Die Flüchtlingsdebatte hat viele Gesichter. Doch selten erkennt man darin das Schicksal der Frauen, die sich allein oder mit ihrer Familie auf den Weg nach Europa begeben. Über ein luxemburgisches Projekt, das ihnen Zeit und Zuflucht schenkt.
Sechs Frauen sitzen still auf einem Ecksofa um einen Wohnzimmertisch. Sie legen die Hände nach der Begrüßung in den Schoß, schauen lächelnd zu ihren Sitznachbarinnen hin. In der Mitte, auf einem Silbertablett: selbstgemachte Pralinen. Hübsch dekoriert, aber noch unberührt. Im Hintergrund brodelt eine Kaffeemaschine. „Un lieu de vie chaleureux“, stand unter einem Foto dieser Räumlichkeiten im „Le Quotidien“. Sollte mit „chaleureux“ gemütlich gemeint sein, dann ist das vielleicht das falsche Adjektiv. Die Wände sind kahl. Der Eingangsraum wirkt kühl, die Einrichtung provisorisch zusammengewürfelt. Doch umso herzlicher ist Tatiana Chambert, die Leiterin des Caritas-Projektes „Le Temps des Femmes“. Sie stellt eine dampfende Kaffeetasse auf dem Tisch ab und setzt sich dazu. Die Sozialarbeiterin ist seit Oktober 2018 für das Projekt zuständig, das sich an Asylbewerberinnen und Frauen mit Migrationshintergrund richtet.
Raum für Kreativität, Zeit für Alltägliches
Stolz führt Chambert durch das Haus. Es ist geräumig, wenn auch etwas in die Jahre gekommen. Gleich im Erdgeschoss gibt es eine kleine Küche. Weiter oben, unter den hölzernen Dachbalken, stehen Nähmaschinen. Auf einem Tisch türmen sich Stoffreste und selbstgenähte Täschchen. Im Raum nebenan ragen Schminkpinsel aus hohen Bechern. Pflegeprodukte liegen verstreut vor einem reich verzierten Wandspiegel herum. In der Ecke steht ein improvisierter Massagesessel: ein Bürostuhl mit Massagekissen. Chambert nennt das Zimmer liebevoll „Wellnessecke“. Eine Tür weiter zeigt sie auf einen runden Tisch mit türkisfarbenen Sesseln: Hier ist Platz für private Gespräche und persönliche Beratungen. Durch die Dachfenster sieht man an jenem Tag nur den grauen, verregneten Himmel.
Das Haus verändert sich gemäß den Anfragen der Besucherinnen. Chambert schreibt kein festes Programm vor. Das würde der Philosophie des Hauses widersprechen, das den Besucherinnen vor allem ein Gefühl von Autonomie vermitteln oder gar erst näherbringen will. „Die Frauen können sich die Räume aneignen, um dort zu kochen, zu nähen, einen Kaffee zu trinken, kurz: Es ist ihr Haus“, umschreibt es Yves Schmidt von Caritas, der das Konzept entwickelt und umgesetzt hat. „Die Frauen fühlen sich weniger alleine, weniger isoliert. Sie treffen hier auf andere Frauen mit ähnlichen Schicksalen, auf luxemburgische Freiwillige und auf Akteurinnen aus verschiedenen Bereichen, mit denen sie sich über interessante Themen austauschen können.“
Es gab bisher eine große Nachfrage für kreative Aktivitäten, wie beispielsweise Nähen, Stricken oder Basteln. Eine Lieblingsbeschäftigung, quer durch alle Kulturen hindurch, ist das Kochen. Die Besucherinnen, die an dem Tag dort sind und Chambert zunicken, lachen auf: Sie alle lieben es, Gerichte aus der Heimat zu kochen und die der anderen zu probieren. Eine alltägliche Beschäftigung, die viele in den Unterkünften für Asylbewerber*innen vermissen. Selber zu kochen ist dort, laut Schmidt, selten möglich. „Es ist schade, dass sich das noch nicht anders entwickelt hat“, bedauert er. „Es entmündigt die Leute und bricht mit dem Bild der Familie, die sich um den Esstisch versammelt und einen intimen Moment teilt.“
