Opfer von sexuellem Missbrauch: „Wir haben alle lebenslänglich bekommen“

Am Dienstag hatte die Erwuesse
Bildung zu einem Rundtischgespräch über sexuellen Missbrauch eingeladen. Dabei kamen Pädagog*innen, Psycholog*innen und Betroffene zu Wort.

Charel Schmit, Ana Pinto, Aline Hartz, Danièle Maraite und Modaratorin Nora Schleich (v.l.n.r.) diskutierten am Dienstag zusammen mit dem Publikum über die Problematik des sexuellen Missbrauchs. (Copyright: Hülya Atasoy/EwB)

„Wenn ein Kind seinem Opa oder seiner Oma zur Begrüßung keinen Kuss geben möchte, sollte das respektiert werden.“ Diese banale Forderung, die am Dienstag im Rahmen eines Rundtischgesprächs geäußert wurde, hängt mit einer ernsten Problematik zusammen: sexuellem Missbrauch.

Um über dieses Thema zu sprechen, hatte die ErwuesseBildung (EwB) vier Gäste eingeladen: Aline Hartz vom Kanner-Jugendtelefon (KJT), Danièle Maraite vom Planning Familial (PF), den Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher (OKaJu) Charel Schmit, und die oben zitierte Ana Pinto. Letztere ist Mitglied von Voix des survivant(e)s, einer Asbl, die sich aus Opfern sexuellen Missbrauchs zusammensetzt.

Im Rahmen der Konferenz sprach sie aus dieser Perspektive über den Handlungsbedarf in Luxemburg. Davon gibt es in ihren Augen genug. Obiges Zitat nahm sie als Beispiel für eine frühkindliche Vermittlung von Konsens und körperlicher Autonomie. „Wenn wir ein Kind gegen seinen Willen auf den Schoß seiner Tante setzen, vermitteln wir ihm damit, dass seine Bedürfnisse nebensächlich sind“, so Pintos Einschätzung. Mit ihren Ausführungen unterstrich sie, dass es nicht reicht, körperliche Grenzziehungen als abstraktes Konzept im Aufklärungsunterricht zu thematisieren: Sie müssen in ausnahmslos jeder Interaktion berücksichtigt und respektiert werden.

Die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen spielt bei der Vorbeugung von sexuellem Missbrauch eine zentrale Rolle. Sie müssen nicht nur lernen, Grenzen zu kommunizieren und Grenzüberschreitungen zu erkennen. Auch die Fähigkeit, die eigenen Körperteile zu benennen, ist von zentraler Wichtigkeit, wenn es darum geht, unangebrachte Berührungen auszusprechen. Zurzeit gibt es ein entsprechendes Angebot in der formalen und nicht-formalen Bildung, Verbesserungspotenzial gibt es dennoch: So klagten zwei im Publikum sitzende Sexualpädagoginnen des PF über einen Mangel an personellen Ressourcen. Als Teil der sogenannten Esa-Teams klären sie Kinder, Jugendliche, Lehrkräfte und Erzieher*innen über sexuelle und affektive Gesundheit auf. „Wir tun unser Mögliches, um allen Anfragen gerecht zu werden, kommen jedoch kaum hinterher“, bedauerte eine der beiden. „Idealerweise würde jede Schulklasse einmal einen unserer Workshops besuchen.“

Ernst nehmen und Geduld aufbringen

Ein anderer wichtiger Faktor ist das soziale Umfeld des Kindes: Erwachsene, die regelmäßig mit Kindern interagieren, müssen damit umgehen können, wenn ein Opfer sich ihnen anvertraut. Das heißt in einem ersten Moment, dass das Gesagte ernst genommen werden muss. „Es erfordert unglaublich viel Mut, sich jemandem anzuvertrauen. Wenn einem dann auch noch nicht geglaubt wird, ist das schwer wegzustecken“, berichtete Pinto auf Basis eigener negativer Erfahrungen.

Wie Aline Hartz vom KJT erklärte, sei im Umgang mit Opfern sexuellen Missbrauchs sehr viel Geduld gefordert. Bei Anrufen sprächen sie zunächst immer erst über andere Dinge. Erst am Ende des Telefonats, oft sogar erst nach mehreren Gesprächen, würden sie anfangen, über den Vorfall zu reden. „Man muss Betroffenen die nötige Zeit lassen“, so die Einschätzung der Psychologin. Vielen Opfern sexuellen Missbrauchs sei zudem unklar, ob das von ihnen Erlebte sich noch im Rahmen des Erlaubten befinde oder nicht. „Es ist unheimlich wichtig, dass eine andere Person ihnen bestätigt: Du hast Recht mit deiner Vermutung, das war nicht richtig“.

