Sexualerziehung
: Es mit der Romantik übertreiben

Wo kommen die Babys her? Ist Sex wirklich so wie im Porno? – Alles Fragen, die sich viele bereits in jungen Jahren stellen. In Klassenworkshops gibt das Planning Familial Antworten darauf. Für den dritten Teil unserer Serie über Sexualerziehung haben wir mit Simon Görgen über seine Tätigkeit als Sexualpädagoge gesprochen.

Simon Görgen ist Sexualpädagoge beim 
Planning Familial. (Foto: Planning Familial)

woxx: Welchen Stellenwert hat Sexualerziehung im Leben eines Menschen?


Simon Görgen: Laut Bedürfnispyramide von Maslow steht Sexualität auf der gleichen Stufe wie Essen, Trinken und Schlafen. Sexualität sollte also jedem zugänglich sein. Wir vom Planning Familial wollen jedem eine selbstbestimmte Sexualität ermöglichen. Und diejenigen, die auf dem Weg sind, diese zu entwickeln, wollen wir darin unterstützen beziehungsweise begleiten. Alle sollten sich ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend entfalten können.

Was sollte Sexualerziehung im Idealfall leisten?


Wir sollten nicht erst mit Jugendlichen über Sexualität sprechen, wenn wir davon ausgehen, dass sie bereits Sex haben. Die können auch schon mit fünf wissen, wo die Babys herkommen. Sie machen aber trotzdem ihr erstes Mal Sex im Durchschnitt zwischen 16 und 18 Jahren. Wenn man heute Erwachsene fragt, wann Jugendliche ihrer Meinung nach das erste Mal Sex haben, sagen die: „Mit 14 bis 15, ist ja heute alles viel früher“. Das stimmt aber nicht. Das ist das Ergebnis der Vielfalt an Informationen, die nicht nur auf Jugendliche hereinprasseln, sondern auch auf uns Erwachsene. Wir denken heute hätten auch alle früher ihr erstes Mal Sex. Die Pubertät setzt heute etwas früher ein, das stimmt schon. Kognitiv sind die meisten aber erst mit 16 oder 18 so weit. In diesem Kontext erwähne ich immer gerne unsere Nachbarländer. In den Niederlanden zum Beispiel ist sehr viel Sexualerziehung vorhanden und da findet das erste Mal Sex erst relativ spät statt. Nur weil man informiert ist oder viel weiß, heißt das nicht, dass alle deshalb gleich Sex machen wollen. Es ist umgekehrt: Je mehr ich darüber weiß, desto eher kann ich mich schützen und desto eher mache ich Sex dann, wenn ich dazu bereit bin. Wenn ich nicht viel darüber weiß, ist es nämlich im Gegenzug eher spannend, es zu machen, damit ich endlich mehr darüber weiß. Das sollte aber nicht das Motiv sein, um Sex zu machen.

Viele schauen sich auch Pornos an, um ihren Wissensdurst zu stillen.


Aus genau dem Grund sind wir als Professionelle heute mehr denn je gefragt. Ich kann auf meinem Smartphone innerhalb von Sekunden schockierende pornografische Bilder aufrufen, mache das aber nicht, weil ich mich schützen kann. Pubertierende sind oft sehr neugierig, was man ihnen nicht vorwerfen kann. Leider kann man sie aber auch nicht davor schützen. Laut Statistiken liegt das Durchschnittsalter des ersten Pornokonsums heute bei 11 Jahren. Selbst wenn Eltern auf den privaten Rechnern pornografische Seiten sperren, haben die Jugendlichen die Möglichkeit, sie irgendwo anders zu sehen. Eltern, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter und Psychologen sind heute viel mehr gefordert, Kindern und Jugendlichen einen Rahmen zu setzen. Das heißt, deutlich zu machen, dass es Pornografie zwar gibt, das aber etwas anderes ist als Sexualität in der Realität. Und die hat erst mal was mit Verliebtsein zu tun. Da darf man, meiner Meinung nach, als professionelle Instanz durchaus übertreiben was Romantik angeht, um einen Gegenpol zu erzeugen. Das hilft den jungen Menschen, ein Gleichgewicht zu finden.

Wieso wird Sexualerziehung nicht in größerem Maße von den Schulen durchgeführt?


Ein großes Problem ist, dass das Thema Sexualerziehung für manche Lehrkräfte häufig noch ein Tabu darstellt. Viele wissen nicht, was Sexualerziehung überhaupt ist. Wenn es bei Fortbildungen um die Definition von Sexualerziehung geht, fällt plötzlich allen auf, dass sie im Grunde schon Sexualerziehung durchführen. Es geht eben nicht nur um Aufklärung im klassischen Sinne. Wie geht Sex, wie geht Penetration, was ist ein Orgasmus – das ist nur ein kleiner Bruchteil. Sexualerziehung zieht sich durch das ganze Leben. Sie fängt bei der Körperhygiene und beim Bindungsaufbau zwischen Eltern und Kind an. Dass auch solche Aspekte dazugehören, ist einigen nicht bewusst. Unserer Meinung nach müsste Sexualerziehung sehr viel mehr gelehrt werden, damit man adäquat und selbstsicher mit dem Thema umgehen kann. Und sie müsste im Idealfall auch ein selbstständiges Schulfach sein.