Verkehrte Welt
Bei „Le Temps des Femmes“ finden zumindest die Frauen ein Stück weit zu Gewohnheiten zurück, die sie durch die Flucht in die Fremde verloren haben. Vielleicht auch zu einer gewissen Leichtigkeit, die nach den oft traumatischen Erlebnissen dringend notwendig ist. Hier können sie Kraft sammeln, um später Anlauf zu nehmen und die weiteren Hürden der Integration zu meistern. „Ziel ist es auch, die Frauen zu unterstützen und sie zu ermutigen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, Sprachen zu lernen“, erklärt Schmidt, „auch wenn viele in ihrem Herkunftsland die Schule kaum besucht haben. Sie müssen sich an das lokale Bildungsniveau anpassen, die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern wahrnehmen, ihre Rechte, ihre Möglichkeiten kennenlernen.“
Viele haben es nie gelernt sich wertzuschätzen, sich eine Zukunft auszumalen. Es fällt ihnen schwer mit den Freiheiten zurechtzukommen, die sich ihnen als Frauen in Luxemburg theoretisch bieten. Aisha, eine junge Frau aus Guinea-Bissau, die auf dem Ecksofa sitzt, erzählt von der Situation der Frauen in ihrer Heimat: „Bei uns hast du als Frau keine Freiheiten. Du traust dich gar nicht erst die Männer zu fragen, ob du arbeiten gehen darfst.“ Sie lacht. „Ich war erstaunt, dass es hier Busfahrerinnen gibt. Frauen machen hier dasselbe wie Männer. Ich wusste nicht, dass das geht. Ich dachte, Frauen können so was nicht.“ In Guinea-Bissau war sie Köchin. Ein Beruf, der dort eigentlich Frauensache ist – und trotzdem wurde sie als Diebin beschimpft, die Männern Arbeitsplätze wegnimmt. Inzwischen könne sie sich sogar vorstellen, Busfahrerin zu werden, sagt sie breit grinsend. Die anderen Frauen lachen mit.
Aisha ist alleinstehend und reiste vor sechs Monaten auf eigene Faust nach Luxemburg. Genauso wie Freweyni, die neben ihr sitzt. Beide leben in derselben Unterkunft, in einem Foyer. Sie haben einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Freweyni, die ursprünglich aus Eritrea kommt, wagt es in Luxemburg erstmals von einer beruflichen Zukunft zu träumen. Sobald sie ausreichend luxemburgisch und französisch spricht, will sie sich hier um einen Job bemühen. In welchem Berufsfeld, das weiß sie noch nicht. „Ich konnte mir nie Gedanken darüber machen, was mich interessiert“, gesteht sie. „In meiner Heimat stellt sich die Frage für Frauen nicht.“ Bei „Le Temps des Femmes“ gibt es auch deshalb Workshops für Kleingruppen, in denen sich die Frauen über ihre beruflichen Möglichkeiten informieren können. „Wir wollen den Frauen zeigen, dass noch alles möglich ist“, betont Chambert. „Auch wenn verschiedene – nicht alle – momentan noch keine Ausbildung und keinen Abschluss haben.“