Neben den Opfern, die lange Zeit brauchen, um sich jemandem anzuvertrauen, gibt es auch solche, die die gemachte Erfahrung jahrelang verdrängen, sich dann aber plötzlich wieder daran erinnern. In der Fachsprache spricht man hier von einer dissoziativen Amnesie. Die aufgrund traumatischer Erfahrungen entstandene Gedächtnislücke kann wenige Minuten, aber auch Jahrzehnte umfassen. Eine im Publikum sitzende Frau erzählte davon, per Hypnose Menschen dabei zu helfen, solche verdrängten Erinnerungen wieder abzurufen. „Dann ist die Verjährungsfrist aber oft schon verstrichen, das Erstatten einer Anzeige ist unmöglich“, bedauerte die professionelle Hypnotiseurin.

Die sogenannte Verjährungsfrist war beim Rundtischgespräch ein immer wiederkehrendes Thema. Aktuell ist es so, dass Personen, die als Minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, nur maximal zehn Jahre nach ihrem 18. Geburtstag Anzeige erstatten können, andernfalls ist der Fall verjährt. Aus bereits genannten Gründen wird diese Frist stark kritisiert. Auch der OKaJu fordert deren Aufhebung, am Dienstag räumte Charel Schmit jedoch ein, dass dies auch Nachteile habe: „Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, die Tat zu beweisen.“ Auch im Falle einer Fristaufhebung müsse eine klare Botschaft an Opfer sexuellen Missbrauchs herangetragen werden: Je schneller man die Tat meldet, desto besser. Ein vorliegender Gesetzentwurf sieht vor, die Verjährungsfrist in Fällen von Inzest oder bei Vergewaltigung von Minderjährigen aufzuheben.

Eine weitere langjährige Forderung des OKaJu betrifft die Einführung eines Child Protection Officers (CPO) in allen an Kinder und Jugendliche gerichteten Strukturen. Wie Schmit im April 2021 der woxx gegenüber erklärte, handelt es sich dabei um eine Instanz, „die einerseits bei konkreten Fällen eine Einschätzung gibt oder gegebenenfalls zwischen den Parteien vermittelt, andererseits aber auch hilft, eine allgemeine Feedbackkultur sowie gewaltfreie, respektvolle Kommunikation innerhalb einer Institution zu fördern“. Vergangene Woche kündigte Bildungsminister Claude Meisch (DP) in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage an, einen solchen CPO im Schulbereich einzuführen. Schmit zufolge müsste das auch im Kultur- und Sportbereich passieren.

Hohe Kosten für Psychotherapie

Auch wenn präventive Maßnahmen wie diese zur Sprache kamen: Der größte Teil der Diskussion ging um die Zeit nach einer Tat. Für Betroffene wie Ana Pinto ist die Strafe, die die Täter*innen erhalten, nur ein schwacher Trost. „Wir haben alle lebenslänglich bekommen. Die Täter bekommen kein lebenslänglich.“ Damit spielt sie auf die psychische Belastung an, an welcher die Opfer schlimmstenfalls bis zum Ende ihres Lebens leiden. Besonders bedauernswert findet Pinto in diesem Kontext, dass Opfer sexuellen Missbrauchs die Kosten für eine Psychotherapie nach wie vor selbst übernehmen müssen.

„Woran es in Luxemburg fehlt, ist eine nationale Anlaufstelle, die diese Problematik auf politischer Ebene thematisiert“, stellt Charel Schmit abschließend fest. Der entsprechenden Institution oder Person, so Schmit, käme es zu, eine Bestandsaufnahme in puncto sexuellem Missbrauch vorzunehmen. „Was klappt? Was klappt nicht? Wie gehen wir mit verjährten Fällen um? Wie kann eine Langzeitbetreuung der Opfer gewährleistet werden?“

Am Ende sprach sich der im Publikum sitzende Präsident der beratenden Menschenrechtskommission (CCDH), Gilbert Pregno, noch für einen konstruktiven Umgang mit Pädophilen aus. „Es ist wichtig Menschen, die einen solchen Drang in sich verspüren, nicht als Monster abzustempeln, sondern ihnen ihre Würde zu lassen. Wir müssen ihnen eine Brücke bauen, damit sie sich trauen, sich Hilfe zu suchen, noch bevor sie ihrer Neigung nachgeben.“


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