Hegel, Krise und Corona
: Von der Willkür zur Freiheit

Was das Werk des Philosophen Hegel zu Debatten um die Corona-Politik beitragen kann, hat eine Konferenz in Jena auszuloten versucht.

„Die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat, ist die der Willkür“, so Hegel: Dass jeder tun könne, was er will, damit hatte sein Begriff von „wahrer, sittlicher Freiheit“ jedoch wenig zu tun. Unser Bild zeigt eine Kundgebung des Bündnisses „Querdenken“ gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie; Anfang Oktober in Konstanz 
am Bodensee. (Bild: EPA-EFE/RONALD WITTEK)

Sein Tod kam überraschend. Am Freitag noch hatte er mit den Vorlesungen des Wintersemesters über Rechtsphilosophie und die Geschichte der Philosophie begonnen, am Samstag hielt er Prüfungen ab. Sonntags zeigten sich die ersten Symptome einer Erkrankung, der er bereits am Abend des darauffolgenden Tages erlag. So ist Georg Friedrich Wilhelm Hegel mit dem Jahr 2020 auf seltsame Weise nicht nur über seinen 250. Geburtstag verbunden, dessen Gedenkfeiern größtenteils dem Coronavirus zum Opfer fielen. Denn es war wohl eine Pandemie, die den Philosophen am 14. November 1831 das Leben kostete: die Cholera.

Hegel war damals gerade „auf der Höhe seines Ruhms und seiner Wirksamkeit“, wie seine Zeitgenossin Rahel Levin Varnhagen schrieb. Heute wird seiner nicht zuletzt als „Philosoph der Freiheit“ gedacht, beispielsweise im Titel einer von Klaus Vieweg verfassten aktuellen Biografie (siehe unsere Besprechung „Zeit der Eule“ in der woxx 1581). Kein Wunder also, dass man nicht zuletzt sein Werk angesichts der Coronapandemie in journalistischen und philosophischen Texten auf seine Aktualität abklopft. Denn für manche ist die Freiheit durch die Maßnahmen des Staates gegen die Ausbreitung des Virus erheblich bedroht; zumal einigen der Krankheitserreger noch immer nicht als wirklich gefährlich erscheint.

Zu Hegels Zeiten war das mit der Cholera nicht viel anders: Während die einen gar die Existenz der Krankheit bezweifelten, verzehrten sich andere in der Furcht vor ihr. In Berlin, wo der Philosoph lehrte und wohnte, war die Seuche allgegenwärtig. Die Stadt stank nach Desinfektionsmittel, die Zahl der Betten in den Krankenhäusern reichte nicht aus, die Toten wurden ohne kirchliche Segnung auf Spezialfriedhöfen beigesetzt. „Zeitweilig durfte man betroffene Regionen nur mit Ausnahmeregelungen verlassen“, schreibt der Germanist Karl Heinz Götze, „im Fall eines Verstoßes drohte sogar Erschießung.“

Hegel selbst hatte sich bereits im Sommer 1831 aufs Land zurückgezogen. Er nahm die Sache offenbar ziemlich ernst, und fand damit auch den Spott mancher Zeitgenossen. „Am lächerlichsten aber ist es mir unter allen Erscheinungen, die die Furcht hier hervorgebracht hat, erschienen, daß ein berühmter Professor der Philosophie sich von der orientalischen Seuche [der Ursprung der Cholera ging auch damals auf Asien zurück; Anm. d. Red.] so hat ins Bockshorn jagen lassen, daß er sich vor aller Welt abgesperrt hat und […] in einem eigens gemietheten kleinen Hause, das er mit einer Mauer umgeben, völlig isolirt wohnt“, höhnte etwa ein anonymer Autor in einer Wiener Zeitschrift: „Sind das die Früchte der Philosophie? Ο guter Professor! […] Du hast stets von allem Leben im Geiste geredet, und doch das Leben im Fleische so übermäßig lieb! Auch ich war dein Schüler und habe manches Gute von dir gelernt, […] jetzt aber lerne ich das Beste von dir, nemlich den abgrundtiefen Unterschied zwischen Denken und Handeln!“

Hegels eigene Vorsicht mag nahelegen, dass er sich heute eher nicht unter den schärfsten Kritikern der Coronamaßnahmen wiederfinden würde. Zudem galt er keineswegs immer als „Philosoph der Freiheit“; lange Zeit verschrie man ihn als „wissenschaftliche Behausung“ von preußischem Konservativismus, Verabsolutierung von Staatsmacht und Restauration. Auch in Jena, wo Hegel ebenfalls einige Zeit gewirkt hatte, wollte man daher Mitte November wissen, unter welchen Vorzeichen Philosoph*innen der Gegenwart über die Aktualität Hegels für die heutige Situation nachdenken. So widmete man den an der dortigen Universität stattfindenden „Thüringentag für Philosophie“ in diesem Jahr dem Thema „Hegel, Krise und Corona“. Wenig überraschend fungierte Hegel jeweils als Gewährsmann für mehr oder weniger konträre Positionen.