Grundsätzlich scheint Frauen die Integration schwerer zu fallen als Männern. Chambert sucht nach einer Erklärung. „Vielleicht, weil sich den Männern gleich zu Beginn mehr Jobchancen bieten. Die Frauen sind oft zurückhaltender und meistens zu beschäftigt mit den Kindern und der Familie“, vermutet sie. „Sie müssen mehr Zeit für Familienangelegenheiten aufbringen.“ Im Exil leisten sie dasselbe wie in der Heimat. Nur müssen sie hier dafür noch mehr Kraft aufbringen. Es sei eine Doppelbelastung, sich in einem fremden Land mit unbekannten Vorgehen und Maßnahmen um die Familie und die Kindererziehung zu kümmern, so Chambert weiter. „Die Frauen neigen dazu, sich dabei zu vergessen“, sagt sie. „Überall auf der Welt vergessen die Frauen sich.“
Von Frau zu Frau
Schmidt war es wichtig ein Projekt für Frauen auf die Beine zu stellen, bei dem sie im Mittelpunkt stehen. Das, wovon Chambert spricht, hat auch er bei seiner Arbeit im sozialen Bereich schon oft beobachtet – besonders im Bezug auf Einwanderinnen, die erst kürzlich in Luxemburg angekommen sind. „Ich hatte das Gefühl, dass es nötig sei“, sagt Schmidt, „ihnen ein spezifisches Projekt anzubieten, das sich ihnen ganz allein widmet.“ Er lag mit seiner Intuition richtig. Abir, gebürtige Syrerin, erlebte in ihrer Heimat, dass die Frauen ein großes Bedürfnis haben, sich auszutauschen – untereinander, nicht mit Männern: „Die Frauen in Syrien wollen unter Frauen sein. Sie schließen sich zusammen, um voneinander zu lernen. Die Frauen haben mehr Vertrauen zu Frauen als zu Männern. Sie fühlen sich damit wohler.“ Viele Frauen aus den Kriegsgebieten hätten gelitten. „Sie können dieses Leid nur überwinden, indem sie mit anderen Frauen darüber sprechen. Es fällt ihnen leichter mit Frauen über ihre Erfahrungen zu reden“, verrät Abir, „deswegen ist ein Projekt wie ‚Le Temps des Femmes’ auch in Luxemburg wichtig.“
Die meisten Frauen erfahren in den Foyers von dem Haus. Oft sind es Sozialarbeiter*innen, die sie darauf aufmerksam machen und sie bei ihrem ersten Besuch begleiten. Allgemein befinden sich die Besucherinnen in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Manche haben die Antragsstellung hinter sich, andere sind schon vor vielen Jahren nach Luxemburg geflüchtet. „Ihre Erzählungen sind wichtig für die anderen Frauen, denen das alles erst noch bevorsteht. Gleichzeitig sind sie einander durch ihre Gefühle und Erlebnisse verbunden.“ Chambert ist gerührt von der Herzlichkeit, mit der sich die Frauen begegnen. Der Umgang sei unglaublich liebevoll. Sprachbarrieren seien dabei kein Hindernis. „Wir haben nicht ständig eine Übersetzerin im Haus. Wir wissen ja nie, welche Sprache an diesem oder an jenem Tag gebraucht wird“, sagt sie und lacht. „Die Kommunikation scheitert nicht daran: Wir wissen uns mit Händen und Füßen zu helfen.“
Das Projekt will einen Raum schaffen, in dem die Frauen sich nach und nach fallen lassen können. Frei nach ihrem Rhythmus. „Nach einer Zeit der Eingewöhnung beginnen manche zu sprechen … manchmal über eine Zwangsheirat, manchmal über die Schwierigkeiten, Kinder in einem Land zu erziehen, das man noch nicht ausreichend kennt und dessen Schulsystem komplex ist“, weiß Schmidt. „Manchmal geht es um ihre Zukunft hier – sozial und beruflich gesehen –, aber auch um intime Probleme, beispielsweise im Hinblick auf Gesundheitsfragen.“ Aus diesem Grund schaut regelmäßig eine Hebamme im „Le Temps des Femmes“ vorbei, die ein offenes Ohr für die Anliegen der Besucherinnen hat. Eine weitere Stütze, die den Frauen signalisiert: Ihr seid nicht alleine.