„Je mehr ich darüber weiß, desto eher kann ich mich schützen und desto eher mache ich Sex dann, wenn ich dazu bereit bin.“

Wie gestalten sich die Workshops in den Schulklassen?


Wir gehen in Modulaire-, Technique-, und Classique-Klassen und sind auf 6e- und 8e-Klassen spezialisiert. Es handelt sich jeweils um Workshops von drei bis vier Stunden pro Klasse, in denen wir über altersadäquate Themen reden: Pubertät, Körper, erste Menstruation, erster Samenerguss, Schwangerschaft, Geburt, Verhütungsmittel. Hinzu kommen die persönlichen Fragen der Schüler. Alles, was besprochen wird, wird vertraulich behandelt. Wir wünschen uns, dass die Lehrpersonen selbst schon Sexualerziehung in der Schule anbieten, so wie es auch im Programm steht. Früher waren wir auch im Cycle 4.2 der Grundschule tätig, das tun wir jetzt aber nicht mehr, weil die Schulinspektion nicht wollte, dass wir ohne Anwesenheit der Lehrer arbeiten. Unser Konzept macht aber in dem Alter nur Sinn, wenn der Lehrer nicht dabei ist. Wir haben beides ausgetestet und es gibt genügend Richtlinien, an denen wir uns da orientieren. Ein Kind traut sich vielleicht eher Fragen zu stellen oder zu sagen „Ich hab’ schon mal einen Porno gesehen, das hat mich aber verwirrt und ich bin geschockt“, wenn der Lehrer nicht dabei ist. Persönliche Fragen stellt man nicht so gerne jemandem, der eine Bewerterrolle hat. Wir sehen es als Rückschritt, dass wir nicht mehr in die Grundschulklassen gehen, haben aber nicht eingesehen, unserem Konzept nicht mehr treu zu bleiben. Wir haben uns dann daran angepasst. Manche Anfragen sind damit weggefallen, dafür sind aber andere hinzugekommen. Wir haben jetzt beispielsweise im Behindertenbereich verstärkt in Strukturen Fortbildungen für Bewohner und Personal durchgeführt. Bei den Fortbildungen für die Bewohner ist das Personal nicht anwesend. Sexualität ist ein derart schambesetztes Thema und viele trauen sich eher, mit Fachleuten darüber zu reden, als mit einem Bezugserzieher.

„Unserer Meinung nach müsste Sexualerziehung sehr viel mehr gelehrt werden, damit man adäquat und selbstsicher mit dem Thema umgehen kann.“

Greifen die Sexualpädagog*innen des Planning Familial bei Fortbildungen auf bestimmte Methoden zurück?


Die Fortbildungen haben einen klaren roten Faden, orientieren sich aber stark an den jeweiligen Bedürfnissen. Die Fragen, die wir stellen sind: „Was braucht ihr, um Sexualerziehung nach eurer Manier anzubieten? Was sind eure bisherigen Erfahrungen damit?“ Wichtig ist, dass jeder Sexualerziehung so macht, wie er sich dabei wohlfühlt. Dem jungen Heranwachsenden sollte vermittelt werden, dass jemand da ist, wenn er Fragen hat. Wenn ein Schüler „diese schwulen Hausaufgaben“ sagt, kann die Lehrperson darauf eingehen, indem sie sagt „Hausaufgaben können meiner Meinung nach nicht schwul sein“. Der Lehrer braucht in dem Moment nicht den Moralapostel zu spielen, aber es ist wichtig, dass er reagiert und sich positioniert. Ein ganz wichtiger Aspekt unserer Fortbildungen ist die Selbstreflexion der Erzieher und Lehrer. Wenn man Sexualerziehung macht, bringt man seine eigene Biografie immer auch mit. Damit meine ich nicht, dass man von sich selbst was erzählen soll. Man kann von einem Eindruck erzählen, von Erfahrungen, oder darüber reden, was bei den meisten so vorkommt. Über andere reden ist ja sowieso immer einfacher. „Bei den meisten ist das so und so“ kann man zum Beispiel sagen. Man sollte sich aber bewusst sein, weshalb man bestimmte Sichtweisen und Vorurteile hat. Es ist nicht schlimm, Vorurteile zu haben, schlimm ist aber, wenn man nicht weiß, warum man sie hat. Das meine ich mit Selbstreflexion. Jeder hat eine bestimmte Art, wie er über das erste Mal Sex oder Flüchtlinge oder Homosexuelle denkt, und muss in der Lage sein, zu reflektieren, woher diese Vorstellungen stammen.

Bei diesem Gespräch hat die Sexualpädagogin Sandra Michely hospitiert.

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