Hegel contra Aluhut?

Gleich zu Beginn wies der Philosoph und Theologe Nikolaus Knoepffler auf „Hegels Betonung von Verstand und Wissenschaft“ hin, um dies mit einer Kritik an den sogenannten „Querdenker-Demonstrationen“ sowie an einer Skepsis gegenüber den angekündigten Impfstoffen zu verbinden. Ob diese sicher seien, könne man ohne entsprechende Fachkenntnis gar nicht beurteilen, so Knoepffler, der in Thüringen auch im wissenschaftlichen Corona-Beirat sitzt und das universitätseigene Ethikzentrum leitet. Nicht umsonst habe Hegel in seiner Rechtsphilosophie Mephistopheles aus Goethes Faust paraphrasiert: „Verachte nur Verstand und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Gaben – so hast dem Teufel dich ergeben und mußt zugrunde gehen.“

Ob sich allerdings Verschwörungsgläubige mit Goethe und Hegel beruhigen lassen? Da hatte Bärbel Frischmann ihre Zweifel. Die Menschen auf den Demonstrationen in Deutschland seien „ja durchaus der Ansicht, das, was sie vertreten, sei vernünftig“, gab die Erfurter Philosophin in der nachfolgenden Diskussion zu bedenken. „Hegel würde argumentieren, dass sich erst auf lange Sicht zeigt, was „eben nur eine subjektive Ansicht, ein subjektives Meinen war“, so Frischmann hinsichtlich Hegels Unterscheidung von bloßer Meinung und der Wahrheit der Vernunft.

Wie also lässt sich mitten in einer Krise philosophisch klären, welches Verhalten in der Praxis das richtige ist? Vielleicht mit Kant? Dessen kategorischer Imperativ, die je eigene Handlungsmaxime müsse stets so gestaltet sein, dass sie zum allgemeinen Gesetz werden könne, wurde von Hegel seinerzeit scharf kritisiert. Was der Königsberger Philosoph in der „Metaphysik der Sitten“ formuliert habe, liefere keinen Begriff von Freiheit, sondern lediglich eine negative Bestimmung und damit eine bloße Beschränkung: Nach Kant habe die „Willkür des einen mit der Willkür des anderen“ übereinzustimmen. Deshalb werde dann doch der „Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür“ zur substanziellen Grundlage allen Handelns und ließe sich somit allen anderen aufzwingen. Ein „immanent Vernünftiges“, das dem Begriff der Freiheit entspricht, lasse sich so nicht erzielen, so Hegel, und somit auch nicht die Verwirklichung der Freiheit in der Gesellschaft. Vielmehr habe eine die eigenen Moralvorstellungen verabsolutierende Herangehensweise wie die Kantische „in den Köpfen und in der Wirklichkeit Erscheinungen hervorgebracht“, die an Fürchterlichkeit kaum zu überbieten sind, kritisierte Hegel. Er dachte dabei nicht zuletzt an die „terreur“ als Auswuchs der von ihm stets gefeierten und verteidigten Französischen Revolution.

Büste von Georg Friedrich Wilhelm Hegel in Berlin. (Wikimedia/CC0 1.0)

Ist Kant also der Philosoph der je individuellen Moral wie beispielsweise der Maskenverweigerer, und Hegel demgegenüber der Philosoph des Staates als Repräsentant des „immanent Vernünftigen“? Eine solch simple Rechnung jedenfalls wollte Klaus-Michael Kodalle nicht gelten lassen. Der Jenaer Philosoph sparte nicht mit Kritik an der Corona-Politik der deutschen Regierung und warnte vor einer „Selbstermächtigung der Exekutive“. So habe man beim Beschluss eines Lockdowns keineswegs „auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen operiert, sondern aufgrund von Vermutungen und Annahmen – mit sehr vielen Unbekannten“. In seinem Vortrag plädierte Kodalle nicht nur mit Blick auf die Pandemie dafür, unterschiedliche Sichtweisen auszuhalten und warnte vor einer „Moralisierung von leitenden Gesichtspunkten, die zu einer subtilen Freund-Feind-Aufteilung führt“.

