Ein todkranker Wildhüter in Sibirien findet weder in der Schulmedizin noch bei einer Schamanin Hilfe. Es folgt eine Lektion über Geschlecht und deren Wahrnehmung in der russischen Provinz.
Der Wildhüter Yegor Korshunov (Evgeniy Tsyganov) ist ein geschätzter und respektierter Mann in einem kleinen Dorf in Sibirien, in dem er mit seiner schwangeren Frau und ihrem gemeinsamen Sohn einen kleinen Hof bewohnt. Als er eines Tages zwei Wilderer tötet, ändert auch das nichts an seiner Beliebtheit.
Die zeigt sich auch, als die Dorfbewohner*innen Geld sammeln, um ihm einen kostspieligen Arztbesuch zu ermöglichen. Yegor ist nämlich todkrank – er hat Krebs und keine Aussicht auf Heilung, sein Arzt gibt ihm noch höchstens zwei Monate. Anfänglich versteckte Yegor seine Krankheit, doch als seine Frau Natalia (Natalya Kudryashova) seine Schmerzmittel findet, ist es damit vorbei. Sie ist es, die ihn dazu drängt, doch noch einen Arzt aufzusuchen. Als dieser Yegors Fall für hoffnungslos erklärt, schleppt sie ihn zu einer Schamanin. Yegor ist wenig beeindruckt von dem Ritual und der vorgeblichen Heilerin – bis er sie im Wald wiedertrifft.
Dort trinken beide gemeinsam Wodka und sie erzählt ihm eine Sage von einem Erpel, der sich – dem Tode nahe –im Schlamm wälzt, um sich unter den Enten vor dem Tod zu verstecken. Am nächsten Tag kauft sich Yegor Damenunterwäsche, ein Kleid und Make-Up. In der Nacht versteckt er sich im Schuppen, zieht die feminine Kleidung an und schminkt sich. Als Natalia ihn entdeckt, schließt er sich im Schuppen ein.
Ab diesem Moment spricht Yegor nicht mehr. Die Zuschauer*innen erfahren also nicht, ob er sich als trans versteht, ob er Drag trägt oder ob er sich „verkleidet“ hat, um den Tod zu täuschen. Der Dorfgemeinschaft kann er auf jeden Fall nicht entrinnen. Bald muss der aus dem Schuppen kommen und irrt ziellos durch das Dorf. Überall begegnet man ihm mit Ablehnung und Gewalt. Selbst im Wald, wo er in einer Hütte Unterschlupf gefunden hat, wird er von Waldarbeitern gejagt und mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Am Ende ist es die hochschwangere Natalia, die Yegor in der Hütte findet.
Tchelovek kotorij udivil vseh ist über weite Strecken ein ruhiger Film, der sich Zeit für seine Protagonist*innen nimmt und ausführlich das Familienleben von Yegor und Natalia zeigt. Allerdings haben die Regisseur*innen Natasha Merkulova und Aleksey Chupov auch an vielen Stellen grobe Gewalt in Szene gesetzt. Geht die am Anfang von Yegor aus, der zwei Wilderer tötet, so sind es später die Dorfbewohner*innen, die auf ihn einprügeln oder ihn vergewaltigen wollen. Mit drastischen Bildern wird deutlich gemacht, wie Yegors Mitmenschen auf seine von der Norm abweichende Geschlechterperformance reagieren.
Die Interpretation des Endes lassen die Regisseur*innen offen, wie sie auch bei der Vorstellung am 8. März dem Publikum erklärten. Sollte Yegor tatsächlich nur deswegen in Kleid und Make-Up schlüpfen, um dem Tod zu entrinnen, so hinterließe dies doch einen bitteren Beigeschmack – immerhin ist der Fakt, die eigene Identität auszuleben, für viele lebensgefährlich, insbesondere in Russland. Allerdings lässt die Szene, in der Yegor von der Dorfgemeinschaft aufgefordert wird, aus dem Schuppen zu kommen (in den Englischen Untertiteln mit „Yegor, come out!“ besonders offensichtlich), eine andere Interpretation zu.
Die Schauspielerei und die Kinematografie, die die sibirische Landschaft besonders in Szene setzen, sind von sehr hohem Niveau, was Tchelovek kotorij udivil vseh zu einem äußerst sehenswerten Film macht, auch wenn er leider viele Fragen offenlässt.
Der Film läuft während des Luxembourg City Film Festivals am 9. März und am 11. März jeweils um 21 Uhr in der russischen Originalsprache mit englischen Untertiteln im Ciné Utopia.