppe in der Region. In Catarroja bleibt die Angst vor neuen Überschwemmungen derweil groß – zumal nun die Abwasserkanäle verstopft sind und Autos und Müll die Flussläufe blockieren.
Ralf Streck berichtet für die woxx aus Portugal und Spanien.
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