Minoritäten unterstützen
Warum das wichtig ist, offenbart sich vor allem in der Praxis. „Frauen, die allein hierhin kommen, finden sich in unseren Gesellschaftsnormen oft nur schwer zurecht. Sie kommen aus einem geschützten Raum“, beobachtet Marianne Donven von Oppent Haus, einer Initiative, die Asylbewerber*innen Kontakte zu Privatpersonen vermittelt, die Wohnräume zur Verfügung stellen. „Viele sind nicht daran gewöhnt, auf eigenen Beinen zu stehen und für sich selbst zu sorgen. Hier werden ihnen Sachen abverlangt, die in ihren Kulturkreisen unüblich sind. In streng religiösen Familien ist es Frauen beispielsweise nicht erlaubt, dort zu arbeiten, wo auch fremde Männer sich aufhalten.“ Natürlich gebe es auch Gegenbeispiele. Manche Frauen hätten einen Universitätsabschluss und kämen grundsätzlich gut alleine zurecht.
Für viele andere bleibt es hingegen schwer, Anschluss zu finden, wie aus den Gesprächen mit Menschen hervorgeht, die mit Asylbewerber*innen zusammenarbeiten. Noch dazu würden sich viele Frauen in gemischten Foyers unwohl fühlen, heißt es. Auch wenn Sandy Fournelle vom Office luxembourgeois de l’accueil et de l’intégration (OLAI) beteuert, es gebe in den gemischten Unterkünften selten Konflikte zwischen Männern und Frauen – und wenn, dann würde man sofort agieren und entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Alleinstehende Frauen leben in den gemischten Foyers getrennt von den Männern. Dort bilden sie eine Minderheit. In den Unterkünften des OLAI machten Frauen 2018 lediglich 36,7 Prozent der Bewohner*innen aus. 63,3 Prozent waren Männer. Das Ungleichgewicht geht nicht zwangsläufig mit genderspezifischer Gewalt einher, doch es erhöht das Risiko. Das Gespräch mit Donven lässt vermuten, dass manche Frauen aus diversen Gründen lieber woanders unterkommen würden als in diesen Foyers. „Es haben sich schon viele Frauen an Oppent Haus gewandt, die unbedingt aus gemischten Foyers rauswollten. Es waren vor allem diejenigen, die alleine nach Luxemburg gereist sind“, stellt sie fest. „Die Situation in den gemischten Foyers ist schwierig. Die letzten Frauen, die ich weitervermittelt habe, haben sich sehr über die neue Wohnsituation gefreut.“
Das OLAI und die Caritas verwalten auch Foyers, die ausschließlich Frauen mit oder ohne Kinder vorbehalten sind. „Frauen, die alleinstehend sind, Opfer häuslicher oder sexualisierter Gewalt wurden oder sich aus irgendeinem Grund als besonders schutzbedürftig erweisen, kommen in den frauenspezifischen Foyers unter“, erklärt Fournelle. Damit spricht sie gleich ein weiteres Problem an, das selten thematisiert wird: die geschlechtsspezifischen Leiden, die Frauen auf und nach der Flucht durchleben. „Einige Frauen wurden auf ihrer Reise geschwängert“, gibt Donven zu bedenken. „Die sexuellen Übergriffe, die Frauen auf ihrer Reise nach Europa erleiden, sind ein Problem.“
Chambert konnte nichts zu den spezifischen Problemen der Einwanderinnen sagen, die „Le Temps des Femmes“ besuchen: „Es ist zu früh, um eine Schlussfolgerung zu ziehen, was die Schwierigkeiten der geflüchteten Frauen angeht.“ Dafür laufe das Projekt noch nicht lange genug. Leider ist ungewiss in welcher Form und an welchem Ort dieses in Zukunft weitergeführt wird: Die Räumlichkeiten werden demnächst für andere Zwecke genutzt. Chambert versichert jedoch, dass das Projekt an sich bestehen bleibt. Der Bedarf ist offensichtlich vorhanden. Chambert ist jedenfalls zuversichtlich als beim Abschied die Haustür ins Schloss fällt.
Das Haus „Le Temps des Femmes“ ist wöchentlich 20 Stunden geöffnet. Montags, mittwochs und freitags von 12 bis 16 Uhr, dienstags und donnerstags von 8 bis 12 Uhr. Freiwillige Helferinnen sind jederzeit willkommen, sich auf ihre Art und Weise einzubringen. Während der Schulferien bleibt das Haus geschlossen.