Kodalle betonte die letztlich auch für Kant bestehende Relativität des kategorischen Imperativs: Man könne sich nämlich nie sicher sein, ob die eigene Wahl der Maxime nicht höchst egoistischen Motiven folge. Zudem könnten zwei Menschen, in dieselbe Situation versetzt, unter Beachtung des kategorischen Imperativs zu komplett unterschiedlichen Entscheidungen gelangen. So sei es nach Kant „völlig unangebracht, Kritik, die ich in Bezug auf andere Akteure in der Gesellschaft zu üben für richtig halte, mit einem Unterton der moralischen Empörung oder von eigener Unanfechtbarkeit zeugender Überlegenheit anzureichern“.

„Kultur der Nachsichtigkeit“

Was Kant und Hegel verbinde, sei daher letztlich eine „Kultur der Nachsichtigkeit“. In der „Phänomenologie des Geistes“ habe Hegel seinerseits eine „Kritik der rechthaberischen, aburteilenden Selbstgerechtigkeit“ ausgeführt. Da man selbst nur eine „einseitige, partikulare Version vom guten Leben verkörpern“ könne, gelte es, auch den anderen ihre Einseitigkeit nachzusehen, weshalb man „auf den kommunikativen Geist der Verzeihung“ angewiesen sei, so Kodalle, der unter Verweis auf die „Grundkategorie der Anerkennung“ bei Hegel für eine Lebenseinstellung plädierte, „die den Relativismus aushält und nicht aufs Ganze geht“.

Während bei Hegel der Begriff der Anerkennung in der Beschreibung der Entwicklung des Selbstbewusstseins zentral ist und damit zunächst auf die Subjektivität als solche bezogen ist, wurde er von dem Philosophen Axel Honneth in den vergangenen Jahrzehnten zur Problematisierung normativer Aspekte der Gesellschaft verwendet. An diesen Gedanken knüpfte Anne Siegetsleitner von der Universität Innsbruck an und ging dabei unter anderem auf die Frage der sozialen Wertschätzung ein. Diese sei in der Gegenwart stark mit finanzieller Entlohnung verbunden, die den gesellschaftlichen Maßstab für Anerkennung bilde.

Zwar seien mit der Pandemie plötzlich Tätigkeiten im Licht gestanden, die sonst wenig Aufmerksamkeit bekommen, so Siegetsleitner, doch die „Wertschätzung hängt nach wie vor stark von Gruppenzugehörigkeit ab“; vor allem von der Berufsgruppe und vom Geschlecht. Das während des Lockdowns vielerorts praktizierte Beklatschen von Pflege- und Supermarktpersonal etwa habe sich nicht ins Finanzielle übersetzt und sei so letztlich in Ignoranz und Missachtung umgeschlagen – das Klatschen als Nachfolger des warmen Händedrucks.

Hinsichtlich der Corona-Politik erinnerte Siegetsleitner daran, dass es Sinn und Zweck des Staates sei, der Willkür Grenzen zu setzen – „nicht zuletzt der Willkür des Staates selbst“. Beim Eingriff in die Grundrechte sei daher die Verhältnismäßigkeit und die zeitliche Beschränkung zentral, sowie vorweg die Frage, ob keine anderen, ähnlich zweckmäßigen Mittel zur Verfügung stehen.

Hegel-Biograf Klaus Vieweg warnte demgegenüber vor allem vor einer „Willkür des Marktes“ und plädierte für die Zeit nach der Corona-Krise für eine „neue und kreative Gestaltungsform der Gesellschaft, die Gerechtigkeit garantieren kann“. Er interpretierte Hegels praktische Philosophie als sozialstaatlich orientierte „Verknüpfung von sozialer und naturaler Nachhaltigkeit“.

Wäre Hegel mit den auf der Konferenz präsentierten Verknüpfungen seiner Philosophie mit der Coronakrise wohl einverstanden gewesen? Oder hätte er, wie jener anonyme Autor angesichts der Choleraepidemie ihm gegenüber, einen „abgrundtiefen Unterschied zwischen Denken und Handeln“ beklagt? Auf den Vorwurf konnte Hegel selbst damals nicht mehr reagieren. Der Text, der die Angst des Philosophen vor der Krankheit bespöttelte, erschien erst, nachdem dieser bereits beerdigt war. Ob Hegel nun wirklich an der Cholera starb oder doch eher an einem Magenleiden, auch darüber wird übrigens bis heute gestritten.

Die meisten Konferenzbeiträge können online nachgehört werden, auf den Seiten des Ethikzentrums der Universität Jena.


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